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Dienstag, 18. April 2017

"Unsere Jugend ist unerträglich, unverantwortlich und entsetzlich anzusehen." Aristoteles (angeblich)

Pseudo-Aristoteles-Zitat.
Das Zitat wird auf Deutsch dem Philosophen Aristoteles, auf Englisch und Italienisch so ähnlich dem griechischen Dichter Hesiod zugeschrieben. 
  • "Ich habe überhaupt keine Hoffnung mehr in die Zukunft unseres Landes, wenn einmal unsere heutige Jugend die Männer von morgen stellt. Unsere Jugend ist unerträglich, unverantwortlich und entsetzlich anzusehen."
  • "Unsere Jugend ist unerträglich, unverantwortlich und entsetzlich anzusehen. Wenn ich die junge Generation anschaue, verzweifle ich an der Zukunft der Zivilisation.
    Aristoteles, um 350 v. Chr."  (
    Link)
 
Pseudo-Hesiod-Zitat?
 
 
Die Zuschreibung des Zitats an Hesiod begann (ohne Quellennachweis) anscheinend am Ende des 19. Jahrhunderts:
 
 
 
 
1954 taucht unser Zitat bei Google Books wieder auf und wird bei einem Hearing über jugendliche Delinquenz in den USA in folgender Version Hesiod zugeschrieben:
  • "I see no hope for the future of our people if they are to be dependent upon the frivolous youth of today for certainly all the youth are reckless beyond words and opinionated much beyond their years. When I was a boy we ... Hesiod" (Link)
 1967: 
"Nine hundred years before Christ, a Greek social critic had this to say, 
  • "I see no hope for the future of our people if they are to be dependent upon the frivolous youth of today. and certainly our youth are reckless beyond words, and opinionated much beyond their years." (Link)
1977:
"Consider Hesiod's mutterings, eight centuries before Christ: 
  • 'I see no hope for the future of our people if they are dependent on the frivolous youth of today, for certainly all youth are reckless beyond words.'" In: "The Redbook report on female sexuality: 100,000 married women disclose the good news about sex." (Link)


1987 wurde das angebliche Hesiod-Zitat auf Englisch Sokrates zugeschrieben, 1988 das erste Mal Aristoteles: in Gerhard Maletzkes Buch: "Kulturverfall durch Fernsehen?" . (Link) 
 
1987:
  • "In the third century B.C., Socrates said: I see no hope for the future ..... When I was a boy, we were taught to be discreet and ..." In: "Tell me it's only a phase!: a guide for parents of teenagers." (Link)

 


 Der Autor Maletzke war von Beruf weder Altphilologe noch Philosoph: Er ist also keine vertrauenswürdige  Quelle für ein neu aufgefundenes Aristoteles-Zitat, das in keiner seriösen Zitatesammlung vorkommt und in Amerika Hesiod zugeschrieben wird.

 Im 21. Jahrhundert wird dieses Pseudo-Aristoteles-Zitat von Ratgeber-Autorinnen, Pädagogen, Technikern, Psychiatern, Ökonomen und Juristinnen auch auf Deutsch weiter verbreitet. Zwei Beispiele: Robert Feuerhake: "Synthese und Strukturaufklärung neuer Heterodimetallkomplexe des Niob" (2004) (Link) oder Jutta Hofmann u. Susanne Helb: "Erfolg im Job mit Stil u. Intuition" (2007) (Link).

Schließlich wurde dieses angeblich klassische Lamento über die Jugend in viele Zitat-Sammlungen aufgenommen: zum Beispiel in das Buch "Zitate im Management: Das Beste von Top-Performern und Genies aus 2000 Jahren Weltwirtschaft" (Link) oder in die Anekdotenanthologie: "Die passende Anekdote zu jedem Anlass. Witzig und geistreich. Für Reden, Small Talk und vieles mehr" (2010). (Link) Leider hat auch ein Philosoph (Günther Friesinger (Link)) diesen Satz zitiert. Ich hätte sonst geschrieben, dass nur Fachfremde, die den nüchternen, trockenen Sound von Aristoteles' Prosa nicht im Ohr haben, auf so ein typisches Zivilisationsuntergangs-Jammer-Zitat hereinfallen können. 

