Donnerstag, 27. April 2017

"Journalismus bedeutet etwas zu bringen, von dem andere wollen, daß es nicht veröffentlicht wird. Alles andere ist PR." George Orwell (angeblich)


Dieses Zitat wurde im Jahr 1999 erstmals George Orwell auf Englisch zugeschrieben, ein Jahrzehnt später auf Deutsch, aber es gibt keinerlei Belege für diese Zuschreibung.

Die amerikanischen Zitateforscher Barry Popik und Garson O'Toole sind der Geschichte dieses seit 1918 nachweisbaren Zitats gründlich nachgegangen und zum Schluss gekommen, dass es anonymen Ursprungs ist (Link).

Das Zitat wurde vor Orwell auch den einflussreichsten Zeitungsverlegern ihrer Zeit - William Randolph Hearst und Lord Northcliffe und - zugeschrieben.

Der 1951 verstorbene William Randolph Hearst dominierte den amerikanischen Zeitungsmarkt, der 1922 verstorbene Lord Northcliffe, eine Generation davor den britischen.

Hearst gehörte das größte Zeitungsnetz Amerikas und er war ein Vorbild für die Hauptfigur des Films "Citizen Kane", der als Alfred Harmsworth geborene Lord Northcliffe war Eigentümer der 'Daily Mail', des 'Daily Mirror' sowie der angesehenen Zeitungen 'The Times' und 'The Observer'.

Hearst könnte dieses von einer unbekannten Person geprägte Bonmot verwendet haben, da es ihm noch zu Lebzeiten zugeschrieben wurde, bei Lord Northcliffe ist das unwahrscheinlich, da es ihm erst im Jahr 1968, also über 40 Jahre nach seinem Tod, erstmals zugeschrieben wurde.

1968

  • "All this looks rather unsatisfactory in the light of the test that was applied to these things by that master of modern journalism, Lord Northcliffe, when he said: 'News is what people do not want you to print. All the rest is advertising.'" (Link)

 

Pseudo-Lord-Northcliffe-Zitat.


Pseudo-Lord-Northcliffe-Zitat.

 

 Die älteste Version dieses Zitats stand eingerahmt auf dem Schreibtisch eines Redakteurs einer Chicagoer Zeitung: 

1918

  • "Whatever a patron desires to get published is advertising; whatever he wants to keep out of the paper is news". (quoteinvestigator.com)
  •  Was auch immer ein Kunde veröffentlichen möchte, ist Werbung; das, was er aus der Zeitung heraushalten will, sind Nachrichten.

Dieses anonyme Bonmot wurde in den letzten 100 Jahren leicht verändert und immer ohne genaue Quellenangabe vielen berühmten Personen untergeschoben.

 

Varianten:

  • "Journalismus ist etwas zu veröffentlichen, was andere nicht wollen, daß es veröffentlicht wird. Alles andere ist Propaganda.“
  • "Journalismus bedeutet etwas zu bringen, von dem andere wollen, daß es nicht veröffentlicht wird. Alles andere ist PR."
  •  "Journalismus ist zu drucken, was andere nicht gedruckt sehen wollen. Alles andere ist Public Relations."
  • "Nachrichten sind das, was jemand irgendwo nicht veröffentlicht haben will. Alles andere ist Reklame." 
  • "News is something somebody doesn't want printed; all else is advertising."
  • "Journalism is printing what someone else does not want printed; everything else is public relations."

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Quellen:
Garson O'Toole / Quote Investigator: "News Is What Somebody Does Not Want You To Print. All the Rest Is Advertising. George Orwell? Alfred Harmsworth? William Randolph Hearst? L. E. Edwardson? Robert W. Sawyer? Mark Rhea Byers? Brian R. Roberts? Malcolm Muggeridge? Katharine Graham? Lord Rothermere? Lord Northcliffe? Anonymous?" 2013 (Link)

Barry Popik: "If you want something in the paper, that’s advertising; you want something kept out, that’s news." 2014 (barrypopik.com)


Artikel in Arbeit.

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Dank:

Ich danke Barry Popik und Garson O'Toole für ihre sorgfältigen Recherchen.



"Die Jugend liebt heutzutage den Luxus. Sie hat schlechte Manieren ..." Sokrates (angeblich)

Pseudo-Sokrates-Zitat.
Es wurde jahrzehntelang diskutiert, woher dieses Zitat stammt, das in keinem Werk aus dem klassischen Athen zu finden ist. Erst durch Google Books konnte Garson O'Toole (Quote Investigator) den Ursprung des Zitats auf das Jahr 1907 datieren, in dem die Dissertation von Kenneth John Freeman in Cambridge erschien.

