Donnerstag, 16. September 2021

"Unsere größten Ängste sind die Drachen, die unsere tiefsten Schätze bewahren." Rainer Maria Rilke (angeblich)

Pseudo-Rainer-Maria-Rilke-Zitat.

Dieses Zitat wurde dem 1926 verstorbenen Dichter Rainer Maria Rilke erstmals 1992 auf Englisch in dem Weltbestseller "The Tibetan book of living and dying " von dem tibetischen Lama Sogyal Rinpoche zugeschrieben, in Rilkes Schriften kommt das Zitat allerdings nicht vor.

1992

  • "The Western poet Rainer Maria Rilke has said that our deepest fears are like dragons guarding our deepest treasure."
    Sogyal Rinpoche: "The Tibetan book of living and dying " 1992, S. 39 (Link)
Pseudo-Rainer-Maria-Rilke-Zitat.
 

Als Beleg für dieses Zitat wurde die Seite 92 von Stephen Mitchells Übersetzung von Rainer Maria Rilkes "Letters to a Young Poet" (1986) angegeben.

Doch auf dieser Seite des Briefs Rilkes an den jungen Dichter Franz Xaver Kappus kommen zwar Drachen vor, aber nicht dieses Zitat:

Rainer Maria Rilke: Briefe an einen jungen Dichter

  • "How could we forget those ancient myths that stand at the beginning of all races, the myths about dragons that at the last moment are transformed into princesses? Perhaps all the dragons in our lives are princesses who are only waiting to see us act, just once, with beauty and courage.
    Rainer Maria Rilke: "Letters to a Young Poet", translated and with a foreword by Stephen Mitchell, 1986,  S. 92 (Link)

 

  • "Wie sollten wir jener alten Mythen vergessen können, die am Anfange aller Völker stehen; der Mythen von den Drachen, die sich im äußersten Augenblick in Prinzessinnen verwandeln; vielleicht sind alle Drachen unseres Lebens Prinzessinnen, die nur darauf warten, uns einmal schön und mutig zu sehen. Vielleicht ist alles Schreckliche im tiefsten Grunde das Hilflose, das von uns Hilfe will. "
    Rainer Maria Rilke: "Briefe an einen jungen Dichter" 1932, S. 48 (Link)


Thomas Geist und Karin Behrendt haben in ihrer deutschen Übersetzung des 'Tibetan book of living and dying' die Fußnote weggelassen und geschrieben, Rilke habe "sinngemäß gesagt", Ängste seien wie Drachen etc.:

  •  "Der Dichter Rainer Maria Rilke hat sinngemäß gesagt, dass unsere tiefsten Ängste wie Drachen sind, die unsere größten Schätze bewachen."
    Sogyal Rinpoche:  "Das tibetische Buch vom Leben und Sterben. Ein Schlüssel zum tieferen Verständnis von  Leben und Tod."  2011 (Link)

In der englischen Fassung des 'Tibetischen Buchs vom Leben und Sterben', das von den Herausgebern Gaffney und Harvey aus vielen Tonbandaufnahmen von Vorträgen des tibetischen Lamas zusammengestellt wurde, wird auch in späteren Ausgaben auf Rilkes "Briefe an einen jungen Dichter" verwiesen.  

Zwei Jahre  nach der Erstveröffentlichung von Sogyal Rinpoches Sterbebegleitungsbuch findet man Rinpoches angebliches Rilke-Zitat schon ohne Hinweis auf den Autor Rinpoche mit Anführungszeichen Rilke untergeschoben, und im 21. Jahrhundert ist das angebliche Rilke-Zitat schon in vielen Sprachen der Welt verbreitet.

 

Varianten des angeblichen Rilke-Zitats:


  • "Our deepest fears are like dragons guarding our deepest treasure."
  • "Nos peurs les plus profondes sont comme des dragons gardant notre trésor le plus secret."
  • "Nuestros miedos más profundos son como dragones que guardan nuestro más profundo tesoro."
  • "Unsere größten Ängste sind die Drachen, die unsere tiefsten Schätze bewahren."

