Freitag, 26. März 2021

"Über kurz oder lang kann das nimmer länger so weitergehen, außer es dauert noch länger ..." Karl Valentin

Karl-Valentin-Zitat (facebook).

Dieser Satz Karl Valentins wurde während der Corona-Pandemie sehr oft zitiert, und ich habe lange keine Quelle dafür gefunden.

Das Zitat stammt aus dem ersten Absatz von Karl Valentins Monolog "Gegenwart", worauf mich der Journalist Uli Bachmeier, der das Zitat wiederentdeckte, inzwischen dankenswerter Weise aufmerksam gemacht hat.


Karl Valentin: "Gegenwart", 1946:


  • "Ich sag nur soviel, über kurz oder lang kann das nimmer länger so weiter gehen, ausserdem es dauert noch länger, dann kann man nur sagen, es braucht halt alles sei Zeit, und Zeit wärs, dass es bald anders wird." 

  • Karl Valentin: Gegenwart, 1946, S. 162.

  •  "Scho unsa Karl Valentin håt gmoant ...
    Üba kurz oda lang ko des nima länga so weidageh ...
    ... aussa es dauert hoit no länga ...
    ... dånn ko ma nua sågn ...
    es braucht hoit ois sei Zeit ...
    ... und Zeit warads, dass boid amoi ånders werd."
    @wies
    nmichi, 26. Januar 2021, Twitter (Link)
 
  • "Über kurz oder lang kann das nimmer länger so weitergehen, außer es dauert noch länger, dann kann man nur sagen, es braucht halt alles seine Zeit, und Zeit wär’s, dass es bald anders wird." 
    (Link)

 

Karl-Valentin-Zitat; 28. Januar 2021(facebook).
 
Ich habe lange geglaubt, es könnte ein Kuckuckszitat sein, aber ich habe mich geirrt.

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Quellen: 

Karl Valentin: "Gegenwart" (1946) in: Karl Valentin: Sämtlichen Werke
in 9 Bänden, herausgegeben von Helmut Bachmaier und Dieter Wöhrle. Originalausgabe 1992,  Sonderausgabe Piper Verlag, München: 2007, Band 1, Monologe und Soloszenen, 162-164; 162.

Uli Bachmeier: "Hoffentlich wird's nicht so schlimm, wie es ist: Die satirische Jahresprognose." Landsberger Bote, 2. Januar 2021 (Link) 
Erstmals auf Twitter, 4. Januar 2021 (Link)

 
 

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Dank:
Ich danke Uli Bachmeier für die Aufklärung über den Ursprung des Zitats und werquer für den Hinweis auf dieses Zitat.



Letzte Änderungen: 16/1 2023 (Fragezeichen; Absatz gelöscht.) ; 18/1 2023 (Streichung der falschen Vermutungen; Quelle)

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Anhang:

Die Frage auf Twitter ist inzwischen beantwortet.

 


 

 

 


 

"Manchmal wollen die Menschen die Wahrheit nicht hören, weil sie nicht wollen, dass ihre Illusionen zerstört werden." Friedrich Nietzsche (angeblich)

Pseudo-Friedrich-Nietzsche-Zitat.

Diese Lebensweisheit stammt aus einem Roman des amerikanischen Thriller-Autors William Diehl  und kommt weder so noch so ähnlich in einem Text Friedrich Nietzsches vor.

William Diehl:

1992

  • " 'Right, m’boy,' the Judge answered. 'I’ve also said that sometimes people don’t want to hear the truth because they don’t want their illusions destroyed'."
    William Diehl: "Primal Fear" (EA: 1992) Mandarin,  London: 1993, S. 262  (archive.org)

Ein Jahrzehnt später wird dieser Satz eines Richters aus William Diehls Roman "Primal Fear" in den Sozialen Medien Friedrich Nietzsche untergeschoben, zuerst auf Englisch, 2011 erstmals auf Spanisch, und in den folgenden Jahren auch auf Italienisch, Französisch und Deutsch.

Pseudo-Friedrich-Nietzsche-Zitat.

