Montag, 18. September 2017

"Die gefährlichste aller Weltanschauungen ist die Weltanschauung der Leute, welche die Welt nie angeschaut haben." Alexander von Humboldt (angeblich)

Pseudo-Alexander-von-Humboldt-Zitat.
Dieser beliebte Aphorismus wird Alexander von Humboldt seit etwa fünfzig Jahren immer ohne Quellenangabe untergeschoben, und ist in seinen Texten nie gefunden worden, wie mir auch Dr. Ingo Schwarz von der Alexander-von-Humboldt-Forschungsstelle der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften bestätigt hat.

Den Wortwitz von der gefährlichen Weltanschauung von Leuten, die die Welt nie angeschaut haben, hat Arno Tator in einem 1895 veröffentlichten Sinngedicht des deutschen Schriftstellers Moritz Goldschmidt gefunden:

Moritz Goldschmidt: Sinngedicht



"Seltsamste Weltanschauungen heute
Schießen wunderbar üppig ins Kraut.
Gefährlich allein ist stets die erneute
Furchtbare Weltanschauung der Leute,
Die die Welt nie angeschaut. —"

Moritz Goldschmidt: "Sinngedichte." Münchener Kunst- u. Theater-Anzeiger, 17. Oktober 1895 (Link) 

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Bernd-Christoph Kämper hat die bislang früheste  Erwähnung des Kuckuckzitats in der der deutschsprachigen amerikanischen Zeitung "Der Deutsche Correspondent" entdeckt.
 
Es war in der Rubrik  "Texte für Sonntagsbetrachtungen" am 10. April 1898 in dieser in Baltimore erschienenen einflußreichen deutschen Tageszeitung (Auflage: 15.000) abgedruckt.
 
So wie die zehn anderen kurzen Texte dieser Rubrik wurde das Zitat ohne Autorenname präsentiert, und der unbekannte Verfasser der Rubrik mit der Sigle O.R. scheint keinen Anspruch auf die Autorschaft erhoben zu haben.

"Der Deutsche Correspondent" Baltimore, Md., 10. April 1898, S. 9 (Link)

Wir wissen bis jetzt noch nicht, wo der Verfasser der Rubrik diesen Aphorismus gefunden hat.
 
 Ralf Bülow hat auch eine frühe Formulierung dieses Kuckuckszitats in einem Text des 1927 verstorbenen  Grazer Schriftstellers Bruno Ertlers entdeckt:

  • ".. im Wirtshaus dann schmieden sie, vom Wein erhitzt, was ihnen Schulmeister, Priester und Zeitungsschreiber sagten, eine nüchterne, fest umrissene 'politische Überzeugung', deren gleichmäßige Wertlosigkeit sie verschiedenfarbig anstreichen, was sie dann den 'Kampf der Weltanschauung' nennen, sie, die die Welt nie angeschaut haben."

    Bruno Ertler: "Das Klingende Fenster", Stiasny Verlag, Graz: 1957, S. 85 (Link)
Bruno Ertler, S. 85 (Link).

Mit mehr als 4000 Google-Treffern (Link) ist dieses Kuckuckszitat seit etwa 10 Jahren auch auf Englisch sehr beliebt.

Pseudo-Alexander-von-Humboldt quote.
Wer das Zitat in dem populären Wortlaut geprägt und erstmals Alexander von Humboldt unterschoben hat, weiß man nicht.

2004 behauptete Hans Magnus Enzensberger in einem SPIEGEL-Gespräch, Alexander von Humboldt habe mit dem Zitat auf den philosophischen Stubengelehrten Georg Wilhelm Friedrich Hegel angespielt:

  • Humboldt "ist das Gegenteil eines Stubengelehrten; er will alles selber sehen und wahrnehmen, nicht nur aus Büchern kennen lernen. Einmal sagt er: Die gefährlichste Weltanschauung ist die Weltanschauung derjenigen, die die Welt nicht angeschaut haben. Das sagt er über Hegel!" 

