Montag, 24. April 2017

The trouble with "Germans is not that they fire shells, but that they engrave them with quotations from Kant." Karl Kraus (angeblich)

Dieses Zitat ist auf Deutsch fast unbekannt und taucht erstmals 1967 in einem Buch des englischen Historikers Frank Field über "Die Letzten Tage der Menschheit" auf:
  • "The trouble with the Germans, Kraus complained with polemical exaggeration, was not that they fired shells at the enemy but that they engraved quotations from Kant on the shells before firing them."
Falsche Zitate enstehen oft durch Gedächtnisirrtümer von Experten. Wenn der Spruch plausibel und prägnant formuliert ist, kann das falsche Zitat sehr erfolgreich werden, wie dieses hier, das durch Bücher, Zeitungen und im Internet im englischen Sprachraum millionenfach verbreitet wurde. 
Wie kam der englische Historiker zu dieser falschen Zuschreibung? Nirgends ist überliefert, im Ersten Weltkrieg wären Zitate von Immanuel Kant auf Granaten eingraviert gewesen. Was Karl Kraus der deutschen Kriegspropaganda von Kaiser Wilhelm und patriotischen Journalisten allerdings besonders übelnahm, war die metaphysische und moralische Überhöhung ihrer Aggressionspolitik mit Immanuel Kant. Zur gleichen Zeit wurden mit martialischen Redensarten wie, "Immer feste druff!",  Hunderttausende in den Tod geschickt, was - wie jeder wissen konnte - Immanuel Kants völkerrechtlichen, moralischen und politischen Forderungen vollständig widersprach.



Die preußische Redensart: "Immer feste druff!" war zwischen 1914 und 1918 so populär wie sonst nie.



  • "»Der völlige Sieg im Osten erfüllt mich mit tiefer Dankbarkeit. Er läßt uns wieder einen der großen Momente erleben, in denen wir ehrfürchtig Gottes Walten in der Geschichte bewundern können. Welch eine Wendung durch Gottes Fügung! Die Heldentaten unserer Truppen, die Erfolge unserer großen Feldherren, die bewunderungswürdigen Leistungen der Heimat wurzeln letzten Endes in den sittlichen Kräften, im  kategorischen Imperativ, die unserm Volk in harter Schule anerzogen sind ....«
  • » … Um so dankbarer wird gerade in Ostpreußen das Gottesgericht im Osten empfunden werden. Unseren Sieg verdanken wir nicht zum mindesten den sittlichen und geistigen Gütern, die der große Weise von Königsberg unserem Volke geschenkt hat .... Gott helfe weiter bis zum endgültigen Siege.« "
Karl Kraus hat diese pathetischen, abwegigen Berufungen auf die Lehren von Immanuel Kant im Mai 1918 mit Zitaten aus Kants Friedensschrift konfrontiert und am Ende mit einem ironischen, "eigenhändigen" Immanuel-Kant-Zitat glossiert. Die Sigle "m.p." bedeutet eigenhändig (e.h.), mit eigener Hand, vom Lateinischen "manu propria" (abgekürzt: m.p):
  •             "Um Mißverständnissen vorzubeugen
    erkläre ich, daß ich »Habt acht!«, »Marsch marsch!«, »Immer
    feste druff!« und »Durchhalten!« nicht als Beispiele für meinen
    kategorischen Imperativ vorgesehen habe. Kant m. p."
    Karl Kraus, Mai 1918
Und in der Tragödie "Die letzten Tage der Menschheit" lässt Karl Kraus den Nörgler sagen, die
"neuen Deutschen" hätten "den Kant'schen kategorischen Imperativ frisch von der Leber weg als eine philosophische Rechtfertigung von »Immer feste druff!« reklamiert". Dieses "Immer feste druff!" wurde nicht nur vertont, es wurde in der Tat auch auf Granaten eingraviert. In den "Letzten Tagen der Menschheit" stehen vor dem Eingang der Villa Wahnschafffe "rechts und links zwei Modelle von Mörsergeschossen, das eine mit der Inschrift: 'Immer feste druff!', das andere mit: 'Durchhalten!'".

Dem Historiker Julian Nodhues verdanken wir die These, dass die enge Verbindung von "Immer feste druff!" mit Immanuel Kant in den Kriegschriften von Karl Kraus den englischen Historiker dazu verleitet hat, zu glauben, Zitate von Immanuel Kant wären auf Granaten eingraviert gewesen und Karl Kraus habe gerade das an den Deutschen am meisten gestört.

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Mich freuten die Diskussionen auf Twitter, die geholfen haben, dieses Zitat-Rätsel zu lösen, wobei mir auch die Meldung "nix gefunden" oder Thesen mit kurzer Halbwertszeit nützlich waren. 
Dank an:  Basso Continuo, Julian Nordhues, Katharina Prager,  Andrea Maria Dusl, Christina Dongowski ua
 
Quellen:
Frank Field: "The last days of mankind: Karl Kraus and his Vienna", 1967
Karl Kraus: "Die Letzten Tage der Menschheit. Tragödie in 5 Akten mit Vorspiel und Epilog", III. Akt, 14. Szene: Der Optimist und der Nörgler im Gespräch. (Link)
Karl Kraus: "Die Fackel", Mai 1918,  474-483, S. 156
Google Statistik: Das Zitat hat mehr als 1000 Treffer, ist also wahrscheinlich millionenfach im englischen Sprachraum verbreitet.
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