Chronologie der frühesten falschen Zuschreibungen des Zitats an Friedrich Nietzsche auf Twitter:

2009, Englisch

  • "Sometimes people don’t want to hear the truth because they don’t want their illusions destroyed." (Link)

2011, Spanisch

  • "Alguna gente no quiere escuchar la verdad porque no quiere que se destruyan sus ilusiones"  (Link)

 2012, Italienisch

  • A volte le persone non vogliono sentire la verità, perché non vogliono che le loro illusioni vengano distrutte.  (Link)

2013, Französisch

  • ''Parfois, les gens ne veulent pas entendre la vérité parce qu'ils ne veulent pas que leurs illusions détruites " (Link)

 2014, Deutsch

  • "Menschen wollen die Wahrheit nicht hören, weil sie nicht wollen dass ihre Illusionen zerstört werden."  (Link)

 

Pseudo-Friedrich-Nietzsche-Zitat.
Friedrich Nietzsche hat in seiner Moralkritik die Funktion von Illusionen analysiert, auch das Vergnügen daran, Illusionen zu zerstören, aber die simple Konstatierung, dass Menschen ihre Illusionen lieber sind als eine unangenehme Wahrheit, stammt nicht von ihm.

Man kann sich sicher sein, dass dieses beliebte angebliche Nietzsche-Zitat ein Kuckuckszitat ist, da Nietzsches Werke mehrfach digitalisiert sind und schon einige Leute, auch Experten, vergeblich nach diesem Zitat in seinen Schriften gesucht haben und das Zitat auch in den relevanten Nachschlagwerken nicht verzeichnet ist.

 

Artikel in Arbeit.

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 Quellen:

William Diehl: "Primal Fear" (EA: 1992) Mandarin,  London: 1993, S. 262  (archive.org)
Friedrich Nietzsche: Digitale Kritische Gesamtausgabe der Werke und Briefe, basierend auf der Ausgabe von G. Colli und M. Montinari, Berlin/New York, de Gruyter: 1967ff., hrsg. von Paolo D’Iorio  (nietzschesource.org) 
"Did Nietzsche actually say or write, 'Sometimes people don't want to hear the truth because they don't want their illusions destroyed', Dezember 2017 (philosophy.stackexchange.com/questions) 
dpa-Faktencheck: "Es gibt keinen Beleg dafür, dass die Worte von Nietzsche stammen", 11. Oktober 2019  (presseportal.de)   
Wikiquote: Unsourced 

 
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Dank:
Dank an Zitante Christa für Ihren Hinweis.

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 Anhang

 


Friedrich Nietzsche:

  • "Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden, und die nach langem Gebrauche einem Volke fest, canonisch und verbindlich dünken: die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind, Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind, Münzen, die ihr Bild verloren haben und nun als Metall, nicht mehr als Münzen in Betracht kommen." 

    Friedrich Nietzsche: "Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne: § 1, 1873 (Link)

Daraus entsteht der Hang nicht in der Lüge zu leben: Beseitigung aller Illusionen. Aber er wird aus einem Netz in’s andere gejagt. Der gute Mensch will nun auch wahr sein und glaubt an die Wahrheit aller Dinge. 

Ich hatte die Lust an den Illusionen satt. Selbst in der Natur verdross es mich, einen Berg als ein Gemüths-factum zu sehen. — Endlich sah ich ein, dass auch unsre Lust an der Wahrheit auf der Lust der Illusion ruht.


Zerstören der Illusionen. — Die Illusionen sind gewiss kostspielige Vergnügungen: aber das Zerstören der Illusionen ist noch kostspieliger — als Vergnügen betrachtet, was es unleugbar für manchen Menschen ist.  

Die Illusionen haben den Menschen auch Bedürfnisse angezüchtet, welche die Wahrheit nicht befriedigen kann.  

„Illusionen sind nöthig, nicht nur zum Glück, sondern zur Erhaltung und Erhöhung des Menschen: insonderheit ist gar kein Handeln möglich ohne Illusion. 

Unsere Menschen wollen hart, fatalistisch, Zerstörer der Illusionen sein — Begierde schwacher und zärtlicher Menschen, welche das Formlose, Barbarische, Form-Zerstörenden goutiren (z.B. die „unendliche“ Melodie — Raffinement der deutschen Musiker)  

Es ist naiv zu glauben, daß wir je aus diesem Meer der Illusion herauskommen könnten. Die Erkenntniß ist völlig unpraktisch. 