    Hans Magnus Enzensberger, SPIEGEL-Gespräch,  DER SPIEGEL 38/2004, 13. September 2004 (Link)

Da Experten lange vergeblich nach diesem Zitat in einem Text Alexander von Humboldts gesucht haben und es ihm erst über 100 Jahre nach seinem Tod erstmals zugeschrieben wurde, ist anzunehmen, dass es niemals in einem Werk oder Brief Alexander von Humboldts gefunden werden wird.

Das angebliche Humboldt-Zitat steht meines Wissens auch in keinem einzigen seriösen Zitate-Lexikon.
 
 Aber inzwischen wird das Falschzitat sogar von der deutschen Bundesregierung verbreitet:

2018



2019
 



Twitter, 14. September 2019:








Twitter-Geburtstagswünsche mit einem Kuckuckszitat.

Varianten des Kuckuckzitats:

 

  • "The most dangerous worldviews are the worldviews of those who have never viewed the world."
  • "The most dangerous worldview is the worldview of those have not viewed the world."
  • "Die gefährlichste aller Weltanschauungen ist die Weltanschauung der Leute, welche die Welt nie angeschaut haben."
  • "Die gefährlichste aller Weltanschauungen ist die Weltanschauung derjenigen Leute, welche die Welt nie angeschaut haben." 
  • "Die gefährlichste aller Weltanschauungen ist die Weltanschauung der Leute, welche die nie Welt angeschaut haben." 
  • "Die gefährlichste Weltanschauung ist die Weltanschauung derer, die die Welt nie angeschaut haben."
  • "Am Schlimmsten ist die Weltanschauung derer, die die Welt nie angeschaut haben."
  • "Die gefährlichste Weltanschauung ist die Weltanschauung der Leute, welche die Welt nie angeschaut haben." 


Angeregt wurde das Kuckuckszitat vielleicht durch Alexander von Humboldts Satz : "Das Auge ist das Organ der Weltanschauung", aus dem 1. Band seines Hauptwerkes "Kosmos – Entwurf einer physischen Weltbeschreibung"  (Link). Allerdings verwendet Humboldt hier das Wort Weltanschauung in der Bedeutung 'Naturbetrachtung' oder 'Weltbeschreibung' und nicht in der Bedeutung 'Lebensphilosophie' oder 'Ideologie'.
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Quellen:
E-Mail von Dr. Ingo Schwarz vom 17. September 2017
Christian Seidl auf Twitter
(Link)
Moritz Goldschmidt: "Sinngedichte." Münchener Kunst- u. Theater-Anzeiger, VIII. Jahrgang, Nr. 2792,  17. Oktober 1895, S. 1  (Link)  [Fußnote:] "Aus: 'Neue Sinngedichte' von Moritz Goldschmidt, Verlag von Kesselring, (Frankfurt a. M.)"
Bruno Ertler: "Das Klingende Fenster", Stiasny Verlag, Graz: 1957, S. 85 (Link)
Ottmar Ette: "Alexander von Humboldt und die Globalisierung: Das Mobile des Wissens", Insel Verlag, Frankfurt am Main: 2009, S. 161 (Link)  (Das Zitat "dürfte" "apokryph sein".)


Beispiele für falsche Zuschreibungen:

"Der Deutsche Pelztierzüchter" Bände 51-55, 1977, S. 106 (Link) (Früheste falsche Zuschreibung bei Google books.)
Johannes Saltzwedel, Stefan Aust und Matthias Matussek: "Der Mann geht aufs Ganze", Spiegelgespräch mit Hans Magnus Enzensberger über Alexander von Humboldt,  DER SPIEGEL 38/2004, 13. September 2004 (Link)
Joachim Müller-Jung: "Ein Riese auf allen Gipfeln", Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13. September 2019 (faz.net)
Jochen Temsch: "Urlaub machen, aber fair", Süddeutsche Zeitung, 26. Juli 2019 (Link) 
Alexander von Humboldt: "Über die Freiheit des Menschen" Herausgegeben von Manfred Osten. Insel Verlag, Frankfurt am Main: 1999, S. 18 [Hegel]
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Google  (Link), (Link)
aphorismen.de/zitat/67331
sueddeutsche.de/reise/bildstrecke-aufloesung-wer-sagt-denn-so-was-1.345288-9
spiegel.de/spiegel/print/d-32134707.html  (Hans Magnus Enzensberger)
zitate.net/alexander-von-humboldt-zitate
Twitter


 
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Dank:
Ich danke Christian Seidl und Tobias Blanken für den Hinweis auf dieses Falschzitat, Ingo Schwarz von der Berliner Alexander-von-Humboldt-Forschungsstelle für die Bestätigung, dass es kein authentisches Zitat ist, sowie Arno Tator und  Ralf Bülow für ihre Recherchen zum Ursprung dieses Kuckuckszitats. Besonders danke ich wieder Bernd-Christoph Kämper für seine Enteckung der frühesten Erwähnungen 1898 und 1930.

