Samstag, 29. April 2017

"Wenn Wahlen etwas änderten, wären sie längst verboten." Kurt Tucholsky (angeblich)


Pseudo-Kurt-Tucholsky-Zitat.

Dieser demokratieskeptische Slogan wird auch Mark Twain, Emmy Goldman und einigen anderen zugeschrieben. Immer ohne seriöse Quellenangabe.

Pseudo-Mark-Twain-Zitat.

Von Kurt Tucholsky stammt der Slogan sicher nicht (Link), auch wenn er ihm in manchen Online-Zitat-Sammlungen irrtümlich zugeschrieben wird.

Wahrscheinlich hat dieses Zitat in den 1970er Jahren ein unbekannter anarchistischer Graffiti-Artist geprägt. 

1976 wird der Slogan in den digitalisierten Texten erstmals erwähnt, 1988 wird er als "old slogan" bezeichnet und im 21. Jahrhundert berühmten Personen unterschoben: auf Deutsch auch Kurt Tucholsky.

Varianten:

  • "If voting changed anything, it would be made illegal."
  • "If voting changed anything, they'd make it illegal."
  • "If voting changed anything it would be illegal."
  • "If voting made a difference it would be illegal."
  • "If voting made any difference they wouldn't let us do it."
  • "Wenn Wahlen etwas ändern würden, wären sie schon längst verboten."
  • "Würden Wahlen etwas verändern, hätte man sie schon längst verboten.“
  • "Wenn Wahlen etwas änderten, wären sie längst verboten."  

 
Pseudo-Mark-Twain-Zitat.

 

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Quellen:
Snopes: "Election Dissection. A quote concerning the irrelevancy of voting is often incorrectly attributed to American humorist Mark Twain." 24. Mai 2016, Dan Evon
Friedhelm Greis: Sudelblog, Angebliche Tucholsky-Zitate
Peter Hall: "Revolution Rock - The Clash - Fight back!",  Mother Jones Magazine, Vol 7, Nr. 111, April 1982, S. 25
Robert S. Borden: "Voting is Dishonest and Fraudulent", The Sun (Lowell, Massachusetts), 9. September 1976, S. 7
Wikiquote: Emma Goldman
Falsch zugeschrieben zum Beispiel in:
ZITATE-ONLINE.de
 

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Dank:

Ich danke wieder einmal Friedhelm Greis für seine Sammlung von falschen Tucholsky-Zitaten auf seinem auch sonst informativen Sudelblog sowie Dan Evon von der Faktencheckerseite Snopes. 


Letzte Änderungen: 9/11 2022



 

"Der Tod eines Menschen: das ist eine Katastrophe. Hunderttausend Tote: das ist eine Statistik!" Kurt Tucholsky (angeblich)

Pseudo-Stalin quote.

  • "The death of one man is a tragedy, the death of millions a statistic."

Dieses zynische Bonmot, das die Geisteshaltung von Despoten und von manchen Generälen ausdrückt, stammt aus einer Anekdote über einen unbekannten französischen Diplomaten, die Kurt Tucholsky 1925 in seinem Artikel "Französischer Witz" erzählt hat.


Kurt Tucholsky hat diesen Zynismus überliefert, und seitdem wird er fälschlich - ohne den Kontext zu berücksichtigen - ihm selbst und seit 1947 in verschiedenen Versionen auch Joseph Stalin zugeschrieben.


In Stalins Reden, Briefen und Schriften ist dieser Zynismus bisher nicht gefunden worden. Auch eine französische schriftliche Quelle für Kurt Tucholskys Diplomaten-Anekdote wurde bisher nicht entdeckt.

Die Anekdoten, die über Stalin im Zusammenhang mit diesem Zitat erzählt werden, widersprechen einander sowohl im Wortlaut des Zitats als auch im Kontext.

Es ist also bei dieser Quellenlage sehr unsicher, ob er diesen Satz wirklich gesagt hat. Sicher ist, dass Stalin ihn nicht geprägt hat und auch der Stalin-Biograph Stephen Kotkin kann die Authenzität keines dieser  Stalin-Zitate, die es in russischer Sprache gar nicht gibt, bestätigen.