 

Das angebliche Rilke-Zitat stammt also von dem problematischen buddhistischen Lehrer Sogyal Rinpoche, der in seinem Buch nicht deutlich gemacht hat, dass er von Rilkes Metapher, "vielleicht sind alle Drachen unseres Lebens Prinzessinnen",  dazu nur angeregt wurde.

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Quellen:

Sogyal Rinpoche: "The Tibetan book of living and dying " Herausgegeben von Patrick Gaffney und Andrew Harvey. HarperCollins, San Francisco: 1992,  S. 39; 394 (Link) 
Sogyal Rinpoche:  "Das tibetische Buch vom Leben und Sterben. Ein Schlüssel zum tieferen Verständnis von  Leben und Tod."  Mit einem Vorwort des Dalai Lama. Übersetzung: Thomas Geist und Karin Behrendt. ebook nach der Ausgabe von Knaur: 2011 (Link) [Frühere Ausgaben habe ich noch nicht durchsucht.]
Brief von Rainer Maria Rilke an Franz Xaver Kappus, 12. August 1904, in: Rainer Maria Rilke: "Briefe an einen jungen Dichter", Insel Verlag, Leipzig: (1929) 1932, S. 48 (Link)
Rainer Maria Rilke: "Letters to a Young Poet", translated and with a foreword by Stephen Mitchell (1984), Vintage Books, New York: 1986,  S. 92 (Link)
Caitlin Matthews: "Singing the Soul Back Home: Shamanism in Daily Life" Element Books Limited, GB: 1995, S. 20 (Link)
Dawna Markova: "No Enemies Within: a creative process for discovering what's right about what's wrong." Conari Press, Berkeley: 1994, S. 250 (Link)
 
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Dank:

Ich danke Ruşen Timur Aksak für die Frage nach diesem Zitat.

 

Artikel in Arbeit.


Montag, 9. August 2021

"Die Freiheit des Einzelnen endet dort, wo die Freiheit des Anderen beginnt." Immanuel Kant (angeblich)


Pseudo-Immanuel-Kant-Zitat  (facebook.com).

Dieses seit Beginn der Corona-Pandemie besonders beliebte  Pseudo-Kant-Zitat wurde dem Philosophen Immanuel Kant, der 1804 in Königsberg gestorben ist, erst über 100 Jahre nach seinem Tod erstmals untergeschoben und ist in seinen Schriften in diesem Wortlaut so wenig zu finden wie in Texten Rosa Luxemburgs, der das Zitat auch manchmal fälschlich zugeschrieben wird.

Die Grenzen der Freiheit wurden in der französischen "Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte" am 26. August 1789 im Artikel 4 mit dem berühmten Satz 

formuliert.

Immanuel Kant brachte im Jahr 1793 die Grenzen der rechtlichen Freiheit einer Person in einem aufgeklärten Rechtsstaat auf folgende Formel:

Immanuel Kant, 1793:

  •  "Niemand kann mich zwingen auf seine Art (wie er sich das Wohlsein anderer Menschen denkt) glücklich zu sein, sondern ein jeder darf seine Glückseligkeit auf dem Wege suchen, welcher ihm selbst gut dünkt, wenn er nur der Freiheit Anderer, einem ähnlichen Zwecke nachzustreben, die mit der Freiheit von jedermann nach einem möglichen allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann, (d.i. diesem Rechte des Andern) nicht Abbruch tut."

    Immanuel Kant: "Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis", 1793, AA VIII,  S. 290 (Link)

Immanuel Kant, 1797:

  • "Das Recht ist also der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des andern nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann."

    Immanuel Kant: "Die Metaphysik der Sitten" 1797, AA VI, S. 230 (Link)

 

 

Entwicklung des Zitats:


Im 19. Jahrhundert entstanden auf Deutsch und Englisch - ohne die Erwähnung Immanuel Kants oder der "Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte" - Varianten des Zitats, die dem späteren Pseudo-Kant-Zitat schon sehr ähnlich sind.

