Samstag, 7. April 2018

„Alle Bücher, die ich gelesen habe, haben mir den Trost nicht gegeben, den mir Psalm 23 Vers 4 gab." Immanuel Kant (angeblich)

Seit 120 Jahren suchen Kant-Spezialisten vergeblich nach dem Ursprung dieses Zitats in den Schriften und Briefen Immanuel Kants. Der Philosoph Hans Vaihinger publizierte im ersten Band der "Kantstudien" 1897 eine Umfrage, woher dieses Zitat, das durch Erbauungsliteratur seit etwa 1870 verbreitet wird, stammen könnte:

 
Kantstudien, Band 1, 1897, S. 156

Inzwischen sind sämtliche Texte Immanuel Kants digitalisiert und weder in seinen noch in anderen zeitgenössischen Texten ist dieses Zitat zu finden. Es ist also ein Kuckuckszitat, das über 60 Jahre  nach Kants Tod entstanden ist. Wer es geprägt hat, ist unbekannt, da noch Quellen vor 1870 gefunden werden könnten.

Dieses Pseudo-Immanuel-Kant-Zitat wird im Internet hauptsächlich durch protestantische, aber auch durch katholische Sprüche- und Predigtsammlungen verbreitet.


1874
  • "Alle Bücher, die ich gelesen habe, haben mir den Trost nicht gegeben, den mir das Wort in der Bibel Ps 23, 4 gab: ob ich schon wanderte im finsteren Thal, fürchte ich kein Unglück, denn Du, Herr, bist bei mir.(Link)
1935
  • "Und Kant: 'Alle Bücher, die ich gelesen habe, haben mir den Trost nicht gegeben, den mir Psalm 23 Vers 4 gab.'" (Link)
2011
  • "Kein Geringerer als Immanuel Kant schreibt zu Psalm 23, den man auch das protestantische Ave Maria genannt hat: 'Alle Bücher, die ich gelesen habe, haben mir diesen Trost nicht gegeben, den mir dieses Wort der Bibel gab.'" (Link)
2014
  • "Der große Philosoph Immanuel Kant soll folgendes festgestellt haben: "Ich habe in meinem Leben viele kluge und gute Bücher gelesen. Aber ich habe in ihnen allen nichts gefunden, was mein Herz so still und froh gemacht hätte wie die vier Worte aus dem 23. Psalm: 'Du bist bei mir!'“ (Link)
2015
  • "Mit dem Psalmisten beten wir: 'Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln.' Dem Philosophen Immanuel Kant wird dazu ein tiefgründiges Bekenntnis in den Mund gelegt: 'Alle Bücher, die ich gelesen habe, haben mir den Trost nicht gegeben, den mir dies Wort der Bibel gab.'" (Link)
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Quellen:
Google
"Kantstudien." Herausgegeben von Hans Vaihinger, Erster Band, Verlag von Leopold Voss, Hamburg und Leipzig: 1897, S. 156 (Link)
Christofer Frey: "Hat sich Kant jemals auf den Psalm 23 bezogen und den hohen Wert der vier Wörter "du bist bei mir" hervorgehoben?" 2002 (Link).
Immanuel Kant: Gesammelte Werke, Akademieausgabe. Elektronische Edition: Universität Duisburg 
Erstmals zugeschrieben: 
Alice Salzbrunn:  "Das Wort Gottes in Zeugnissen von Theologen, Philosophen und Dichtern." (EA 1870, Leipzig) 2. Auflage, Friese, Berlin: 1874, S. 56 (zitiert nach Vaihinger) 

Donnerstag, 5. April 2018

"Wenn die Engel für Gott spielen, so spielen sie Bach, füreinander spielen sie Mozart." Isaiah Berlin (angeblich)

Dieses Lob Mozarts stammt von dem Schweizer Theologen Karl Barth, der es in einem "Dankbrief an Mozart" für eine Umfrage der  "Luzerner Neuesten Nachrichten" am 21. Januar 1956 erstmals publiziert hat. Dieser "Dankbrief" ist in Karl Barths kleinem Mozart-Buch von 1956 wieder abgedruckt.

Der britische Philosoph Isaiah Berlin, dem dieses Mozart-Lob manchmal zugeschrieben wird,  hat diesen Spruch einmal ohne Hinweis auf Karl Barth zitiert ("It is said that the angels .."), aber er hat ihn nicht geprägt.
Pseudo-Isaiah-Berlin quote.