Stalin-Anekdoten


1947 (1933)
  • "In the days when Stalin was Commissar of Munitions, a meeting was held of the highest ranking Commissars, and the principal matter for discussion was the famine then prevalent in the Ukraine. One official arose and made a speech about this tragedy — the tragedy of having millions of people dying of hunger. He began to enumerate death figures … Stalin interrupted him to say: 'If only one man dies of hunger, that is a tragedy. If millions die, that’s only statistics.'"
    Washington Post, 30. Januar 1947  (Quoteinvestigator)
1981/1992 (1943)
  • "Churchill had been arguing that a premature opening of a second front in France would result in an unjustified loss of tens of thousands of Allied soldiers. Stalin responded that 'when one man dies it is a tragedy, when thousands die it's statistics'".
    Anton Antonov-Ovseyenko: "The Time of Stalin" (Link)
2012 (1945)
  • "Mary Soames, the daughter of Winston Churchill, stated that she heard Stalin say this to her father at the Potsdam Conference. Stalin and Churchill were talking when Churchill received a note saying that one of his best friends had died. Churchill began to cry, then said: "Marshall Stalin, I have to apologize because I know it is absurd that the death of one person should make one weep while you on the eastern front have lost so many millions." Stalin replied: "No, I understand, because one death is a tragedy, but a million is just a statistic."
    Simon Sebag Montefiore in talk to Jaipur Literature Festival, 6 June 2012. Youtube (50:30)

Kurt Tucholsky

  • "Es wird von den Schrecknissen des Krieges gesprochen. Darauf sagt ein Diplomat vom Quai d'Orsay: »Der Krieg? Ich kann das nicht so schrecklich finden! Der Tod eines Menschen: das ist eine Katastrophe. Hunderttausend Tote: das ist eine Statistik!« Die Sprache der Diplomaten ist eben die französische, und die Definition des Berufes heißt so: »Ein Diplomat, mein liebes Kind, ist ein Mann, der das Geburtsdatum einer Frau kennt und ihr Alter vergessen hat!«"
    Kurt Tucholsky (Peter Panter): "Französischer Witz", 1925
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Quellen:
Kurt Tucholsky (Peter Panter): "Französischer Witz", Vossische Zeitung, 23. August 1925, in:  Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 4, Rowohlt,  Reinbek bei Hamburg: 1975, S. 189-191. (Link) (vorerst zitiert nach Zeno.org)
Garson O'Toole: "A Single Death is a Tragedy; a Million Deaths is a Statistic - Joseph Stalin? Leonard Lyons? Beilby Porteus? Kurt Tucholsky? Erich Maria Remarque?", 2010, 2015 (LInk)
Simon Sebag Montefiore in talk to Jaipur Literature Festival, 6 June 2012. Youtube (50:30) (Zitiert nach Wikipedia)
1947 January 30, Washington Post, Loose-Leaf Notebook by Leonard Lyons, Quote Page 9, Washington, D.C. (ProQuest) (Zitiert nach Grason O'Toole)
Anton Antonov-Ovseyenko: "The Time of Stalin: Portrait of a Tyranny", Harper Collins Publishers, 1981, S. 278 (Zitiert nach David McCullough: Truman, S. 509)  (Link)
Friedhelm Greis: Sudelblog, Angebliche Tucholsky-Zitate
E-Mail von Stephen Kotkin vom 11. Juni 2018
defence.pk
(Artikel in Arbeit.)

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Dank:
Ich bin Garson O'Toole für seinen aufschlußreichen Artikel dankbar.

"Das Gegenteil von gut ist gut gemeint." Kurt Tucholsky (angeblich)

Pseudo-Kurt-Tucholsky-Zitat.

Dieses inzwischen weit verbreitete Sprichwort ist aus einem längeren Aphorismus Gottfried Benns über das Verhältnis von Kunst und Natur entstanden ("Der Gegensatz von Kunst .... ist  ... gut gemeint"), und wird im 21. Jahrhundert irrtümlich oft Kurt Tucholsky und vielen anderen unterschoben.

Die prägnante Kurzversion: "Das Gegenteil von gut ist gut gemeint", taucht  bei Google Books 1977 erstmals auf und wird anfangs meistens Gottfried Benn zugeschrieben, bald aber auch Bertolt Brecht und Karl Kraus, und im 21. Jahrhundert Kurt Tucholsky (Google Books).


Friedhelm Greis, der Kenner von Tucholskys Werken, hat schon vor Jahren in seinem informativen und unterhaltsamen Sudelblog darauf aufmerksam gemacht, dass dieses Zitat in Kurt Tucholskys Schriften nicht vorkommt.

Auch in den Schriften von Karl Kraus und Bertolt Brecht ist das Zitat weder so noch so ähnlich zu finden.