Ein paar Jahre später begann man dieses Zitat in verschiedenen Variationen irrtümlich Sokrates oder Platon zuzuschreiben (Link) und seit den 1950er Jahren auch auf Deutsch.

 Varianten:

  • "Die Jugend liebt den Luxus. Sie hat schlechte Manieren, verachtet die Autorität, hat keinen Respekt vor den älteren Leuten und schwatzt, wo sie arbeiten sollte. Sie widersprechen ihren Eltern, legen die Beine übereinander und tyrannisieren ihre Lehrer."
  • "Die Jugend liebt den Luxus. Sie hat schlechte Manieren, verachtet die Autorität, hat keinenRespekt mehr vor den älteren Leuten und diskutiert, wo sie arbeiten sollte. Die Jugend steht nicht mehr auf, wenn Ältere das Zimmer betreten. Sie widersprechen ihren Eltern und tyrannisieren die Lehrer."
  • "Die Jugend liebt den Luxus, schlingt Unmengen Süßspeisen in sich hinein, tyrannisiert Eltern und Lehrer, schlägt die Beine übereinander und schwatzt anstatt zu arbeiten." 
  • “The children now love luxury. They have bad manners, contempt for authority; they show disrespect for elders and love chatter in place of exercise."
  •  "The children now love luxury; they have bad manners, contempt for authority; they show disrespect for elders and love chatter in place of exercise. Children are now tyrants, not the servants of their households. They no longer rise when elders enter the room. They contradict their parents, chatter before company, gobble up dainties at the table, cross their legs, and tyrannize their teachers." 
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Twitter, 2018:




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Quellen:
Garson O'Toole (Quote Investigator):  "Misbehaving Children in Ancient Times." 2010
Kenneth John Freeman: "Schools of Hellas: an Essay on the Practice and Theory of Ancient Greek Education from 600 to 300 BC" (First impression 1907) Macmillan and Co., London: 1908, S. 74 (Link) (zitiert nach Garson O'Toole)

Beispiele für falsche Zuschreibungen auf Deutsch:
1957: Deutscher Gewerkschaftsbund: "Solidarität",  Bundesvorstand, Abteilung Jugend, 1957, S. 138 (Link)
1962: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, Deutscher Bundes-Verlag, Bonn: 1962, S. 365  (Link)
1973:  Hans-Joachim von Schumann: "Umgang mit schwierigen Kindern und Jugendlichen", S. Karger, Basel etc: 1973, S. 43 (Link)

2009: faz.net, Remo H. Largo
2011: derstandard.at, Kommentar der Anderen
2016:  bildungswissenschaftler.de 
gutzitiert.de
 uva.
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Twitter
https://twTwitter

"Wir haben die Erde nicht von unseren Ahnen geerbt, wir borgen sie von unseren Kindern." Sitting Bull (angeblich)

        










Dieser grüne Slogan wurde von  US-Außenminister Baker dem Philosophen Ralph Waldo Emerson zugeschrieben, andere halten ihn für eine uralte australische oder amerikanische Weisheit. Er wurde allerdings erst 1971 von einem grünen Aktivisten geprägt.
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hat die Geschichte dieses australischen Indianer-Spruchs erforscht: (Link)

"Österreich ist das einzige Land, das aus Erfahrung dümmer wird." Karl Kraus (angeblich)



Pseudo-Karl-Kraus-Zitat.

 

Karl Kraus hat das nie gesagt. Wohl aber:

1934
  • "Es scheint der Menschennatur verhängt zu sein, durch Erfahrung dümmer und erst durch deren Wiederholung klüger zu werden, und besonders die Intelligenz muss viel mitmachen, bevor sie zu der Einsicht gelangt, dass eine Freiheit, die ihre Vernichtung herbeiführen würde, nur durch Hemmung zu retten ist."
    Karl Kraus: "Die Fackel",  Juli 1934, 890-905, 177
1920
  • "Ich habe mich mein Lebtag geschämt, ein Österreicher zu sein, und nie mich dieser Scham geschämt, wissend, daß sie der bessere Patriotismus sei. 
    ....
    Ist es nicht die hoffnungsloseste und toteste aller Gewissheiten, unter einer Nation zu leben, die durch Schaden dümmer wird?"
    Karl Kraus: "Die Fackel", 1920, 554-556, 2

 

Varianten des Falschzitats:

  • "Die Österreicher sind das einzige Volk der Welt, das aus Erfahrung dümmer wird."
  • "Die Österreicher sind das einzige Volk, das aus Erfahrung dümmer wird."
  • "Österreich ist das einzige Land, das aus Erfahrung dümmer wird." 