Letzte Änderungen: 14/9 2019; 15/9 2022 (Fund von Arno Tator); 16/9 2022  (Korrekturen) 23/6 2023 (1898)

Samstag, 16. September 2017

"Dunkel war's, der Mond schien helle ..." Joachim Ringelnatz (angeblich)

Dieses Zitat stammt weder von Joachim Ringelnatz (Link) noch von Christian Morgenstern, sondern aus einem anonymen Kindergedicht, das schon vor 130 Jahren (Link) (Link) weit verbreitet war. Das Nonsensgedicht aus lauter Oxymora gibt es in Dutzenden Versionen mit vielen Zusatzsstrophen und wird irrtümlich auch anderen Autoren unterschoben.

Ralph Babel hat auf seiner informativen Seite diverse Varianten dieser wahrscheinlich immer noch bekanntesten Oxymora  übersichtlich dokumentiert: "Dunkel war's, der Mond schien helle", Varianten von 1875 bis 2005  (Link).  Deswegen bringe ich hier nur eine kurze Fassung dieser anonymen Verse, die meistens mit: "Dunkel war's, der Mond schien helle" beginnen; mir gefällt "Finster war's ..." besser.

"Finster war’s, der Mond schien helle,
schneebedeckt die grüne Flur,
als ein Wagen blitzesschnelle
langsam um die Ecke fuhr.

Drinnen saßen stehend Leute,
schweigend ins Gespräch vertieft.
als ein totgeschossener Hase
auf der Wiese Schlittschuh lief."
Anonym (Nach der Fassung von James Krüss.)

Sämtliche 12 Strophen in der Bearbeitung von Volker Gringmuth findet man auf seiner Webseite hier.
Varianten von 1875 bis 2005: (Link).
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Quellen:
"Neue Zeitschrift für Musik", 15. Januar 1886, S. 27 (Link)
"Wiener Montags-Journal", 10. Mai 1885, S. 3 (Link)
 Ralph Babel: "Dunkel war's, der Mond schien helle", Varianten von 1875 bis 2005, 2006ff.?  (Link). 
Volker Gringmuth: "Quatschgedicht -  Dunkel war’s, der Mond schien helle ...", 2005 (Link)
Wikipedia
Wikisource 


Montag, 11. September 2017

"Nicht der Krieg, der Frieden ist der Vater aller Dinge." Willy Brandt


Dieses Zitat von Willy Brandt stammt - wie Tobias Blanken herausgefunden hat - ursprünglich von einem der größten Sozialistenhasser aller Zeiten, von dem österreichischen Ökonomen Ludwig von Mises.

Ob Willy Brandt den Ursprung dieses Satzes aus seiner Autobiographie "Über den Tag hinaus: eine Zwischenbilanz" (Link) kannte, weiß ich nicht.

Willy Brandt: 

  • 1971: "Krieg ist nicht mehr die ultima ratio, sondern die ultima irratio."
  • 1973: "... sollte uns daran erinnert haben, dass nicht Krieg, sondern Frieden der Vater aller Dinge ist."
  • 1974: "Nicht der Krieg, der Friede ist der Vater aller Dinge!" 
1971
  • "Krieg ist nicht mehr die ultima ratio, sondern die ultima irratio. Auch wenn das  noch nicht allgemeine Einsicht ist: Ich begreife eine Politik für den Frieden als wahre Realpolitik dieser Epoche."
    Willy Brandt: "Friedenspolitik in  unserer Zeit"
    Universität Oslo, am 11. Dezember 1971 anlässlich der Verleihung des Friedensnobelpreises.
1973/1974, Neujahrsansprache
  • "Der Konflikt im Nahen Osten sollte uns daran erinnert haben, dass nicht Krieg, sondern Frieden der Vater aller Dinge ist."