Die Verlogenheit und Illusion, in der der Mensch lebt. Die Lüge und die Wahrheitsrede — Mythus Poesie. Die Fundamente alles Großen und Lebendigen ruhen auf der Illusion. Das Wahrheitspathos führt zum Untergang.   

 

(Bibliographische Angaben folgen.) 

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Montag, 22. März 2021

"Eine Lüge ist bereits dreimal um die Erde gelaufen, bevor sich die Wahrheit die Schuhe anzieht." Mark Twain (angeblich)

Pseudo-Mark-Twain-Zitat.

 Diesen Aphorismus hat noch niemand so oder so ähnlich in einem Text von Mark Twain gefunden, obwohl schon viele Experten danach gesucht haben (quoteinvestigator).

Die Erkenntnis, dass sich Gerüchte und Lügen viel schneller verbreiten als jene Wahrheit, die sie widerlegt, ist schon alt, und wurde von dem irischen Satiriker Jonathan Swift in einem Essay über Lügen in der Politik vor 300 Jahren mit folgenden Worten formuliert: 


Jonathan Swift, 1710:

  • "Die Lüge fliegt, und die Wahrheit humpelt ihr hinterher".
  • "Falsehood flies, and the Truth comes limping after it". (Link)

Die Metapher von der zu langsamen Wahrheit, die sich erst die Stiefel anziehen muss, ist am Anfang des 19. Jahrhunderts in Amerika entstanden und gelangte in den 1880er Jahren in den deutschen Sprachraum. 

Pseudo-Winston-Chuchill-Zitat.

 Alle Zuschreibungen der Metapher an Mark Twain, Thomas Jefferson oder Winston Churchill lassen sich nicht belegen, sind also falsch (quoteinvestigator).

Pseudo-Winston-Chuchill-Zitat.

1882

  • " 'Die Lüge', so meint einmal ein englischer Schriftsteller, 'hat bereits die Reise um die Welt gemacht, ehe die Wahrheit die Stiefel angezogen hat'."
    Eduard Marcour: "War Maria Stuart Gattenmörderin?"  1882, S. 209/21  (Link)

 

1885

  • "Die Lüge geht durch die halbe Stadt,
    ehe die Wahrheit die Stiefel anhat.
    G.W"

    Fliegende Blätter, Band LXXXIII, Nr. 2084-2109, 1885, S. 110   (Link)

Die erste falsche Zuschreibung an  Mark Twain auf Deutsch stammt aus der Übersetzung des journalismuskritischen Buches "Der Sündenlohn: eine Studie über den Journalismus" von Upton Sinclair; Mark Twain war 1921 schon 11 Jahre tot.

In Amerika wurde Mark Twain das Zitat neun Jahre nach seinem Tod erstmals untergeschoben (quoteinvestigator).

1921

  • "Von Mark Twain, glaube ich, stammt das Wort, daß eine Lüge rund um die Erde rennen kann, während die Wahrheit in ihren Schuhen steckt."
    Upton Sinclair: "Der Sündenlohn: eine Studie über den Journalismus", Verlag Der Neue Geist / Dr. Peter Reinhold Leipzig: 1921, S. 55 (Link)

In der Mitte des 20. Jahrhunderts war die Metapher anscheinend auch im deutschen Sprachraum schon so weit verbreitet, dass sie dem Volksmund zugeschrieben wurde.

1942 

  • "Es geht ihr, wie es im Volksmund heißt: Ehe die Wahrheit die Stiefel angezogen hat, ist die Lüge schon dreimal um die Welt gelaufen."
    Peter Ketter: "Die Apokalypse" 1942, S. 192 (Link)

Garson O'Toole hat die Entwicklung des Zitats in Amerika mit vielen Varianten dokumentiert (quoteinvestigator)

Die Lügen fliegen in dem Spruch zuerst von Maine nach Georgia, dann eine Meile, auch hundert Meilen, schließlich um die halbe oder um die ganze Erde und am Ende drei Mal um die Erde.

