Montag, 20. August 2018

"Der Mensch ist umso reicher, je mehr Dinge er liegen lassen kann." Henry David Thoreau

 Ich hatte diesen Satz, als ich ihn in einer Zeitung las, kurz in Verdacht, ein Pseudo-Thoreau-Zitat zu sein, aber der Verdacht war falsch.

 Henry David Thoreau, 1854

  • " dann ließ ich wieder alles liegen, vielleicht brachliegen, denn der Mensch ist um so reicher, je mehr Dinge er liegenlassen kann."
    Henry David Thoreau: "Walden: oder Leben in den Wäldern" (Link)
  •  "I discovered many a site for a house not likely to be soon improved, which some might have thought too far from the village, but to my eyes the village was too far from it. Well, there I might live, I said; and there I did live, for an hour, a summer and a winter life; saw how I could let the years run off, buffet the winter through, and see the spring come in. The future inhabitants of this region, wherever they may place their houses, may be sure that they have been anticipated. An afternoon sufficed to lay out the land into orchard, wood-lot, and pasture, and to decide what fine oaks or pines should be left to stand before the door, and whence each blasted tree could be seen to the best advantage; and then I let it lie, fallow, perchance, for a man is rich in proportion to the number of things which he can afford to let alone. "

    Henry David Thoreau: "Walden", "Where I Lived, and What I Lived For"   (Link)
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Quellen:
Henry David Thoreau: "Walden: oder Leben in den Wäldern" (Link)
Henry David Thoreau: "Walden; or, Life in the Woods" 2. "Where I Lived, and What I Lived For"  (Link)

Samstag, 18. August 2018

"Das Leben ist ein Abbild unserer großen Romane." Arno Schmidt (angeblich)


Der Satz Arno Schmidts:
  • "Die 'Wirkliche Welt'?: ist, in Wahrheit, nur die Karikatur unsrer Großn Romane!"  

aus seiner Novellen-Comödie "Die Schule der Atheisten" wird manchmal entstellt wiedergegeben:

1992
  • "Es ist ja gar nicht wahr, daß unser aller Existenz nur ein schwacher Abklatsch großer Romane sei — wie der Optimist Arno Schmidt einst meinte. Unsere Leben sind Abklätsche der Medien, in Sonderheit der Boulevardmedien und der Yellow Press, welche beiden ja bekanntlich Millionenauflagen erzielen, ohne daß — sonderbar! — zumindest mir gegenüber je ein Mensch zugegeben hätte, sie zu konsumieren."
    Klaus Nothnagel: "Warum heißen Medien Medien?"  TAZ, 16. März 1992 (Link)
     
1999
  • So wird ... "die Realität zu einer lachhaften Kopie unserer großen Romane (Arno Schmidt)." (Link)
 2011
  • ".. ich zitierte ... wie so oft bei solch einer Gelegenheit, Arno Schmidt mit dem Satz: 'Das Leben ist ein Abbild unserer großen Romane.'  (Link)
2013
  • „Die Realität ist nur ein Abklatsch unserer großen Romane.“ (Arno Schmidt). (Link)


Arno Schmidt: "Die Schule der Atheisten." 1972,  S. 166
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 Joseph Roth meinte in seiner Novelle "Triumph der Schönheit" noch, das Leben sei ein elender Abklatsch schlechter Romane, keiner großen.

Joseph Roth, 1934

  •  "Sie glauben gar nicht, welch ein elender Abklatsch schlechter Romane das Leben ist." (Link)


Dass nicht die Kunst das Leben, sondern das Leben die Kunst imitiert, ist ein Gedanke, den das erste Mal Oscar Wilde in seinem  Essay "The Decay of Lying" ("Der Verfall des Lügens") im Jahr 1891 ausgesprochen hat (Link):

Ocar Wilde, 1891

  • "Life imitates Art far more than Art imitates Life."

  • "das Leben ahmt die Kunst weitaus mehr nach als die Kunst das Leben".