Quelle: Willy-Brandt-Archiv im Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung.
Willy Brandt: Entwurf zur Neujahrsansprache vom 31.12.1973

1974
  • "Nicht der Krieg, der Friede ist der Vater aller Dinge! Wir müssen ihn mit allen Mitteln zu sichern versuchen. Und es muß schließlich gelingen, eine internationale Ordnung zu schaffen, die den Namen Friede verdient. Immerhin meinen wir heute zu wissen, daß ein dritter Weltkrieg, der vermutlich der letzte unserer Zivilisation wäre, vermeidbar ist. Wir dürfen sogar davon ausgehen, daß niemand, der über Macht verfügt und Verantwortung trägt, die Katastrophe will." Willy Brandt: "Über den Tag hinaus: eine Zwischenbilanz" (Autobiographie), Hoffmann und Campe, Hamburg: 1974, S. 469 (Link)
Günther Grass, am 17. Dezember 1969 an Willy Brandt: 
  • "Wer immer noch meint, der Krieg oder auch die Revolution sei der Vater aller Dinge, der wird sich belehren lassen müssen, dass wir zum Frieden verurteilt sind, und zwar lebenslänglich". 
Günther Grass fordert Willy Brandt in diesem Brief auf, schreibt Wolfgang Mieder, "seinen Gedanken 'im Frieden leben' in seinen Reden weiter auszubauen" (Link)

Dieser aufschlußreichen Studie Wolfgang Mieders zur Sprichwortrhetorik Willy Brandts verdanken wir auch die Vermutung, dass Günther Grass seinem Freund Willy Brandt das Heraklit-Sprichwort vom Krieg als dem Vater aller Dinge in Erinnerung gebracht haben könnte.

Ludwig Mises

 1922 
  • "Die Überwindung des Gewaltprinzips durch das Friedensprinzip wird dem menschlichen Geiste in der liberalen Sozialphilosophie bewußt, in der sich die Menschheit zum erstenmal über ihr Handeln Rechenschaft gibt. Sie zerreißt den romantischen Nimbus, mit dem die Ausübung der Gewalt bis dahin umgeben war. Krieg, lehrt sie, ist schädlich, nicht nur für die Besiegten, sondern auch für die Sieger. Durch Werke des Friedens ist die Gesellschaft entstanden, ihr Wesen ist Friedensstiftung. Nicht der Krieg, der Frieden ist der Vater aller Dinge. Nur durch wirtschaftliche Arbeit ist der Wohlstand um uns herum entstanden; Arbeit, nicht Waffenhandwerk bringt den Völkern Glück."
    Ludwig von Mises: "Die Gemeinwirtschaft. Untersuchungen über den Sozialismus." (1922) 2., umgearbeitete Auflage, Verlag von Gustav Fischer, Jena: 1932, S. 45 pdf
  •  
Wie weit diese Umkehrung des Heraklit-Spruchs von Ludwig Mises, der 1919 in Österreich entadelt wurde und sich in der Emigration wieder das "von" vor seinem Nachnamen zugelegt hat, in den 1960er und 1970er Jahren verbreitet war, kann ich noch nicht sagen.

Korr. Fassung, 16. Februar 2018
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Quellen:
Wofgang Mieder: "Der Mensch lebt nicht vom Brot allein. Zu Willy Brandts gesellschaftspolitischer Sprichwortrhetorik." In: Hartmut E. H. Lenk, Ulrike Richter-Vapaatalo (Hg.): Sie leben nicht vom Verb allein; Beiträge zur historischen Textanalyse, Valenz- und Phraseologieforschung, Frank und Timme, Berlin: 2015, S.135 (Link) 
Günther Grass an Willy Brandt,  17. Dezember 1969: Zitiert nach Wolfgang Mieder.
Ludwig von Mises: "Die Gemeinwirtschaft. Untersuchungen über den Sozialismus." (1922) 2., umgearbeitete Auflage, Verlag von Gustav Fischer, Jena: 1932, S. 45 pdf
 "Zum 100. Geburtstag von Willy Brandt. Er hat die Fenster aufgemacht in diesem doch sehr verrotteten Land." Brandts Wahlkampfleiter erinnert an die alte Bonner Republik. Albrecht Müller im Gespräch mit Liane von Billerbeck. Deutschlandfunk Kultur: 18.12.2013 (Link)
Willy Brandt: "Über den Tag hinaus: eine Zwischenbilanz" (Autobiographie), Hoffmann und Campe, Hamburg: 1974, S. 469 (Link)
Willy Brandt: Entwurf zur Neujahrsansprache vom 31.12.1973; Willy-Brandt-Archiv im Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung.
Willy Brandt: "Friedenspolitik in  unserer Zeit." Universität Oslo, am 11. Dezember 1971 anlässlich der Verleihung des Friedensnobelpreises. (Link)