1848

  • "Aber wo die Freiheit des Anderen beginnt, hört die Freiheit des Einen nothwendig auf, für Personen und Sachen."
    Archiv-Director Dr. Friedemann, Neueste Weltkunde, 3. Band, H.L. Brönner, Frankfurt am Main: 1848, S. 294 (Link)

Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts gilt das Zitat als rechtstheoretischer Grundsatz:

1896

  • "was die Theorie des Rechts hinsichtlich des Rechtes der einzelnen Persönlichkeit als Grundsatz aufstellt, daß nämlich die Grenze der Freiheit einer Person da liegt, wo die Freiheit (oder sagen wir einfach der Wirkungsbereich ) einer anderen beginnt." (books.google)

 1897
  • "If corporations respected the principle that 'Each person's liberty ends where the liberty of another person commences,'  there would be no need for interference in their affairs by the State ". (Link)

Jahrzehnte bevor das Zitat das erste Mal auf Deutsch Immanuel Kant zugeschrieben wurde, wurde es auf Französisch als Kants berühmter Satz ("la phrase fameuse") bezeichnet.

1911

  • "Nous trouvons là une nouvelle expression de la phrase fameuse de Kant: La liberté des uns s'arrête là où commence celle des autres.(Link)

Auf Deutsch wurde dieser Satz öfters auch fälschlich Rosa Luxemburg untergeschoben, vielleicht aus einer Fehlerinnerung an ihr berühmtes Wort von der Freiheit, die immer die Freiheit der Andersdenkenden sein solle.

1973

  • ".. täglich darauf zu achten haben, daß frei nach Rosa Luxemburg die eigene Freiheit dort ihre Grenzen hat, wo die Freiheit des anderen beginnt ." (Link)
Auch Jean-Jacques Rousseau wurde schon fälschlich als Urheber des Satzes bezeichnet.

1989
  • "bearing in mind Rousseau’s remark that, 'my liberty ends where the liberty of my neighbour begins’". (archive.org)
2001
  • "'Die Freiheit des Einzelnen hört da auf, wo die Freiheit des Anderen beginnt' , hat Rosa Luxemburg populär formuliert ." (Link)

2004

  • "Die Freiheit des Einzelnen endet dort, wo die Freiheit des anderen beginnt, sagte Rosa Luxemburg ." (Link)
2018

  • "Nicht alles, was befremdlich ist, gehört verboten. Kant hat gesagt: Die Freiheit des Einzelnen endet dort, wo die Freiheit des anderen beginnt. - Auch die Vollverschleierung muss in einer offenen Gesellschaft möglich sein. "
     Katrin Helling-Plahr (FDP), Bundestag, Plenarprotokoll 19/14 vom 22.02.2018, S. 1115 (Link) 
2020 Twitter:



2021

  • "Der oft zitierte Satz 'Die Freiheit des Einzelnen endet dort, wo die Freiheit des anderen beginnt' wird meist Immanuel Kant zugeschrieben. Aber so simpel hat der Weise aus Königsberg nie formuliert. Und diese Binsenweisheit gibt auch keine Antwort auf die Frage, wo die Freiheit des anderen beginnt." (derstandard.at)

 

 


 

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Quellen:

Immanuel Kant: "Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis", 1793,  in: "Kant’s Gesammelte Schriften",  Akademieausgabe, Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften, Reimer, ab 1922 de Gruyter, Berlin: 1900ff.  Elektronische Edition: Universität Duisburg AA VIII, S. 290 (Link)
Immanuel Kant: "Die Metaphysik der Sitten", 1797, AA VI, S. 230 (Link) 
Archiv-Director Dr. Friedemann, Neueste Weltkunde, 3. Band, H.L. Brönner, Frankfurt am Main: 1848, S. 294 (Link)
Karl Mavrikievich Voĭde: "Die Ursachen der Siege und Niederlagen im Kriege 1870: Versuch einer kritischen Darstellung des deutsch-französischen Krieges bis zur Schlacht bei Sedan", Band 2, Mittler und Sohn, Berlin: 1896, S. 388 (books.google)
Eric Frey: "Sind unsere Freiheiten in Gefahr?" Der Standard, 23. Jänner 2021 (derstandard.at)
gutefrage.net "von wem stammt das zitat: Meine Freiheit endet dort wo die Freiheit des anderen beginnt", 2011 [Mit einigen anderen Zitaten aus Kants Schriften.]
Garson O'Toole: "Your Liberty To Swing Your Fist Ends Just Where My Nose Begins Oliver Wendell Holmes, Jr.? John B. FinchQuellen:? John Stuart Mill? Abraham Lincoln? Zechariah Chafee, Jr.?" 2011 (quoteinvestigator)