  • "Derzeit werde in den sozialen Netzwerken oft ein Zitat von Karl Kraus bemüht: "Österreich ist das einzige Land, das durch Erfahrung dümmer wird." Karl Kraus irre hier aber, denn: Das sei kein österreichisches Phänomen, sondern ein europäisches, ein globales Problem."
    wienerzeitung.at
      
  • "Thukydides stellte fest: Die Geschichte wiederholt sich. Erinnern wir uns an Schwarz-Blau. Denken wir an Kärnten. Sie können jetzt sagen: Was weiß denn der Thukydides, der ist doch seit 2400 Jahren tot. In diesem Fall müsste ich Karl Kraus zitieren: Österreich ist das einzige Land, das durch Erfahrung dümmer wird. Mit Ausnahme der Weinbauern. Zumindest die haben aus ihrem Glykol-Skandal gelernt."
    kurier.at

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Nachtrag, 21. Oktober 2017
Facebook hat das falsche Karl-Kraus-Zitat gelöscht:

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Quellen:
Google
Österreichische Akademie der Wissenschaften, AAC: DIE FACKEL   
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Nach einer Twitter-Diskussion über dieses Zitat schrieb Oliver Grimm in "Die Presse" am 9. Juni 2015 einen Artikel über den Unfug mit falschen Zitaten: "Meme: Mit Karl Kraus u. Co. im Irrgarten der Zitate." (Link)
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Nachtrag, 22. Oktober 2017:
"Aufregung um Aussage von Niklasdorfer Bürgermeister.  SP-Bürgermeister Hans Marak zitierte Karl Kraus und wurde deswegen hart kritisiert." "Kleine Zeitung", 15. Oktober 2017 (Link)
"Gegen Regeln: Facebook löschte angebliches Karl-Kraus-Zitat." "Der Standard", 21. Oktober 2017 (Link)
Twitter 

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Beispiele für das Falschzitat:
kurier.at; wienerzeitung.at; seit 2015: Twitter

Montag, 24. April 2017

The trouble with "Germans is not that they fire shells, but that they engrave them with quotations from Kant." Karl Kraus (angeblich)

Dieses Zitat ist auf Deutsch fast unbekannt und taucht erstmals 1967 in einem Buch des englischen Historikers Frank Field über "Die Letzten Tage der Menschheit" auf:
  • "The trouble with the Germans, Kraus complained with polemical exaggeration, was not that they fired shells at the enemy but that they engraved quotations from Kant on the shells before firing them."
Falsche Zitate enstehen oft durch Gedächtnisirrtümer von Experten. Wenn der Spruch plausibel und prägnant formuliert ist, kann das falsche Zitat sehr erfolgreich werden, wie dieses hier, das durch Bücher, Zeitungen und im Internet im englischen Sprachraum millionenfach verbreitet wurde. 
Wie kam der englische Historiker zu dieser falschen Zuschreibung? Nirgends ist überliefert, im Ersten Weltkrieg wären Zitate von Immanuel Kant auf Granaten eingraviert gewesen. Was Karl Kraus der deutschen Kriegspropaganda von Kaiser Wilhelm und patriotischen Journalisten allerdings besonders übelnahm, war die metaphysische und moralische Überhöhung ihrer Aggressionspolitik mit Immanuel Kant. Zur gleichen Zeit wurden mit martialischen Redensarten wie, "Immer feste druff!",  Hunderttausende in den Tod geschickt, was - wie jeder wissen konnte - Immanuel Kants völkerrechtlichen, moralischen und politischen Forderungen vollständig widersprach.



Die preußische Redensart: "Immer feste druff!" war zwischen 1914 und 1918 so populär wie sonst nie.



  • "»Der völlige Sieg im Osten erfüllt mich mit tiefer Dankbarkeit. Er läßt uns wieder einen der großen Momente erleben, in denen wir ehrfürchtig Gottes Walten in der Geschichte bewundern können. Welch eine Wendung durch Gottes Fügung! Die Heldentaten unserer Truppen, die Erfolge unserer großen Feldherren, die bewunderungswürdigen Leistungen der Heimat wurzeln letzten Endes in den sittlichen Kräften, im  kategorischen Imperativ, die unserm Volk in harter Schule anerzogen sind ....«
  • » … Um so dankbarer wird gerade in Ostpreußen das Gottesgericht im Osten empfunden werden. Unseren Sieg verdanken wir nicht zum mindesten den sittlichen und geistigen Gütern, die der große Weise von Königsberg unserem Volke geschenkt hat .... Gott helfe weiter bis zum endgültigen Siege.« "
Karl Kraus hat diese pathetischen, abwegigen Berufungen auf die Lehren von Immanuel Kant im Mai 1918 mit Zitaten aus Kants Friedensschrift konfrontiert und am Ende mit einem ironischen, "eigenhändigen" Immanuel-Kant-Zitat glossiert. Die Sigle "m.p." bedeutet eigenhändig (e.h.), mit eigener Hand, vom Lateinischen "manu propria" (abgekürzt: m.p):
  •             "Um Mißverständnissen vorzubeugen
    erkläre ich, daß ich »Habt acht!«, »Marsch marsch!«, »Immer
    feste druff!« und »Durchhalten!« nicht als Beispiele für meinen
    kategorischen Imperativ vorgesehen habe. Kant m. p."
    Karl Kraus, Mai 1918
Und in der Tragödie "Die letzten Tage der Menschheit" lässt Karl Kraus den Nörgler sagen, die
"neuen Deutschen" hätten "den Kant'schen kategorischen Imperativ frisch von der Leber weg als eine philosophische Rechtfertigung von »Immer feste druff!« reklamiert". Dieses "Immer feste druff!" wurde nicht nur vertont, es wurde in der Tat auch auf Granaten eingraviert. In den "Letzten Tagen der Menschheit" stehen vor dem Eingang der Villa Wahnschafffe "rechts und links zwei Modelle von Mörsergeschossen, das eine mit der Inschrift: 'Immer feste druff!', das andere mit: 'Durchhalten!'".