Twitter
Google
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Dank:
Ich danke Tobias Blanken für den Hinweis auf Ludwig von Mises (Link) und den Kolleginnen und Kollegen vom Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung für die Nachweise des Zitats in den Schriften Willy Brandts (Link).

Sonntag, 10. September 2017

"Es gibt drei Arten von Lügen: Lügen, verdammte Lügen und Statistiken." Benjamin Disraeli (angeblich)

Wir wissen nicht, wer diesen Spruch, den heutzutage fast jeder kennt, geprägt hat (eventuell Sir Charles Wentworth Dilke), wir wissen allerdings, dass er dem britischen Premierminister Benjamin Disraeli nur unterschoben wurde, auch von Mark Twain, dem heute der Spruch selbst oft fälschlich zugeschrieben wird. Mark Twain zitiert ihn in seiner Autobiographie, er hat ihn aber nicht geprägt.


Pseudo-Mark-Twain-Zitat.

Im Department of Mathematics der University of York (Link) ist man der Sache am gründlichsten nachgegangen und die meisten der folgenden Zitate sind mit Links und Quellennachweisen in ihrer  Studie "Lies, Damned Lies and Statistics" verzeichnet.

Es ist sicher etwas übertrieben, die Evolution dieses Statistik-Spruchs bei Thomas von Aquin und Augustinus, die drei Arten von Lügen unterschieden (sunt tria genera mendaciorum), beginnen zu lassen:


1266
  • "Auf der anderen Seite sagt Augustin (l. c. 14.): „Drei Arten Lügen giebt es: Die einen geschehen für den Vorteil und den Nutzen des betreffenden; die anderen geschehen aus Scherz; die dritte Art Lügen vollzieht sich aus Bosheit, um zu schaden."
    "Sed contra est quod super illud Psalm., perdes omnes qui loquuntur mendacium, dicit Glossa quod sunt tria genera mendaciorum. Quaedam enim sunt pro salute et commodo alicuius; est etiam aliud genus mendacii, quod fit ioco; tertium vero mendacii genus est quod fit ex malignitate. Primum autem horum dicitur officiosum; secundum, iocosum; tertium, perniciosum. Ergo mendacium in tria praedicta dividitur."
    Thomas von Aquin: Summa theologica, Quaestio 110, Articulus 2, 1265-1273 (Link)