Artikel in Arbeit. Viele Funde - wie zum Beispiel ein Victor-Hugo-Zitat (anno) - sind hier noch nicht bearbeitet.
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Dank:
Ich danke dem Berliner Philosophen Michael Oberst für den Hinweis auf das falsche Kant-Zitat sowie für seine Bestätigung, dass es in diesem Wortlaut in Kants Schriften nicht zu finden ist. Dank auch an semper-see.
 
 
 
Letzte Änderung: 18/11 2021 (Zusätzliches Kant-Zitat)

Mittwoch, 4. August 2021

"Die Toleranz wird ein solches Niveau erreichen, dass intelligenten Menschen das Denken verboten wird, um Idioten nicht zu beleidigen." Dostojewski (angeblich)

 

Pseudo-Dostojewski-Zitat, 11. Juli 2021 (facebook).

Dieses Zitat wird seit Ende Juni 2021 in vielen Sprachen dem 1881 verstorbenen russischen Schriftsteller Fjodor Michailowitsch Dostojewski  untergeschoben.

So wie alle populären Zitate, die über 100 Jahre nach dem Tod eines Autors plötzlich ohne Quellengabe in den Sozialen Medien auftauchen, ist auch dieses Kuckuckszitat in den Schriften seines angeblichen Autors nicht zu finden. 

Ich kann da die Recherchen von Sarah Thompson von der Factchecker-Seite "LeadStories" nur bestätigen.

Erstaunlich bei diesem Falschzitat ist, wie schnell es sich gleichzeitig auf Französisch, Italienisch, Englisch, Spanisch und Deutsch auf Facebook, Twitter und Instagram verbreitet hat.

Entstanden ist das Zitat wahrscheinlich im August 2019 in Russland und wurde jahrelang keinem berühmten Autor zugeschrieben.

Witze, dass bald das Denken verboten wird, um Dummköpfe nicht zu kränken, gab es in Russland schon  länger.

Ein Beispiel auf Twitter:

2016
  • "Скоро нам запретят думать, потому что это оскорбляет чувства тупых." (Bald wird uns das Denken verboten, weil es die Gefühle der Dummen beleidigt.) 3:55 vorm. · 17. Nov. 2016

Der Wortlaut des Zitats scheint im August 2019 auf Russisch ohne falsche Zuschreibung entstanden zu sein und wurde bald als Meme mit Fotos eines Schauspielers aus dem russischen TV- Film "Hundeherz" verbreitet. 

2019, 30. August, Twitter:

  • "Скоро толерантность дойдет до того,что умным запретят думать,потому что это оскорбляет чувства тупых!!" (Bald wird die Toleranz den Punkt erreichen, dass dem Klugen das Denken verboten wird, weil es die Gefühle der Dummen beleidigt !!) 5:16 nachm. · 30. Aug. 2019  (Twitter)

 Michail Bulgakows 1925 geschrieben satirische Erzählung "Hundeherz" konnte in der Sowjetunion erst 1987, ein Jahr vor seiner erfolgreichen Verfilmung, publiziert werden. 

Wie Sarah Thompson herausgefunden hat, kommt das Zitat in diesem Film allerdings nicht vor.

Bis Ende Juni 2021 wird der Satz in den Sozialen Medien auch auf Englisch und Deutsch manchmal zitiert, aber noch nicht Dostojewski zugeschrieben.