Da ich nicht der Einzige bin, der diesen Satz in keinem Text von Aristoteles weder so noch so ähnlich gefunden hat - auch Wikipedia-Autoren zum Beispiel haben vergeblich danach gesucht (Link) -, kann man davon ausgehen, dass das Zitat nicht von Aristoteles stammt, noch dazu, wenn man die 120 jährige  Geschichte dieses Zitats bedenkt.

 Ob das Zitat jemals in einem Text Hesiods gefunden werden wird, weiss ich nicht. (Link). In den sieben Jahrzehnten, in denen das Zitat bei Tausenden Jugendkritikern populär wurde, hat nicht eine einzige Person eine griechische Quelle dafür angeben können, was für ein Klassiker-Zitat recht ungewöhnlich ist.

Meine These: Ein deutscher Autor hat sich 1988 in der Zuschreibung an Aristoteles geirrt: der Rest plappert tausendfach gedankenlos nach, was in unseriösen Zitat-Lexika geschrieben steht.

 

Artikel in Arbeit.


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ZITATFORSCHUNG unterstützen.

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Ich danke Lisi Moosmann für den Hinweis auf Hesiod und Moritz Jacob für seine Recherchen zur Geschichte der Hesiod-Zuschreibung.

 

Letzte Änderung: 24. August 2020

 

Freitag, 21. September 2018

"Auch das Denken schadet bisweilen der Gesundheit." Aristophanes (angeblich)

Dieses Argument aus dem siebenten Buch der Nikomachischen Ethik des Philosophen Aristoteles wird seit etwa 20 Jahren manchmal dem Komödienautor Aristophanes, der eine Generation vor Aristoteles in Athen gelebt hat, unterschoben. 

Der Wortlaut dieser deutschen Übersetzung stammt aus dem Jahr 1791 von dem Berliner Pastor Daniel Jenisch  (Link).

Aristoteles 

  • "Daß die Lüste schlecht sein sollen, weil manches Lustbringende krank macht, heißt grade so viel, wie wenn manche Kuren darum schlecht sein sollten, weil sie die Kasse angreifen. In dieser Beziehung sind ja beide schlecht, aber doch wohl nicht insofern, als sie ergötzen oder heilen; denn auch das Denken schadet einem zuweilen an der Gesundheit, dagegen wird weder die Klugheit noch sonst ein Habitus durch die aus ihm selbst fließende Lust gehemmt, sondern nur durch fremde Lustempfindungen; denn diejenigen, die aus dem Denken und Lernen entspringen, können nur bewirken, daß man umsomehr denkt und lernt."

    Aristoteles: Nikomachische Ethik 7. Buch, 13. Kapitel 1153a20, übersetzt von Eugen Rolfes  (Link)

     
  • "To argue  that pleasures are bad because some pleasant things are detrimental to health is the same as to argue that health is bad because some healthy things are bad for the pocket. Both pleasant things and healthy things can be bad in a relative sense, but that does not make them really bad; even contemplation may on occasion be injurious to health. (Link)

    Aristotle: Nicomachean Ethics, 7.12.4, Becker 1153a20, translated by H. Rackham, 1934

Aristoteles widerlegt hier das Argument, man müsse etwas schlechthin ablehnen, weil es eventuell krank machen könne.

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Quellen:
 "Die Ethik des Aristoteles, in zehn Büchern", übersetzt von Dan. Jenisch, Ferdinand Troschel, Danzig: 1791, S. 273 (Link)
Aristotle: "Nicomachean Ethics" 7.12.4, Aristotle in 23 Volumes, Vol. 19, translated by H. Rackham.  Harvard University Press, Cambridge, MA;  William Heinemann Ltd., London: 1934, 1153a20 (Link) (zitiert nach  Perseus Digital Library)
Aristoteles: "Ηθικά Νικομάχεια" 7. Buch  wikisource
Aristoteles: "Nikomachische Ethik", übersetzt von Eugen Rolfes, Felix Meiner Verlag, Leipzig: 1911,  7. Buch, 13. Kapitel 1153a20 (Link) (zitiert nach Projekt Gutenberg) 

Beispiele für falsche Zuschreibungen:
2000: groups.google  15.01.00, von "Frank Kloeker",
2003: Ingo Reichardt, Anne Reichardt: "Treffende Worte: 3000 Zitate für Führungskräfte." Linde Verlag, Wien: 2003, S. 27 (Link)
daszitat.de/