1845
  • "Der heilige Thomas von Aquin unterscheidet drei Arten von Lügen: die Dienstlüge, die Scherzlüge und die schädliche Lüge." (Link)
1859
  • "Es giebt drei Arten von Lügen: Lügen durch Reden; Lügen durch Verschweigen; und Lügen durch Verstellung; indem Jedes uns etwas zu glauben bestimmt, was wir nicht sollen." (Link)
1885
  • "Talked politics, scandal, and the three classes of witnesses—liars, d—d liars, and experts."
  • "Bag is bad, but fibs are worse; and a mixture of brags and fibs is worst of all; and this is what we find in the Liberationist statistics". 
1886
  • "Whereupon counsel on the other side was heard to explain to his client that there were three sorts of liars, the common or garden liar ... the damnable liar who is fortunately rather a rara avis in decent society, and lastly the expert, ...".
1891
  • "false statements might be arranged according to their degree under three heads, fibs, lies, and statistics".
    Sir Charles Wentworth Dilke 
  • "It has been wittily remarked that there are three kinds of falsehood: the first is a ‘fib,’ the second is a downright lie, and the third and most aggravated is statistics."
1892
  •  "... Balfour, der Erste Lord des Schatzamtes, erklärte neulich in einer Rede zu Manchester, es gebe drei Arten von Lügen, nämlich erstens einfache Lügen, zweitens verfluchte Lügen und drittens — die Statistik."
    Neue Freie Presse (Link)
  • "The statements were to the effect that there are three classes of unreliable witnesses, and they were respectively classified as the liar, the blanked liar and the medical expert. " 
  •  "the liar simple, the d–d liar and the expert witness."
  • "As to the three orders of untruth, a fib, a lie, and statistics".
  • "There are lies, there are outrageous lies, and there are statistics."
1895
  • "Columns of figures are hurled about in the papers, and demonstrate the justice of the witty claim that there are three kinds of untruth : fibs, lies, and statistics."
  • "We all know, again, the famous degrees of comparison recently quoted by an eminent statesman: lies, d—d lies, and statistics."
  • "I think Lord Beaconsfield said that there were three degrees of veracity—viz., lies, d—d lies, and statistics."
  • "the proverbial kinds of falsehoods, 'lies, damned lies and statistics'".
1896
  • "a recent president of Harvard" was saying that "There are three kinds of lies—lies, damned lies and statistics."
 1904
  • ".. the remark attributed to Disraeli would often apply with justice and force: 'There are three kinds of lies: lies, damned lies, and statistics.'" 
    Mark Twain, Autobiography (Link)

1911  
  • Es seien dann "... alkoholfeindliche Statistiken zu Tage gefördert worden und da ist denn auch das hübsche Wort des alten Lord Beaconsfield aufgeflattert, demzufolge es drei Arten von Lügen gebe: Lügen, verdammte Lügen und Statistiken". (Link)

1921
  • "There are three degrees or classes of lies; there are lies, damned lies and statistics."
1926
  • "Wie es für den geistreichen Spötter Antoine Rivarol drei Arten von Lügen gibt, nämlich die Behauptung, die Auslassung und die Statistik, so gibt es für mich als Statistiker drei Arten von Menschen: solche, die die Statistik brauchen, andere, die sie missbrauchen, und dritte, die über sie schimpfen." (Link)

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Quellen:
"Lies, Damned Lies and Statistics" , Department of Mathematics der University of York, 2012 (Link)
Wikipedia: "Lies, damned lies, and statistics"
Thomas von Aquin: "Summa theologica", Quaestio 110, Articulus 2, 1265-1273 (Link) 

(Artikel in Arbeit.)

"Nothing to hide." "Wer nichts zu verbergen hat, braucht nichts zu befürchten." Joseph Goebbels (angeblich)

Der Spruch: "If you have nothing to hide you have nothing to fear", der bei Diskussionen über den Ausbau des Überwachungsstaats in den letzten Jahren oft zititert wird, wird in der englischsprachigen Welt manchmal fälschlich Joseph Goebbels zugeschrieben.

  • "Wenn Sie nichts zu verbergen haben, dann haben Sie nichts zu befürchten."
  • "Wer nichts zu verbergen hat, braucht nichts zu befürchten." 
  • "If you have nothing to hide you have nothing to fear.”
  • "You have nothing to fear if you have nothing to hide."
Da der problematische Slogan niemals mit einer genauen Quellenangabe zitiert wird und von kompetenten Leuten in keiner Schrift oder Rede von Goebbels so zu finden war, kann man sich inzwischen sicher sein, dass er Goebbels fälschlich zugeschrieben wird.

Wer den Spruch in diesem kurzen Wortlaut vor kaum 20 Jahren geprägt hat, wissen wir nicht. Varianten findet man sowohl auf Englisch als auch auf Deutsch seit dem 19. Jahrhundert.
Zum Beispiel: Wer nichts zu verbergen hat, braucht die Beobachtung ..., die Beichte ..., die Aufsicht der ungarischen Regierung ... oder die Kontrolle der Sozialdemokratie nicht zu fürchten.