Dem Historiker Julian Nodhues verdanken wir die These, dass die enge Verbindung von "Immer feste druff!" mit Immanuel Kant in den Kriegschriften von Karl Kraus den englischen Historiker dazu verleitet hat, zu glauben, Zitate von Immanuel Kant wären auf Granaten eingraviert gewesen und Karl Kraus habe gerade das an den Deutschen am meisten gestört.

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Mich freuten die Diskussionen auf Twitter, die geholfen haben, dieses Zitat-Rätsel zu lösen, wobei mir auch die Meldung "nix gefunden" oder Thesen mit kurzer Halbwertszeit nützlich waren. 
Dank an:  Basso Continuo, Julian Nordhues, Katharina Prager,  Andrea Maria Dusl, Christina Dongowski ua
 
Quellen:
Frank Field: "The last days of mankind: Karl Kraus and his Vienna", 1967
Karl Kraus: "Die Letzten Tage der Menschheit. Tragödie in 5 Akten mit Vorspiel und Epilog", III. Akt, 14. Szene: Der Optimist und der Nörgler im Gespräch. (Link)
Karl Kraus: "Die Fackel", Mai 1918,  474-483, S. 156
Google Statistik: Das Zitat hat mehr als 1000 Treffer, ist also wahrscheinlich millionenfach im englischen Sprachraum verbreitet.
BrainyQuote

"Es genügt nicht, keine Gedanken zu haben, man muss auch unfähig sein, sie auszudrücken." Karl Kraus (angeblich)

Entstelltes Karl-Kraus-Zitat.

Als Ursprung für dieses entstellte Karl-Kraus-Zitat kommen zwei Aphorismen in Frage:
  • "Keinen Gedanken haben und ihn ausdrücken können - das macht den Journalisten."
    Karl Kraus: "Die Fackel" 281-282, 1909, 29
 und
  • "Es genügt nicht, keinen Gedanken zu haben: man muss ihn auch ausdrücken können."
    Karl Kraus: "Die Fackel" 697-705, 1925, 60
-->
Die Verneinung im zweiten Satzteil raubt dem Aphorismus den intendierten Witz. - Entstellte Versionen dieses Zitats, die seit 1963 nachweisbar sind, findet man in Zeitungen und im Internet inzwischen fast zehnmal häufiger als das korrekte Zitat.

Einige Variationen:
  • "Es genügt nicht, keine Gedanken zu haben, man muss auch unfähig sein, sie auszudrücken."
  • "Es qenügt nicht, keine Meinung zu haben; man muß auch unfähig sein, sie auszudrücken."
  • "Es qenügt nicht, keine Idee zu haben; man muß auch unfähig sein, sie umzusetzen."
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Quellen:
Google-Satistik für das entstellte Zitat: "Ungefähr 3 450 Ergebnisse "
Google-Statistik für das korrekte Zitat: "Ungefähr 450 Ergebnisse"
Karl Kraus: "Die Fackel" Nr. 281-282, 1909, S. 29
Karl Kraus: "Die Fackel" Nr. 697-705, 1925, S. 60
München: 2017 ebook
Robert Sedlaczek: "Entlarvt: Der falsche Karl Kraus", Wiener Zeitung, 9. Januar 2007  Entstelltes Zitat, zum Beispiel in:
Süddeutsche Zeitung, 27. Oktober 2016: "Kabarett in Moosburg - Millers Stammel-Symphonie"
Henryk M. Broder: 27. März 2007, 30. Dezember 2008, 23. Januar 2013 etc.
Sönke Krüger: "Grassierender Sprachverfall", "Die WELT",
Josef Kraus: "Wie man eine Bildungsnation an die Wand fährt: Und was Eltern jetzt wissen", Herbig,