2020, 17. Oktober  Twitter:

  • "Soon tolerance will reach such a level that the halfway intelligent will be forbidden to thin k. Because it will offend the feelings of the fools. And that in both directions .. seriously". 1:09 nachm. · 17. Okt. 2020 (Twitter)

2021, 13. Mai, Twitter:

  • "It seems that tolerance will soon reach such a level that the smart will be forbidden to think, so that they do not offend the feelings of the stupid." 11:12 nachm. · 13. Mai 2021 (Twitter)
Das Zitat ist besonders in einem Milieu beliebt, in dem gegen  LGTBQ-Rechte polemisiert  wird.

2021, 20. Juni, Twitter:

Twitter, 20. Juni 2021
In der letzten Juni-Woche 2021 wurde das Zitat ohne erkenntlichen Grund plötzlich auf Französisch, Spanisch, Italienisch  und Englisch Dostojewski zugeschrieben, bald darauf auch auch auf Deutsch (facebook).

Wer wirklich mit der falschen Zuschreibung auf welcher Plattform begonnen hat, kann ich noch nicht mit Sicherheit sagen. 

Auf Twitter begann die falsche Zuschreibung an Dostojewski am 25. Juni 2021 auf Französisch.

2021, Twitter:

  • "« La tolérance atteindra un tel niveau que les personnes intelligentes seront interdites de toute réflexion afin de pas offenser les imbéciles. » Fiodor Mikhaïlovitch Dostoïevski" 11:22 nachm. · 25. Juni 2021 (Twitter)

Pseudo-Dostojewski-Zitat lesobservateurs.ch.


Und am 27. Juni 2021 taucht bei einer chronlogischen Twitter-Suche die erste falsche Zuschreibung des Zitats auf  Englisch  auf, einen Tag nach den Zuschreibungen auf Italienisch und Spanisch.

Pseudo-Dostojewski-Zitat.


Pseudo-Dostojewski-Zitat.


Pseudo-Dostojewski-Zitat.


leadstories.com 2. August 2021.

Artikel in Arbeit.

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Quellen:

Twitter

Sarah Thompson: " Fact Check: There Is NO Evidence To Attribute Quote About Tolerance To Dostoevsky", 2. August 2021, LeadStories (Link)

Reddit


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Dank:
Ich danke Johannes Schneider für den Hinweis auf dieses Kuckuckszitat, Ralf Bülow für seine Recherchen und den Hinweis auf den Artikel von Sarah Thompson, sowie Sarah Thompson für ihren aufschlußreichen Artikel.








Sonntag, 1. August 2021

"Ich erkenne kein anderes Zeichen der Überlegenheit als die Güte." Ludwig van Beethoven oder Leo Tolstoi (angeblich)


Entstelltes-Ludwig-van-Beethoven-Zitat.

Dieses Zitat wurde Ludwig van Beethoven erstmals im Jahr 1903 auf Französich untergeschoben und ist in seinen Texten so wenig zu finden wie in Texten Leo Tolstois, dem das Zitat seit dem Jahr 1920  fälschlich zugeschrieben wird.


Romain Rolland: "Vie de Beethoven", 1903:

  •  "« Je ne reconnais pas d'autres signes de supériorité que la bonté », écrit-il le 17 juillet 1812"

    Romain Rolland: "Vie de Beethoven." Hachette et Ci., Paris: (1903) 1914, S. 38 (Link)

Der von Stefan Zweig verehrte Romain Rolland, der französische Biograph Beethovens, nannte als Quelle für sein angebliches Beethoven-Zitat (deutsch:  "Ich erkenne kein anderes Zeichen der Überlegenheit an als die Güte" ) einen Brief Beethovens vom 17. Juli 1812.  

Aber das Zitat kommt hier so wenig wie in einem anderen Brief Beethovens vor.