In der immer noch lesenswerten Analyse des korrupten Pressemilieus, in "The Brass Check. A Study of American Journalism" (1919), kommt auch der sozialistische Autor Upton Sinclair dem Wortlaut des Spruchs nahe.


 1825
  • "Wer nichts zu verbergen hat, scheut die Beobachtung nicht; und wer den Beobachter scheut, wird machen, daß er nichts mehr zu verbergen habe."
    Anselm Feuerbach
    ,
    "Betrachtungen über die Oeffentlichkeit und Mündlichkeit der Gerechtigkeitspflege."

1832

  • "We must have nothing to hide, nothing to fear."
    "Sermons on the spiritual comfort and assurance attainable by obedience ..." (Link)
 
1883
  • "wer nichts zu ver­heimlichen habe, brauche auch die Aufsicht der ungarischen Regierung nicht zu fürchten."  

1889
  • "Wer nichts zu verheimlichen hat, braucht eine Beichte nicht zu fürchten.“ (Google)
 1903
  • "Until you make your life so honorable and open that you have nothing to fear, that no disclosure will cause you to tremble, until you have made your life so clean that you have nothing to hide ..."
    The Character Builder (Link)

1910
  • "Wer nichts zu verbergen hat, braucht die Kontrolle der Sozialdemokratie nicht zu scheuen."
    In dem Zeitungsartikel fordern Sozialdemokraten Kontrollen der Gemeindegelder. (Link)

1919
  • „From first to last I had nothing to hide, and for that reason I had nothing to fear, and this was as well known to the newspapers as it was to the police who were probing the explosion.“
  • „Vom Anfang bis zum Ende hatte ich nichts zu verbergen, und deswegen hatte ich nichts zu befürchten, und dies war den Zeitungen genauso gut bekannt wie der Polizei, die die Explosion untersuchte.“
    Upton Sinclair: "The Brass Check. A Study of American Journalism." Published by the author. Pasadena: 1919 (Google books)


1933
  • "I have nothing to hide and nothing to colour, for this young Germany has no reason to fear the judgment of the world."
    Joseph Goebbels: Englische Übersetzung seiner Genfer Rede vom 28. September 1933 (Link) 
Jospeh Goebbels versichert im September 1933 in Genf, er habe nichts zu verbergen und das junge Deutschland habe keinerlei Grund, das Urteil der Welt zu fürchten, das autoritäre Regime Deutschlands sei eine höhere Form von Demokratie und Hitler wünsche den Frieden, weil er miterlebt habe, was Krieg bedeute.
Der Spin, die Lügen von Joseph Goebbels wurden von der internationalen Presse nicht gut aufgenommen, aber vielleicht blieb sein "nothing to hide" bei einigen Journalisten hängen.
 

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Quellen:
Ralf Bülow: " 'Missing Link': Der Erste, der nichts zu verbergen hatte." heise online, 13. August 2017 (Link)
Anselm Feuerbach: "Betrachtungen über die Oeffentlichkeit und Mündlichkeit der Gerechtigkeitspflege." Zweiter Band, Georg Friedrich Heyer, Giessen: 1825, S. 139 (Link)
Upton Sinclair: "The Brass Check. A Study of American Journalism." Published by the author. Pasadena: 1919 (pdf) (Link)
Anno
Wikipedia: "Nichts-zu-verbergen-Argument"
Wikipedia: "Nothing to hide argumen"

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Dank:
Ich danke Ralf Bülow für Hinweise und für seinen aufschlußreichen Artikel zu diesem Spruch (Link).

"Statistisches Denken wird eines Tages für mündige Staatsbürger ebenso wichtig sein, wie die Fähigkeit zu lesen oder zu schreiben." H.G. Wells (angeblich)

Dieses Zitat, das seit 1950 tausende Male H.G. Wells zugeschrieben wurde, konnte jahrzehntelang in keiner Schrift von H.G. Wells gefunden werden.