"Wer den menschen die vorstellungskraft nimmt macht sie blind." Karl Kraus (angeblich)

Dieser Satz, der mir auf Twitter untergekommen ist, ist nicht von Karl Kraus. Vielleicht ist er aus der Erinnerung an diesen Monolog entstanden:
  • Der Nörgler:
    "Nicht daß die Presse die Maschinen des Todes in Bewegung setzte – aber daß sie unser Herz ausgehöhlt hat, uns nicht mehr vorstellen zu können, wie das wäre: das ist ihre Kriegsschuld! Und von dem Wollustwein ihrer Unzucht haben alle Völker getrunken, und die Könige der Erde buhlten mit ihr."
    Karl Kraus: "Die letzten Tage der Menschheit. Tragödie in 5 Akten mit Vorspiel und Epilog",  V. Akt, 54. Szene
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Twitter-Diskussion

"Er sprüht Leder." Karl Kraus (angeblich)

Das Bonmmot, "er sprüht Leder", wurde Karl Kraus, Alfred Polgar und Alfred Kerr zugeschrieben, und geht in der Tat auf einen ähnliche Wendung von Karl Kraus zurück.

Rudolf Frühwirth hat mich auf den Ursprung dieses Bonmots in der ersten großen Polemik von Karl Kraus gegen Maximilian Harden aus dem Jahr 1907 aufmerksam gemacht, in der Kraus dem damals berühmten Berliner Kritiker Harden sprühende 'Ledernheit' attestiert:

1907
  • Kein Wunder, daß dieses lohende Temperament Ledernheit sprüht, wenn es zum Schreiben kommt; es hat sich bis dahin im Redigieren abgekühlt.
    Karl Kraus: "MAXIMILIAN HARDEN.  Eine Erledigung." Die Fackel", Nr. 234-235, 31. Oktober 1907, S. 10
Das Witzwort, "er sprüht Leder", stammt also urspünglich von Karl Kraus, während es seinen Zeitgenossen Alfred Polgar und Alfred Kerr seit ungefähr 30 Jahren wohl irrtümlich zugeschrieben wird.

1990 meinte der Schriftsteller Hans Sahl in seinen Memoiren, Alfred Polgar habe über den problematischen Berliner Theaterkritiker Herbert Ihering gesagt, er sprühe Leder.

Neun Jahre später glaubten Marcel Reich-Ranicki und danach Fritz J. Raddatz, der Berliner Kritiker Alfred Kerr habe mit diesem Witzwort seinen damals fast ebenso einflußreichen Kollegen Herbert Ihering charakterisiert. Bislang konnte das Bonmot meines Wissens weder in Polgars noch in Kerrs Schriften nachgewiesen werden.



1960
  • (ich glaube, es war Karl Kraus, der das Bonmot prägte: 'Er sprüht Leder')
     Carl Zuckmayer: "Leidenschaft zählt", DIE ZEIT, 50/1960, 9. Dezember 1960 (Link)


1990
  • Ihering ... war auf einen Punkt gerichtet ... Dieser Punkt hieß Brecht. Seine Kritiken waren Manifeste, Traktate, Kampfansagen. »Er sprüht Leder«, hatte der sonst so milde Alfred Polgar von ihm gesagt.
    Hans Sahl: "Memoiren eines Moralisten - Das Exil im Exil", (EA: 1983/1990) Luchterhand, München: 2009, ebook
    (Link)

1999
  • Reich-Ranicki: Ja, aber es gibt auch große nichtjüdische Kritiker.
    Herbert Ihering etwa.
    DIE WELT: Bedeutend, aber etwas trocken, oder?
    Reich-Ranicki: Er sprüht Leder, schrieb Kerr.
    "Wir waren zusammen in der Hölle - und im Himmel" Ein Interview mit Marcel Reich-Ranicki und seiner Frau Tosia, Die Welt, 18. September 1999 (Link) 


2013
  • Er sprüht Leder", mokierte sich der pointenverliebte Kritiker Alfred Kerr über seinen nicht direkt brillanten Konkurrenten Herbert Ihering.
    Fritz J. Raddatz: "Bester beim Bläh-Deutsch" stern, 24. August 2013 (Link)
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Quellen:
Karl Kraus: "MAXIMILIAN HARDEN.  Eine Erledigung." Die Fackel", Nr. 234-235, 31. Oktober 1907, S. 10
Neue deutsche Literatur, Band 3, Volk und Welt: 1955, S. 169 (Link)
Carl Zuckmayer: "Leidenschaft zählt", DIE ZEIT, 50/1960, 9. Dezember 1960 (Link)
Fritz J. Raddatz: "Bester beim Bläh-Deutsch" stern, 24. August 2013 (Link)
"Wir waren zusammen in der Hölle - und im Himmel" Ein Interview mit Marcel Reich-Ranicki und seiner Frau Tosia, Die Welt, 18. September 1999 (Link)  
Hans Sahl: "Memoiren eines Moralisten - Das Exil im Exil", (EA: 1983/1990) Luchterhand, München: 2009, ebook (Link)  

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Dank:
Ich danke Rudlof Frühwirt für den Hinweis auf das Karl-Kraus-Zitat über Maximilian Harden.