Karl Barth, Dankbrief an Mozart:

  • "Wie es mit der Musik dort steht, wo Sie sich jetzt befinden, ahne ich nur in Umrissen. Ich habe die Vermutung, die ich in dieser Hinsicht hege, einmal auf die Formel gebracht: ich sei nicht schlechthin sicher, ob die Engel, wenn sie im Lobe Gottes begriffen sind, gerade Bach spielen — ich sei aber sicher, daß sie, wenn sie unter sich sind, Mozart spielen und daß ihnen dann doch auch der liebe Gott besonders gerne zuhört."
    Karl Barth: "Dankbrief an Mozart", Basel, 23. Dezember 1955 (Aus der Umfrage der 'Luzerner Neuesten Nachrichten', 21. Januar 1956) in: Karl Barth: "Wolfgang Amadeus Mozart  1756/1956", EVZ Verlag, Zürich: 1956 (7. Auflage 1967), S. 13

Isaiah Berlin

  • "Isaiah Berlin, an English political scientist, once wrote, "It is said that the angels, when they play for God, play Bach, but when they play for each other, they play Mozart."
    Michael Samuel Aurelius: "High On Mozart", Chicago Tribune, 9. November 1993 (Link)
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Quellen:
Google
Karl Barth: "Dankbrief an Mozart", Basel, 23. Dezember 1955 (Aus der Umfrage der 'Luzerner Neuesten Nachrichten', 21. Januar 1956) in: Karl Barth: "Wolfgang Amadeus Mozart  1756/1956", EVZ Verlag, Zürich: 1956 (7. Auflage 1967), S. 13
Michael Samuel Aurelius: "High On Mozart", Chicago Tribune, 9. November 1993 (Link)
Time, 1962 (Link)

Mittwoch, 4. April 2018

"Nur die allerdümmsten Kälber wählen ihren Schlächter selber." Bertolt Brecht (angeblich)

Pseudo-Bertolt-Brecht-Zitat.
 Dieses Sprichwort taucht erstmals 1874 auf einem Schweizer Stimmzettel zur Wahl der Züricher Steuerkommission auf, was damals von vielen deutschen und österreichischen Zeitungen  amüsiert berichtet wurde. 

Der Witz des unbekannten Autors wurde in den Jahren darauf weit verbreitet und von Sozialdemokraten schon vor dem 1. Weltkrieg bei Wahlen oft als Slogan verwendet.


Neues Fremden-Blatt, Abendausgabe, Wien, 27. Mai 1874, S. 2.
In den letzten Jahrzehnten wird der Spruch irrtümlich oft Bertolt Brecht und manchmal auch Wilhelm Busch oder Heinrich Heine zugeschrieben.
Pseudo-Bertolt-Brecht-Zitat.


Varianten:

  • "Nur die allerdümmsten Kälber // wählen ihren Schlächter selber."
  • "Nur die allergrößten Kälber wählen ihre Metzger selber."
  • "Nur die dümmsten Kälber wählen ihre Schlächter selber."
  • "Nur die dümmsten Kälber wählen ihre Metzger selber." 

Bertolt Brecht spielt in dem "Kälbermarsch", seiner Parodie des Horst-Wessel-Liedes, in dem 1943 entstandenen Drama "Schwejk im Zweiten Weltkrieg" auf das Sprichwort an, aber er hat es selber weder geprägt noch in einer der ihm irrtümlich zugeschriebenen Versionen verwendet.

 

Bertolt Brecht

  • "Hinter der Trommel her
    Trotten die Kälber
    Das Fell für die Trommel
    Liefern sie selber.
    Der Schlächter ruft:
    Die Augen fest geschlossen
    Das Kalb marschiert.
    In ruhig festem Tritt.
    Die Kälber, deren Blut im Schlachthaus schon geflossen
    Marschiern im Geist in seinen Reihen mit."
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Quellen:
Google 
Bertolt Brecht: Stücke. Band 10 – Stücke aus dem Exil: Schweyk im Zweiten Weltkrieg; Der kaukasische Kreidekreis; Die Tage der Commune. Suhrkamp, Frankfurt am Main: (1957) 1959, S. 103
Neues Fremden-Blatt, Abendausgabe, Wien, 27. Mai 1874, S. 2 (Link)
Zitat in der Arbeiter Zeitung, Wien 1895-1933 (anno)

Beispiele für falsche Zuschreibungen:

An Bertolt Brecht:
 Google
Wiener Zeitung
facebook.com/CiceroMagazin

An  Wilhem Busch:
Michael Wolffsohn: Und wir stecken den Kopf in den Sand, Die Welt, 26. März 2019 (Link)


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Dank:
Ich danke Christian Seidl und Wolfgang Gruber für ihre Hinweise auf den Schweizer Stimmzettel.

Letzte Änderung: 17/6 2020