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Quellen:
Arno Schmidt: "Die Schule der Atheisten. Novellen-Comödie in 6 Aufzügen", S. Fischer, Frankfurt am Main: 1972, V. Aufzug, 3. Szene, Kolderup zu Seng Wu, S. 166
Joseph Roth: "Triumph der Schönheit", 1934, in: Joseph Roth: "Stationschef Fallmerayer / Die Büste des Kaisers / Triumph der Schönheit", hrsg. von Karl-Maria Guth, Hofenberg, Berlin: 2016, S. 66 (Link)
Oscar Wilde: "The Decay Of Lying: An Observation", 1891 (Link)
Oscar Wilde: "Der Verfall des Lügens. Eine Feststellung." In: Oscar Wilde: "Zwei Gespräche von der Kunst und vom Leben", übersetzt von Hedwig Lachmann und Gustav Landauer, Insel, Leipzig: 1907, S. 38 (Wikisource)

Freitag, 17. August 2018

"Stell dir vor, es ist Krieg, und keiner geht hin." Bertolt Brecht (angeblich)

Dieser wohl beliebteste Slogan der Friedensbewegung wurde durch einen Artikel der Autorin Charlotte Keyes ab 1966 in Amerika in der Version "Suppose They Gave a War and No One Came"  berühmt, und kam Ende der 1970er Jahren auch in Deutschland auf, wo er bald irrtümlich Bertolt Brecht untergeschoben wurde. 

Der einflussreiche Sprachkritiker und Sprachstillehrer Wolf Schneider zum Beispiel illustrierte mit diesem amerikanischen Zitat irrtümlich die Größe von Bertolt Brechts Sprache, "in der gemeisselten Einfachheit, die er an Luther schulte":

2008, Pseudo-Bertolt-Brecht-Zitat:

  • "Der Dichter Bert Brecht aber hat für die deutsche Sprache und durch sie Grosses geleistet: zum einen in der gemeisselten Einfachheit, die er an Luther schulte ('Stell dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin'), zum anderen in der frechen, zynischen Kraft - von der 'Dreigroschenoper' [...] bis zu seinem 'Zweiten Psalm' ".

    Wolf Schneider: "Bert Brecht, begnadetes Scheusal",  NZZ, 1. Juli 2008 (Link)
Grafik von Johannes Hartmann, Hamburg 1981.

1981 wird diese pazifistische Devise durch die Grafik des Hamburger Designers Johannes Hartmann in ganz Deutschland populär, und obwohl Ralf Bülow 1983 im 'Sprachdienst', Siegfried Unseld 1991 in einem Leserbrief an die FAZ und schließlich Christoph Drösser 2002  in der ZEIT-Kolumne "Stimmt's?" und viele andere darauf hinwiesen, dass der Spruch auf den amerikanischen Lyriker Carl Sandburg zurückgeht und mit Bertolt Brecht nichts zu tun hat, wird der Slogan auch 2018 noch Bertolt Brecht untergeschoben.


In einer längeren Fassung wurden diesem antimilitaristischen Spruch Zeilen aus einem Gedicht Bertolt Brechts angehängt und der gesamte Text Bertolt Brecht irrtümlich zugeschrieben. 


Pseudo-Bertolt-Brecht-Zitat:

  • "Stell Dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin. (1)
    Dann kommt der Krieg zu Euch! (2)

    Wer zu Hause bleibt, wenn der Kampf beginnt, und läßt andere kämpfen für seine Sache, der muß sich vorsehen: Denn wer den Kampf nicht geteilt hat, der wird teilen die Niederlage. Nicht einmal Kampf vermeidet, wer den Kampf vermeiden will, denn er wird kämpfen für die Sache des Feindes, wer für seine eigene Sache nicht gekämpft hat." (3)

Weder der erste Satz (1 'Stell dir vor ..') noch der zweite Satz (2 'Dann kommt..') dieses Slogans hat etwas mit Bertolt Brecht zu tun, wobei der zweite Satz völlig der pazifistischen Aussage des ersten widerspricht.


(1): "Stell Dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin."

Autor: Carl Sandburg, verändert von J. Newman, popularisiert von Charlotte Keyes (Link).

"Suppose They Gave a War and No One Came", war ein Slogan amerikanischer Hippies und Kriegsdienstverweigerer, von denenen einige lieber Jahre im Gefängnis verbrachten als im  Krieg gegen Vietnam zu kämpfen. 

Charlotte Keyes, die Mutter eines dieser Kriegsdienstverweigerer, hat 1966 den Slogan in einem Artikel über ihren Sohn populär gemacht (pdf)
 
Sie hat den Slogan von dem Ausspruch eines kleinen Mädchens aus einem 300 Seiten langen Gedicht von Carl Sandburg abgeleitet, "Sometime they'll give a war and nobody will come" (Little girl), der ihr durch einen Leserbrief in der Version, "Suppose They Gave a War and No One Came", in Erinnerung gebracht wurde. 