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Letzte Änderung: 13. Oktober 2018. (In der ersten Fassung dieses Artikels schrieb ich, das Zitat sei höchstwahrscheinlich nicht von Karl Kraus.) 

"Sie haben nicht einen Gedanken, doch sie sind in der Lage, ihn zu Papier zu bringen - so wird man Journalist". Karl Kraus (angeblich)

Der Autor dieses verunstalteten Karl-Kraus-Zitats fordert in "Die Presse" mehr Qualität im Journalismus.  Er hat wohl diese zwei Gedanken von Karl Kraus paraphrasiert:

  • "Keinen Gedanken haben und ihn ausdrücken können — das macht den Journalisten."
    Karl Kraus, 1909
  •              "Das Berufsgeheimnis
    Viele würden in Redaktionen rennen,
    bedürfte es nicht die spezialste der Gaben.
Es genügt nicht, keinen Gedanken zu haben:
man muß ihn auch ausdrücken können."
Karl Kraus, 1925 
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 "Die Presse":

"Manche Aussagen sind so falsch, dass nicht einmal das Gegenteil wahr ist." Karl Kraus (angeblich)

Dieser Satz stammt nicht von Karl Kraus, Henryk M. Broder hat ihn einmal irrtümlich Karl Kraus zugeschrieben.

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Twitter

"Sich-vorwärts-Tasten am Seil der Sprache", "tapping along the guiding rope of language" Karl Kraus (angeblich)




Das Zitat stammt von Leopold Liegler und wird irrtümlich Karl Kraus selbst zugeschrieben.



Twitter-Diskussion

"Früher standen sich die Menschen näher; die Waffen trugen nicht so weit." Karl Kraus (angeblich)

Ich danke Brigitte Stocker und Katharina Prager für den Hinweis auf dieses seltene Pseudo-Karl-Kraus-Zitat.
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Twitter-Hinweis

"Wien bleibt Wien, das ist die fürchterlichste aller Drohungen." Karl Kraus (angeblich)

Obwohl der "SPIEGEL" (mit dem vielgelobten Archiv) und viele andere Zeitungen diesen Aphorismus Karl Kraus zuschreiben, ist er nicht von ihm.

Alfred Polgar sagte angeblich zu Friedrich Torberg: "Ich muß über die Stadt ein vernichtendes Urteil abgeben: Wien bleibt Wien."

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Quelle: Wikiquote Diskussion

"Der Unglückliche ist häßlich, besonders wenn er lacht." Karl Kraus (angeblich)

Niemand aus der Karl-Kraus-Forschung hat diesen Satz so oder so ähnlich je in einem Text von Karl Kraus entdecken können. Also wird der Spruch irrtümlich Karl Kraus zugeschrieben.

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Quellen:
Österreichische Akademie der Wissenschaften, AAC: DIE FACKEL von Karl Kraus (digitale Ausgabe)
Twitter

"Zu Hitler fällt mir nichts ein." Karl Kraus (angeblich)

Der erste Satz des 300 Seiten langen polemischen Essays über die Herrschaft Hitlers im Jahr 1933, der 1952 unter dem Titel "Die Dritte Walpurgisnacht" veröffentlicht wurde, lautet: "Mir fällt zu Hitler nichts ein". Gemeint war: nichts, was die Macht Hitlers beschränken und nichts, was den Opfern der Gewalt wirklich helfen könnte. Darüber hinaus ist dieser prägnante Satz eine Anspielung auf ein Bekenntnis von Karl Kraus aus dem Jahr 1925: "mir fällt zu jedem Dummkopf etwas ein".

Dieser Einleitungssatz wird später in der Formulierung: "Zu Hitler fällt mir nichts ein" populär.  Diese Formulierung impliziert allerdings die  falsche Annahme, Karl Kraus sei wirklich nichts zu Hitler und der NSDAP eingefallen.

