Sonntag, 5. August 2018

"Omne animal post coitum triste." Aristoteles (angeblich)


Das lateinische Sprichwort, "Alle Tiere sind nach dem Sex traurig", "Nach der Vereinigung sind alle Tiere unglücklich ", wird in unterschiedlichen Varianten, zum Beispiel, "Nach dem Koitus ist alle Kreatur traurig, außer dem Hahn, der kräht", oder: "Nach dem Koitus ist jedes Tier traurig, außer der Hahn und die Frau", dem Mediziner Galen sowie Cicero, Ovid, Augustinus und Aristoteles zugeschrieben.  

Wer immer dieses Sprichwort geprägt habe, müsse orgastisch impotent sein, schrieb Wilhelm Reich, der Schüler des Psychoanalytikers Sigmund Freud.

Das lateinische Sprichwort ist erst im 16. Jahrhundert nachzuweisen und in den überlieferten Texten von AristotelesGalen, Ovid, Augustinus  etc. von Experten ihrer Werke weder so noch so ähnlich gefunden worden, auch wenn in diversen Büchern und Nachschlagwerken (auch bei Wikiquote) das Gegenteil behauptet wird.

Ich folge hier hauptsächlich der Studie "'Omne animal post coitum triste' - Die Herkunft eines Sprichworts und seine Verwendung bei Freud" des Tübinger Historikers Gerhard Fichtner, der gleichzeitig mit Enrique Montero Cartelle der Evolution des Sprichworts gründlich nachgegegangen ist. Beide Forscher sind unabhängig von einander zu ähnlichen Schlüssen gekommen.

Das Sprichwort sei von ein paar Stellen einer Schrift aus der Schule von Aristoteles mit dem Titel "Problemata physica" angeregt worden, liest man öfters.

Diese Schrift ist nach dem Tod Aristoteles' im 3. Jahrhundert vor Christus enstanden, und in späteren Jahrhunderten von unbekannten Autoren ergänzt und redigiert worden. Sie enthält an die 900 Fragen für 900 Probleme (inklusive einiger Wiederholungen) und wurde im Mittelalter ins Arabische und Lateinische übersetzt.

Das Buch IV dieser pseudoaristotelischen Schrift "Problemata physica" trägt den Titel "Was den Geschlechtsverkehr betrifft" (Problems connected with the sexual intercourse) und erklärt 31 Probleme, die jeweils mit einer Warum-Frage beginnen.

Zum Beispiel (Link):
  • 31. Warum sind sowohl die Vögel als auch die Menschen mit dichtem Haarwuchs wollüstig? (880a 35)
  • 30. Warum sind die Melancholiker zum Geschlechtsverkehr geneigt? (880a 30)
  • 28. Warum drängen die Männer im Winter, die Frauen stärker im Sommer zum Geschlechtsverkehr? (880a 11)
  • 23 Warum tritt die Erektion ... ein? (879a 15)
  • 14. Warum können die Menschen im Wasser weniger den Geschlechtsakt ausüben? (878a 35)
  • 11. Warum neigen die, die beständig reiten, mehr zu Geschlechtsverkehr? (877b 14)
  • 7. Warum ist das Barfußgehen für den Geschlechtsverkehr nicht zuträglich? (877a 5)
Ohne Kenntnis der Viersäftelehre klingen die Erklärungen dieser Probleme unsinnig. Das Sprichwort, "Omne animal post coitum triste", wurde wahscheinlich durch Stellen aus diesem IV. Buch und vor allem von einem Satz aus dem XXX. Buch mit der Überschrift "Was Klugheit, Verstand und Weisheit betrifft" (Problems connected with prudence, intelligence and wisdom) angeregt:

  • "10. Warum hassen junge Menschen, wenn sie das erste Mal mit dem Geschlechtsakt beginnen, nach dem Akt diejenigen, mit denen sie verkehrt haben?"
    Pseudo-Aristoteles: Poblemata Physica, übersetzt von Hellmut Flashar, IV. Buch 877b 9ff. (Link)
  • "21. Warum wird man durch den Geschlechtsverkehr meistens erschöpft und kraftloser?"  Pseudo-Aristoteles: Poblemata Physica, übersetzt von Hellmut Flashar, IV. Buch 879a 4ff (Link)
  • "Auch nach dem Geschlechtsverkehr werden die meisten Menschen stärker depressiv;"
    "Also after sexual intercourse most people tend to be despondent;"
    Pseudo-Aristoteles: Poblemata Physica, XXX. Buch, übersetzt von Hellmut Flashar 955a 22 (Link)
    Griechisch: (in dieser Ausgabe) 955 50 (Link) 
Die falsche Verallgemeinerung des Sprichworts, "alle Tiere", ist in diesem Text aus der Schule des Aristoteles allerdings so wenig enthalten wie der Hahn, der in späteren Fassungen des Sprichworts auftaucht. Eine lateinische Übersetzung aus dem 15. Jahrhundert des Satzes lautet:
  • "Et post coitum uenereum animo plerique omnes succumbunt, reddunturque tristiores."
    Poblemata Physica, XXX. Buch 955a 22 (Zitiert nach Gerhard Fichtner, S. 163)
Gerhard Fichtner und der spanische Forscher Enrique Montero Cartelle sind in ihren Recherchen unabhängig von einander zu dem Schluss gekommen, dass der Wortlaut des lateinischern Sprichwortes das erste Mal im Jahr 1514 in einem Kommentar des deutschen Humanisten Johannes Murmellius zu einem Text von Boethius auftaucht:


1514
  • "nam, teste, philosopho, omne animal a coitu triste est"
    "denn nach dem Zeugnis des Philosophen ist jedes Lebewesen nach dem Verkehr traurig"
    Johannes Murmellius Zitiert nach Gerhard Fichtner, S. 163, der auch erklärt, dass man unter dem "philosophus" Aristoteles verstand.