Erst vor ein paar Jahren hat ein britischer Bibliothekar den Psychologen und Autor Gerd Gigerenzer darauf aufmerksam gemacht, dass in einem 1938 erschienen Buch von H.G. Wells wenigstens ein ähnlicher Satz zu finden ist (Link):

  • "A certain elementary training in statistical method is becoming as necessary for anyone living in this world of today as reading and writing."
    H. G. Wells:
    "World Brain", 1938 (Link)
  • "Eine gewisse Grundunterweisung in der statistischen Methode ist für jeden, der in unserer heutigen Welt lebt, so unabdingbar wie Lesen und Schreiben."
    H. G. Wells, 1938
Der Statistiker Samuel S. Wilks hatte am 28. Dezember 1950 (Link) bei einer Rede für die American Statistical Association diesen Satz in folgendem Wortlaut in Erinnerung: 
  •  "Perhaps H.G. Wells was right when he said 'Statistical thinking will one day be as necessary for efficient citizenship as the ability to read and write.'"

     Und in dieser Version wurde das H.G.-Wells-Zitat seitdem zu einem Lieblingszitat aller Statistiker.

Varianten des entstellten Zitats auf Deutsch:

 

  • "Statistisches Denken wird eines Tages für mündige Staatsbürger ebenso wichtig sein, wie die Fähigkeit zu lesen oder zu schreiben."
  • "Statistisches Denken wird eines Tages genauso wichtig sein für eine aufgeklärte Gesellschaft wie die Fähigkeit zu lesen und zu schreiben". 
  • "Statistisches Denken wird eines Tages für ein fähiges Bürgertum ebenso notwendig sein, wie die Beherrschung des Lesens und Schreibens.
  • "Wolle man mündige Bürger, so müsse man diesen Lesen, Schreiben und statistisches Denken beibringen, sagte einmal Herbert G. Wells, der Autor der "Zeitmaschine". (Link)
Das Zitat ist zwar entstellt, aber anders als bei vielen anderen entstellten Zitaten verfälscht es nicht den Gedanken des Autors.

Three false quotes.


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Quellen:
H.G. Wells: "World Brain." Methuen u. Co., London: 1938 Project Gutenberg
W. Tankard Jr.: "The H.G. Wells quote on statistics: A question of accuracy". Historia Mathematica, The University of Texas, Austin: 1979 (Link)  (Diese verdienstvolle Studie ist nicht mehr aktuell, da der Autor das ursprüngliche Zitat von H.G. Wells nicht gefunden hat.)
Gerd Gigerenzer: "Risiko: Wie man die richtigen Entscheidungen trifft." C. Bertelsmann, München: 2013 ebook (Link)
Darrell Huff: "How to Lie with Statistics."W. W. Norton & Company, New York: 1954
Quora:  "What is the source of the H.G. Wells quote, "Statistical thinking will one day be as necessary for efficient citizenship as the ability to read and write"? 2012 (Nicht mehr aktuell.)
 Google
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Zitate:
"A certain elementary training in statistical method is becoming as necessary for anyone living in this world of today as reading and writing. I am asking for this much contemporary history as the crowning phase, the graduation phase of our knowledge-giving. After that much foundation, the informative side of education may well be left to look after itself."
H.G. Wells: World Brain, 1938, Project Gutenberg

"The great body of physical science, a great deal of the essential fact of financial science, and endless social and political problems are only accessible and only thinkable to those who have had a sound training in mathematical analysis, and the time may not be very remote when it will be understood that for complete initiation as an efficient citizen of one of the new great complex world-wide states that are now developing, it is as necessary to be able to compute, to think in averages and maxima and minima, as it is now to be able to read and write. This development of mathematical teaching is only another aspect of the necessity that is bringing the teaching of drawing into schools, the necessity that is so widely, if not always very intelligently perceived, of clearheadedness about quantity, relative quantity, and form, that our highly mechanical, widely extended, and still rapidly extending environments involve.
Arithmetic and geometry were taught in the mediaeval school as sciences, in addition the quadrivium involved the science of astronomy, and now that the necessary fertilizing inundation of our general education by the classical languages and their literatures subsides, science of a new sort reappears in our schools. I must confess that a lot of the science teaching that appears in schools nowadays impresses me as being a very undesirable encumbrance of the curriculum. The schoolman’s science came after the training in language and expression, late in the educational scheme, and it aimed, it pretended—whatever its final effect was—to strengthen and enlarge the mind by a noble and spacious sort of knowledge. "
H.G. Wells: Mankind in the Making, 1903 Project Gutenberg