In Wahrheit war das Aufkommen des Hakenkreuzes seit 1923 ein Thema von Karl Kraus, und seine "Dritte Walpurgisnacht" ist wohl die stärkste Analyse der ersten Monate der Gewaltherrschaft Hitlers. Die Folterungen in den ersten Konzentrationslagern kommen hier ebenso zur Sprache wie die "Worthelfer der Gewalt" Gottfried Benn und Martin Heidegger, der Jargon der Nazis wird ebenso analysiert wie die Unterwerfung sämtlicher gesellschaftlicher Institutionen unter dem Willen der NSDAP-Parteiführung, die im Nazijargon "Gleichschaltung" genannt wird.


Karl Kraus

1925
  • "Produktion
    Die Fülle meines Werks ist ungemein:
    mir fällt zu jedem Dummkopf etwas ein."
    Karl Kraus: "Die Fackel" 697-705, 1925, 61
1928
  • "Ich glaube, es kommt doch in der Literatur hauptsächlich darauf an, was einem einfällt, damit es Sprache werde, von der späterhin die Menschheit etwas zur Geistesbildung abgewinnt; und mir fällt weiß Gott zu jedem Dummkopf etwas ein — ich bin schon so kleinlich —, während der Zustand, in den ich den Gegner versetzt habe, sichtlich der einer Benommenheit ist, wo die Assoziationen durcheinanderflirren, ohne für den Sprachwert mehr als ein Lallen zu ergeben, und wo also von den faden Fehden ein Faden zu jenem Fötus führt, der noch fader ist."
    Karl Kraus: "Die  Fackel" 795-799, 1928, 97f.
1935
  • "Das stolz bekannte Nichts, das mir zu Hitler einfiel, schlägt, denke ich, alles, was den aktiven Freiheitskämpfern nicht eingefallen ist." 
    Karl Kraus: "Die Fackel" 912-915, 1935, 70
Die Wendung "Zu Hitler fällt mir nichts ein" hat bald Flügel bekommen und ist in dieser Version im Zitate- DUDEN (mit einem Hinweis auf die Umformulierung) verbucht; unzählige Anspielungen auf dieses Zitat werden gedruckt. Ein Beispiel:
  • "Zu Hitler fällt mir was ein
    Teppichbeißer, Vegetarier, Unmensch, Übermensch, Abstinenzler, Monster, Nichtraucher, Diktator, Gefreiter, Hundefreund, Dämon, Österreicher, Regierungsrat, Eintopfesser, Reichskanzler, Abenteurer, Junggeselle, Antisemit, Kunstmaler, Sadist, Schriftsteller, Putschist, politischer Gefangener, Klemmi, Ehrenbürger in Frankfurt, Bochum, Wuppertal, Zülpich, Recklinghausen, Bad Honnef, Bergisch Gladbach, Berchtesgaden und weiteren 132 deutschen Gemeinden. - Was noch?"
    Henryk M. Broder,  SPIEGEL SPECIAL 2/1989
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Ernst Jünger, Hans Habe, Fritz J. Raddatz und viele andere meinten, Karl Kraus habe "Zu Hitler fällt mir nichts ein" geschrieben und ihm wäre in der Tat zu Hitler nichts eingefallen. Jochen Stremmel hat in seinem bewundernswert sorgfältigen Buch: "'Dritte Walpurgisnacht' Über einen Text von KARL KRAUS" einige der schiefen Wiedergaben und Interpretationen dieses Zitats gesammelt:



     



 Jochen Stremmel: "Dritte Walpurgisnacht" Über einen Text von Karl Kraus, 1982, S. 220-222.


    Dank für Hinweise und Anregungen

    Für Fragen, Anregungen, Hilfe, Witz, Hinweise, Recherchen, Korrekturen und Kritik danke ich:

    Besonders  Garson O'Toole, Ralf Bülow, Basso Continuo, Zitante Christa, Michael Wollmann und Tobias Blanken, aber auch: Katharina PragerMartin Anton Müller, Joseph WälzholzJulian NordhuesMatthias CremerBrigitte Stocker, Valerié Robert, Paulus Esterhazy Peter Daser, Eugen Pfister, Peter PlenerEduard Habsburg, Friedrich Forssman, Markus Pirchner, Andrea Maria Dusl, Leigh Hunt, Axel Feuerherdt, Michael Gunczy, Kunstseidene, Kéri Will, Joesi Prokopetz, Zenon, Sigurd Paul Scheichl, Karin Koller, Frank RichterNicole delle Karth, Brigitte FuchsMichael Mayer, Peter Winslow, Klaus Kastenhofer,  Wolfgang Kauders, MagicaErich Neuwirth, Daniel Kosak, Lisi MoosmannKurt Fischer, Dennis Beck, Letnapark, Peter Rabl, Ingo Stützle, Oliver Rathkolb, Birgit Mathon, Juliane Fischer, werquer.works, Robert Misik, Thomas Hauer, Fanny Esterházy, Xoph da Prof, Astrid Dominiak , Buchhandlung am TurmBirte Förster, Christina Dongowski, CurlySue, Lucile Dreidemy, Norbert Mayer,  Giesbert Damaschke, Bernhard Forssman,   Georg Hoffmann-OstenhofWalter Schübler, Renate Stark-Voit, Dr. Hausse, Clemens M. Schuster, Christian Seidl, Tomasz Michalski, Moritz Jacob, Peter Michael Braunwarth, Roland Reuß, Wolfgang Mieder, Armin WolfOliver Grimm, Julia Ortner und Patrick Bahners.