Ludwig van Beethoven antwortete in diesem Brief vom 17. Juli 1812 einer etwa 10-jährigen Hamburger Klavierspielerin, die ihm aus Verehrung ein kleines Geschenk mit einem Brief gesandt hatte:


Ludwig van Beethoven an Emilie M. ,17. Juli 1812:

  •  "Sollte ich einst nach H. kommen, so komme ich zu Dir, zu den Deinen. Ich kenne keine andern Vorzüge des Menschen als diejenigen, welche ihn zu den bessern Menschen zählen machen; wo ich diese finde, dort ist meine Heimath. [...] Betrachte mich als Deinen und Freund Deiner Familie."
    Alexander Wheelock Thayer: Ludwig van Beethoven's Leben. Dritter Band. Verlag W. Weber, Berlin: 1879, S. 205 (Link)


Die deutsche Übersetzerin von Romain Rollands Beethoven-Biographie zitierte korrekt aus diesem Brief, die englische Übersetzerin übersetzte nur das von Romain Rolland geprägte verkürzte und entstellte  Zitat:

1918

  •  "'Ich kenne keine andern Vorzüge des Menschen als diejenigen, welche ihn zu den bessern Menschen zählen machen', schreibt er am 17. Juli 1812."

    Romain Rolland: "Ludwig van Beethoven." Deutsch von Lisbeth Langnese-Hug,  Rascher, Zürich: 1918, S. 45 (Link)
1919

  • "Beethoven wrote, 'I recognise no sign of superiority in mankind other than goodness.'"
    Romain Rolland: "Beethoven." Englisch von B. Constance Hull, H. Holt and Company, New York: 1919, S. VI  (Link)


Im Jahr 1919 ordnete der Romanist Ernst Robert Curtius den Satz "Ich erkenne kein anderes Zeichen der Überlegenheit an als die Güte"  korrekter Weise einem "der Größten" (Romain Rolland) der neuen französischen Literatur zu, ein Jahr später schreibt Stefan Zweig, "einer von den Grössten (Tolstoi)" habe gesagt: "Ich erkenne kein anderes Zeichen der Überlegenheit als die Güte."

1919
  • "Wie es einer der Grössten unter ihnen, der, dessen Leben wir hier erzählen, gesagt hat: ,Ich erkenne kein anderes Zeichen der Überlegenheit an als die Güte.‘"

    Ernst Robert Curtius: "Die literarischen Wegbereiter des neuen Frankreich", Gustav Kiepenheuer, Potsdam: [1919], S. 88  (archive.org)

1920

  • "Wie  einer von den Grössten (Tolstoi)  gesagt hat: ,Ich erkenne kein anderes Zeichen der Überlegenheit als die Güte.‘"
    Stefan Zweig: "Romain Rollands 'Beethoven'" Moderne Welt, Heft 9, 1920, S. 9 (anno)

Stefan Zweig hat diesen Satz wahrscheinlich irrtümlich Leo Tolstoi zugeschrieben, aber seit dieser Zeit wird das von Romain Rolland geprägte Zitat in vielen Sprachen irrtümlich manchmal Leo Tolstoi und manchmal Ludwig van Beethoven zugeschrieben.


Undatierte Grußkarte von Elly Ney (Link).

Die deutschsprachige Fassung des Zitats, die zum Beispiel die deutsche Beethoven-Pianistin Elly Ney auf einer Gruß-Karte verbreitet hat, kann nur aus einer Rückübersetzung stammen und ist in den digitalisierten überlieferten Texten Beethovens nicht zu finden.


Artikel in Arbeit.



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Quellen:

Alexander Wheelock Thayer: "Ludwig van Beethoven's Leben." Dritter Band. Verlag W. Weber, Berlin: 1879, S. 205 (Link)
Romain Rolland: "Vie de Beethoven." Hachette et Ci., Paris: (1903) 1914, S. 38 (Link)
Romain Rolland: "Ludwig van Beethoven." Deutsch von Lisbeth Langnese-Hug,  Rascher, Zürich: 1918, S. 45 (Link)
Romain Rolland: "Beethoven." Englisch von B. Constance Hull, H. Holt and Company, New York: 1919, S. VI  (Link)
Ernst Robert Curtius: "Die literarischen Wegbereiter des neuen Frankreich", Gustav Kiepenheuer, Potsdam: [1919], S. 88  (archive.org)

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Dank:

Ich danke Clemens Alder für die Frage nach diesem Zitat sowie Zitante Christa und Ralf Bülow  wieder für ihre sehr hilfreichen Recherchen.












.1920