Schon im 17. Jahrhundert wird das Sprichwort humoristisch variiert.

1692
  • "Et Omne Animal post Coitum fieri triste, Praeter Gallum didicit."
    "Man hat gelernt, dass jedes Tier nach dem Koitus traurig werde – außer dem Hahn."  (Link)


Im 18. Jahrhundert war das lateinische Sprichwort schon weit vebreitet, und kommt zum Beispiel auf dem Kupferstich William Hogarths "After" vor. Am Boden des Kupferstichs Nr 2. "After" liegt ein Buch mit dem Titel: "Omne Animal Post Coitum Triste. ARISTOTLE"

 1736
Vergößerung aus: Gerhard Fichtner; S.



Weiter verbreitet wurde das Sprichwort im 18. Jahrhundert auch durch den Roman "Tristram Shandy"von Laurence Sterne, der es ebenfalls Aristoteles zuschreibt sowie zum Beispiel durch das Buch "La Philosophie de Monsieur Nicolas" von Restif de La Bretonne, in dem folgende Variante erzählt wird:

1797
  • "Jedes Thier ist nach der Begattung niedergeschlagen, der Hühnerhahn und der den Beischlaf ohne Bezahlung genießende Schulknabe ausgenommen." (Link)

 

Varianten, die fäschlich Aristoteles, Galen etc zugeschrieben werden: 

  • Jedes Tier wird nach dem Koitus traurig
    - außer die Frau und der Hahn
    - außer dem Hahn, der kräht
    - außer der Hahn und der Schüler ....
  • Omne animal post coitum triste.
  • Quod omne animal post coitum est triste 
  • Omne animal post coitum triste: excepto gallo gallinaceo et studioso gratis admisso.
  • Omne Animal post coitum triste, exeepto Gallogallinacaeo, et Scholastico futuente gratis . . . .
  • omne animale post coitum triste est 
  • Post coïtum omnia animalia tristia sunt. 
  • Après l'amour, tous les animaux sont triste 
  • Jedes Thier ist nach dem Beischlaf traurig, lässig 
Das lateinische Sprichwort wurde also anscheinend 1514 von Johannes Murmellius erstmals aufgezeichnet und vielleicht auch geprägt, längere Fassungen davon entstanden im Mittelalter und wurden von der pseudo-aristotelischen Schrift "Problemata Physica" angeregt.
 
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Quellen:

"The works of Aristotle." Translated into English under the editorship of W.D. Ross, Volume VII, "Poblemata" by E.S. Forster, Clarendon Press, Oxford: 1927 (Link)
"Aristoteles Werke" in deutscher Übersetzung, begründet von Ernst Grumach, Band 19, "Problemata Physica", herausgegeben von Hellmut Flashar, Akademie Verlag (EA: 1962), 4. Auflage, Berlin: 1991, Buch IV, S. 48-58 (Link); Buch XXX 955a Zeile 22
 
Enrique Montero Cartelle: "Omne animal post coitum triste: de Aristóteles a S. Freud", "Revista de Estudios Latinos" (RELat) 1, 2001, S. 107-119 (Link):   pdf
Gerhard Fichtner: "'Omne animal post coitum triste' - Die Herkunft eines Sprichworts und seine Verwendung bei Freud", Jahrbuch der Psychoanalyse: Beiheft, Band 45 2002, S. 151-171 (Link)


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Dank:

Ich danke Christian Seidl für die Übersetzungshilfe.


Artikel in Arbeit.


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Letzte Änderung: 16/5 2022; Korrektur von Tippfehlern in Murmellius-Zitat. (Dank an Wikipedia-Mitarbeiter:in.)








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ANHANG

Problematische Zuschreibungen:
Triste est omne animale post coitum, praeter mulierem gallumque.
  • Every animal is sad after coitus except the human female and the rooster.
  • Galen (30-200 A.D.), in: Medical Aspects of Human Sexuality, (1973), p. 19.

Omne animal post coitum triste [praeter gallum, qui cantat].
„Nach der Vereinigung sind alle Lebewesen unglücklich [außer dem Hahn, der singt (kräht)].“ – Pseudo-Aristoteles, „Problemata physica“, XXX, 1

 Post coitum omne animalium triste est - After sex, all animals are sad. This is a shortened version of a Latin phrase, post coitum omne animal triste est sive gallus et mulier, which means 'After sex all animals are sad except for roosters and women'. It is attributed to the Greek doctor and philosopher, Galen. 


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Pseudo-Aristoteles (Link);  (Link)

Poblemata English: (Link)

Falsches? Zitat Pseudo-Aristoteles (Link)

Zitat Pseudo-Aristoteles (Link) 


  • daher auch die Bemerkung des Aristoteles: quod omne animal post coitum est triste
    Tristram Shandy, Laurence Sterne (Link) 

    the tallow or fat of animals, but an oily and balsamous substance: for the fat and tallow, as also the phlegm or watry parts, are of a lively heat and spirit, which accounts for the observation of Aristotle, “Quod omne animal “ post coitum off triste.
    Tristram Shandy, Laurence Sterne 

    Whoever  coined  the  expression  “Post coitum omnia animalia tristia sunt”   must have been orgastically impotent Wilhelm Reich


    Wander (Link) ; 1736 (Link)


    1901 
     Triste est omne animal post coitum praetcr mulierem gallumque, is, I believe, one of Galen's sayings, and this axiom is essentially true with respect to the ... (Link)
  •  
  • (Link); Yale (Link)(Link); Mittelalter (Link); Anton Kuh Altenberg (Link)