1820

  • "for falsehood will fly from Maine to Georgia, while truth is pulling her boots on". (Link)

1842

  • "It is said that Falshood runs off, while truth is pulling on its boots". (Link)

1854

  • "On the principle of the popular saying, that 'falsehood will travel a hundred miles while truth is pulling on its boots,’ holders will have entered and taken possession of the new Territories" (Link)

1856

  • "It is said that a lie will go a mile while truth is pulling on his boots".  (Link)

1857

  • "It is well said in the old proverb, 'A lie will go round the world while truth is pulling its boots on.'" (Link)

1895

  • "'A lie will travel round the world while truth is pulling on its boots' is a saying which gives an advantage to the lie." (Link)

 

Pseudo-Mark-Twain-Zitate im 21. Jahrhundert:


  • "Eine Lüge kann den halben Erdball umrunden, während sich die Wahrheit noch die Schuhe zubindet."
  • "Eine Lüge ist bereits dreimal um die Erde gelaufen, bevor sich die Wahrheit die Schuhe anzieht." 
  • "Eine Lüge reist einmal um die Erde, während sich die Wahrheit die Schuhe anzieht."
  • "Eine Lüge ist bereits dreimal um die Erde gelaufen, bevor sich die Wahrheit die Schuhe anzieht."
  • "Die Lüge ist dreimal um die Welt gereist, die Wahrheit bindet sich noch die Schuhe."
  • "Die Wahrheit schnürt sich noch die Schuhe während die Lüge bereits einmal um den Globus ist".
  • "Eine Lüge ist bereits dreimal um die Welt gelaufen, bevor sich die Wahrheit die Schuhe anzieht."
Pseudo-Mark-Twain-Zitat.

     

   

 

 

Artikel in Arbeit

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Quellen: 

 "The Yale Book of Quotations". Edited by Fred R. Shapiro. Foreword by Joseph Epstein, Yale University Press, New Haven and London: 2006, S. 615/168
Ralph Keyes: "The Quote Verifier: Who Said What, Where, and When." St. Martin's Griffin, New York: 2006, S. 121 (Link)
Richard Langworth:  Pseudo-Winston-Churchill-Zitate (richardlangworth.com)
Jonathan Swift: [Artikel ohne Titel] in: The Examiner, Number 15, 2.-9. November 1710, London: 1770, S. 2 (Link)
Jonathan Swift: "Über die Kunst der politischen Lüge", (1710) in: Das Blättchen, 27. Oktober 2014 (Link)
Garson O'Toole: "A Lie Can Travel Halfway Around the World While the Truth Is Putting On Its Shoes: Mark Twain? Jonathan Swift? Thomas Francklin? Fisher Ames? Thomas Jefferson? John Randolph? Charles Haddon Spurgeon? Winston Churchill? Terry Pratchett? Anonymous?" 2014 (quoteinvestigator)
1882: Eduard Marcour: "War Maria Stuart Gattenmörderin?" S. 21, in: Frankfurter zeitgemäße Broschüren, hrsg. von Paul Haffner, Band III, Verlag von A. Foesser, Frankfurt a. M.: 1882, S. 209/21  (Link)
1885: Fliegende Blätter, Band LXXXIII, Nr. 2084-2109, 1885, S. 110   (Link)
1942: Peter Ketter: "Die Apokalypse" Herders Bibelkommentar. Die Heilige Schrift für das Leben erklärt 16/2, Herder, Freiburg in Breisgau: 1942, S. 192 (Link)

 Beispiele für falsche Zuschreibungen an Mark Twain:

Upton Sinclair: "Der Sündenlohn: eine Studie über den Journalismus", Verlag Der Neue Geist / Dr. Peter Reinhold, Leipzig: 1921, S. 55 (Link)
"Harenberg Lexikon der Sprichwörter u. Zitate: mit 50000 Einträgen das umfassendste Werk in deutscher Sprache." (1997) 3. Auflage 2002, Harenberg Verlag, Dortmund: 2002, S. 808
Ingo Reichardt, Anne Reichardt: "Treffende Worte: 3000 Zitate für Führungskräfte." Linde Verlag, Wien: 2003, S. 105 (Link)
Henriette Kuhrt 12.11.2020 (bellevue.nzz.ch)
Imre Grimm 20.02.202 (rnd.de)

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Dank:

Ich danke wieder einmal Garson O'Toole (quoteinvestigator) für seine gründliche Arbeit und dem Historiker Richard Langworth für seine Sammlung falscher Churchill-Zitate (richardlangworth.com).