Ich folge hier den Recherchen ihres anderen Sohnes, Ralph Keyes, aus seinem Standardwerk "The Quote Verifier: Who Said What, Where, and When" (Link).

 1936

1961
  •  "Suppose they gave a war and no one came?” James R. Newman zitiert und verändert Sandburgs Satz in einem Leserbrief an die Washington Post.
1966
  • "Suppose they gave a war and no one came?” Charlotte E. Keyes zitiert Newmans verändertes Sandburg-Zitat.
1970
1981
  •  "Stell dir vor, es kommt Krieg, und keiner geht hin." Grafik von Johannes Hartmann
 

(2): Dann kommt der Krieg zu Euch!


Autor: Wahrscheinlich ein unbekannter Schweizer in einer Schweizer Militärzeitung.
Diese Satz hebt die antimilitaristische Aussage des ersten Satzes auf.


(3): "Wer zu Hause bleibt, wenn der Kampf beginnt ...."

Autor: Bertolt Brecht

  • "Wer zu Hause bleibt; wenn der Kampf beginnt
    ...
    Wer zu Hause bleibt, wenn der Kampf beginnt
    Und läßt andere kämpfen für seine Sache
    Der muß sich vorsehen: denn
    Wer den Kampf nicht geteilt hat
    Der wird teilen die Niederlage.
    Nicht einmal den Kampf ver
    meidet
    Wer den Kampf vermeiden will: denn
    Es wird kämpfen für die Sache des Feinds
    Wer für seine eigene Sache nicht gekämpft hat."

    Bertolt Brecht: "Koloman Wallisch Kantate" (Link)
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  1968

 The Monkees: "Zor and Zam"

 by Bill Chadwick and John Chadwick.

."The king of Zor, he called for war
And the king of Zam, he answered.
... 
...
Two little kings playing a game.
They gave a war and nobody came."



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Quellen:


Charlotte E. Keyes: "Suppose They Gave a War and No One Came", October 1966 (pdf)
Ralph Keyes: "The Quote Verifier: Who Said What, Where, and When." St. Martin's Griffin, New York: 2006, S. 239 (Link)
Carl Sandburg: The Complete Poems of Carl Sandburg. Revised and Expanded Edition. Introduction by Archibald McLeish. Harcourt, San Diego/ New York/ London: 1970, S. 464 (Link)
Siegfried Unseld: Leserbrief, FAZ 12. März 1991 (Link)
Ralf Bülow: "Stell Dir vor, es gibt einen Spruch ...", Der Sprachdienst Jg. 27, 1983, S. 97-100 
Christoph Drösser: "Stimmt's? Von Brecht? Unvorstellbar." Die ZEIT 31. Januar 2002 (Link)
  Johannes Hartmann: "Die rätselhafte Parole: 'Stell Dir vor, es ist Krieg, und Keiner geht hin'", Der SPIEGEL, EINESTAGES, 6. Februar 2016 (Link)
Bertolt Brecht: "Kolomann Wallisch Kantate" (Link) (Link), in: Bertolt Brecht: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Band 14 (Gedichte 4), Berlin, Weimar und Frankfurt: 1993, S. 262–270, S. 267

Beispiele für falsche Zuschreibungen: 

2008: Wolf Schneider: "Bert Brecht, begnadetes Scheusal", Neue Zürcher Zeitung, NZZ, 1. Juli 2008 (Link) 
2011: Wolf Schneider:" Deutsch für junge Profis: Wie man gut und lebendig schreibt" Rowohlt: 2011, rororo rowohlt digitalbuch (Link)

2018: Frank Schmidt-Wyk: "Politikwissenschaftler Herfried Münkler: Mehr Besonnenheit im Umgang mit Russland", Interview, "Lampertheimer Zeitung", 31. März 2018   (Link);
2013: unzensuriert.at   


Artikel in Arbeit.
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Letzte Änderungen: 6/1 2022 (neu: NZZ);  19/5 2022.


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ANHANG

Wolf Schneider: "Deutsch für junge Profis: Wie man gut und lebendig schreibt" 2011 (Link)