    (Diese Liste ist noch unvollständig. )



    Es ist heutzutage - mit etwas Übung - in 90 von 100 Fällen nicht schwierig, ein falsches Zitat innerhalb von fünf Minuten als solches zu erkennen. Wenn mir ein Zitat verdächtig vorkommt, versuche ich den Kontext des Zitats zuerst bei  Google Books , archive.org, dem Projekt Gutenberg und in Zeitungsarchiven herauszufinden. Danach gehe ich zu Wikiquote, das von Jahr zu Jahr verlässlicher wird, aber nicht blindes Vertrauen verdient sowie zu sorgfältig hergestellten Textsammlungen, die nicht mit Hilfe von Google durchsuchbar sind, wie zum Beispiel der digitalen "Fackel" der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Dann blättere ich fallweise in sorgfältig gemachten Nachschlagwerken und Studien, die nicht Online zur Verfügung stehen.

    Online-Zitatesammlungen oder Zitatlexika wie "Zitate für Manager" meide ich vollständig, da sie alle zu fehlerhaft sind. Finde ich das Zitat nicht in einer seriösen Quelle, interessiert mich, seit wann es im Umlauf ist und ob es Ähnliches auf Englisch und Französisch gibt. Wenn das Zitat eines bekannten Autors in der Fachliteratur unbekannt ist, in keinem der seriösen Lexika von Oxford, Yale oder Reclam vorkommt, und das Zitat erst seit 20 Jahren in Umlauf ist, wenn noch dazu nie eine Quelle angegeben wird und es nur in Online-Zitate-Sammlungen verbucht ist: dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass es falsch zugeschrieben ist, sehr, sehr groß.

    Am Ende frage ich zur Sicherheit eine kompetente Forschungsstelle, ob dort das Zitat schon einmal aufgetaucht ist. Die jeweiligen Forscherinnen und Forscher wissen auch, wieviel Texte aus ihrem Arbeitsgebiet mit Hilfe von Suchmachinen durchsuchbar sind und wieviele nicht.

    Einige Zweifelsfälle können allerdings nur sehr zeitaufwendig geklärt werden. Man darf nicht vergessen, dass die Bücher bei Google Books mit Fehlern auf fast jeder Seite eingelesen wurden und man sich nie vollständig sicher sein kann, ob eine resultatlose Suche nicht auf Grund von Fehlern bei Google Books oder eigenen Fehlern erfolglos geblieben ist. Auch sind ja nicht alle Klassiker vollständig digitalisiert. Das Gesamtwerk eines Autors vermögen nur jene zu überblicken, die es jahrelang studiert haben. Auch sind viele digitalisierte Ausgaben von Klassikern entsetzlich fehlerhaft. Deswegen können am Ende doch nur spezialisierte Philologen für ihr Fachgebiet entscheiden, ob ein zweifelhaftes Zitat korrekt zugeschrieben wird oder nicht. Es ist wesentlich weniger zeitaufwendig, ein falsches Zitat zu verbreiten als nachzuweisen, dass es inkorrekt oder falsch zugeschrieben ist.

    Durch das Internet verbreiten sich falsche Zitate zwar schneller, aber es ist in der Regel auch einfacher, herauszufinden, ob ein Zitat stimmt oder nicht, da bereits hunderte Falschzitate auf diversen Seiten, zum Beispiel beim Quote Investigator oder bei Wikiquote dokumentiert sind. Wenn ich zu dem Ergebnis komme, ein Bonmot sei falsch zugeschrieben, gibt es übrigens einen einfachen Weg, das zu falsifizieren: man muss mir lediglich eine seriöse Quelle für das Zitat nennen, von dem ich nach einigen Recherchen und Diskussionen mit Kollegen sage: es gibt keine.

    Da man sich ja auch selber manchmal irrt, bin ich meinen Kollegen und Kolleginnen in der Karl-Kraus-Forschung und jenen Philologinnen und Philologen, die meine Anfragen beantworten sowie den Leuten, die mit mir auf Twitter über problematische Zitate diskutieren, dankbar.