Entwicklung des Sprichworts:


1958, Gottfried Benn
  • "Es hat sich allmählich herumgesprochen, daß der Gegensatz von Kunst nicht Natur ist, sondern gut gemeint; Stil ist eine bösartige Neubildung, eine letale."
    Gottfried Benn: "Roman des Phänotyp", 1958  (Link);  (Link)
1967
  • "(Vielleicht muß man Heidegger ins Französische übersetzen, um ihn zu verstehen.) Gottfried Benn: 'Das Gegenteil der Kunst ist nicht die Natur; das Gegenteil der Kunst ist — , gut gemeint'.'" (Link)
1974
  • "In der Kunst und in der Politik ist gut gemeint das Gegenteil von gut. Andre Malraux" (Link)
1976
  • "Das Gegenteil von Kunst, sagt Gottfried Benn, ist »gut gemeint« ..." (Link) 
 1977
  • "Das Gegenteil von gut ist gut gemeint". (Link) 
1981
  • "Man würde also in dieser Beilage sicher einmal und recht bald einem der aktuellsten Sätze von Gottfried Benn begegnen: «Das Gegenteil von gut ist gut-gemeint.»"  (Link)
1983
  • "Das Gegenteil von 'gut' heißt nach Karl Kraus in der Politik 'gut gemeint'" .   (Link)
1983
  • "Nach Bert Brecht ist das Gegenteil von 'gut' oft 'gut gemeint'". (Link)
1989
  • "'Das Gegenteil von gut ist nicht schlecht, sondern gut gemeint.' — (weil man nicht zu Ende denkt, HCR). Karl Kraus " (Link)
1990
  • "Aber ein Aphorismus von Karl Kraus lautet: «Das Gegenteil von gut ist gut gemeint." (Link) 
2017
  • "Wie sagte Tucholsky 'Das Gegenteil von gut ist gut gemeint'". (Link)

 

Varianten:

 
  • "Doch gut gemeint ist oft nicht nur das Gegenteil von Kunst, sondern auch ein nur entfernter Verwandter der Wahrheit."
  • "Von Gottfried Benn haben wir jedoch gelernt, dass das Gegenteil von Kunst nicht Natur ist, sondern gut gemeint."  (Link) 
  • "Das Gegenteil von Kunst, sagt Gottfried Benn, ist »gut gemeint«". 
  • "Gut gemeint ist in der Regel das Gegenteil von gut gemacht". 
  • "Das Gegenteil von gut ist nicht böse, sondern gut gemeint."  
  • "Gut gemeint ist meist das Gegenteil von gut."   
  • "Dass „gut gemeint" oft das Gegenteil von „gut" ist - das ist in Österreich ein geflügeltes Wort." 

"Das Gegenteil von gut ist gut gemeint" wurde 1996  zum Titel eines Songs der Hip-Hop-Band Kinderzimmer Productions, mit den Zeilen: "Denn das Gegenteil von gut ist gut gemeint / Habt ihr kapiert!":
Kinderzimmer Productions, 1996:


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Quellen:
Gottfried Benn: „Roman des Phänotyp“. Gesammelte Werke in vier Bänden: Bd. Prosa und Szenen.  Limes Verlag, Wiesbaden: 1958, S. 161f.  Google Books
Wikiquote
german.stackexchange.com/questions 
Friedhelm Greis: Sudelblog, Angebliche Tucholsky-Zitate

Beispiele für falsche Zuschreibungen:
Vereinzelt wird das Sprichwort auch Karl Kraus und Bertolt Brecht , Erich Kästner , Friedrich Torberg unterschoben. 
1974: Markus R. Ronner: "Die Treffende Pointe: humoristisch-satirische Geistesblitze des 20. Jahrhunderts nach Stichwörtern alphabetisch geordnet." Ott Verlag, Thun: 1974, S. 127 (Link)
1983: Horst Bieber: "Guter Wille mit Verspätung", DIE ZEIT 47/1983, 18. November 1983 Karl Kraus 
1996: google.com/search Bertolt Brecht
2002:  books.google Erich Kästner, Karl Kraus

Beispiele für falsche Zuschreibungen an Kurt Tucholsky:
2002:  groups.google (früheste Zuschreibung)
2009: books.google 
2015: /books.google
 2017: Tassilo Wallentin: "Der Bärendienst", Kronen Zeitung (Krone Bunt), 19. März 2017  (Link)



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Dank:
Ich danke Stefan Niederwieser für den Hinweis auf den Song von Kinderzimmer Productions.

Letzte Änderung: 23/8 2018

"Günstig zu verkaufen: Babyschuhe, nie gebraucht." Ernest Hemingway (angeblich)

Diese kürzeste Kurzgeschichte der Welt wird oft Hemingway zugeschrieben, ist aber nicht von ihm, wie Garson O'Toole, der Quote Investigator, herausgefunden hat. Ähnlich traurige Kurzgeschichten werden seit 1906, als Hemingway selber noch ein Kind war, publiziert.
  • "For sale: baby shoes, never worn."


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Quelle:
Geschichte des Zitats: Garson O'Toole, (Quote Investigator): "For Sale, Baby Shoes, Never Worn  Ernest Hemingway? William R. Kane? Roy K. Moulton? Avery Hopwood? Arthur C. Clarke? Anonymous?" 2013

Freitag, 28. April 2017

"Es ist also ausgemacht: Der Geschlechtsverkehr soll in Österreich abgeschafft werden... Zugleich mit der Erhöhung der Postgebühren." Karl Kraus

Henryk M. Broder hat bei diesem Zitat alles richtig gemacht. Broder zitiert also nicht aus Prinzip falsch. Nur sehr oft. In der "Fackel" steht noch die "Telephongebühren" würden gleichzeitig mit der Abschaffung des Geschlechtsverkehrs erhöht, aber Broder zitiert korrekt nach der späteren Buchfassung "Sittlichkeit und Kriminalität": "Postgebühren".
  • "Es ist also ausgemacht: Der Geschlechtsverkehr soll in Österreich abgeschafft werden. Der Buraukretinismus hat — wie sagt man doch — »diese Maßnahme nach genauester Pflegung von Erhebungen ins Auge gefaßt«. Zugleich mit der Erhöhung der Telephongebühren."
    Karl Kraus, "Die Fackel", 1907, Nr. 216, 10 

"Es gibt Thesen, denen man nicht widersprechen kann, ohne sich dumm zu machen." Karl Kraus (angeblich)

Karl Kraus betrachtete unerwünschte Zuschriften als Wortmeldungen von Repräsentanten der Dummheit und widersprach 37 Jahrgänge der 'Fackel' lang gerade auch allerdümmsten Meinungen und Thesen, "ohne sich dumm zu machen".
Um mit der Autorität von Karl Kraus gegen Daniel Goldhagen zu argumentieren, hat  Frank Schirrmacher dieses angebliche Kraus-Zitat verwendet, das weder so noch so ähnlich in der 'Fackel' steht, also ein Falschzitat ist.

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Quelle:
Martin Sabrow, Ralph Jessen, Klaus Grosse Kracht (Hrsg.): "Zeitgeschichte als Streitgeschichte: grosse Kontroversen seit 1945", Becksche Reihe: 2003, ebook (Link)




"Kleine Nationen sind stolz darauf, dass die Schnellzüge an ihnen vorbeifahren müssen." Karl Kraus (angeblich)

Richtig wäre:
  • "Die kleinen Stationen sind sehr stolz darauf, dass die Schnellzüge an ihnen vorbei müssen ."
    Karl Kraus: "Die Fackel", 1911, 317, 32
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Quelle:
Sedlaczek am Mittwoch: "Entlarvt: Der falsche Karl Kraus", Wiener Zeitung

"Reden ist uns ein Bedürfnis, Zuhören ist eine Kunst." Johann Wolfgang von Goethe (angeblich)

Pseudo-Goethe quote.

Dieses Pseudo-Goethe-Zitat wurde vor ein paar Jahren - anscheinend für Call-Center-Manager - erfunden. Bei Google Books taucht das Zitat erstmals 2003 in der Version, "Reden ist ein Bedürfnis, Zuhören eine Kunst", in dem Fachbuch: "Der professionelle Telefonkontakt mit Kunden: was erfolgreiche Mitarbeiter am Telefon besser machen" von Rolf Leicher in dem Kapitel, "Zuhören - mehr erfahren - mehr verkaufen", auf.

Auch in anderen Büchern ist es ab 2003 plötzlich zu finden, aber im Lexikon der Goethe-Zitate und in anderen seriösen Nachschlagwerken sucht man dieses angebliche Goethe-Zitat vergeblich.

Varianten:
  • "Zu reden ist uns ein Bedürfnis, zuzuhören ist eine Kunst."
  • "Reden ist ein Bedürfnis, Zuhören eine Kunst."
  • "Reden ist uns ein Bedürfnis, Zuhören ist eine Kunst." 
  • "Talking is a necessity, listening is an art." 
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Quellen:
Google Books
Lexikon der Goethe-Zitate. Hrsg. von Richard Dobel, Artemis Verlag, Weltbild Verlag, Augsburg: 1991
Rolf Leicher: "Der professionelle Telefonkontakt mit Kunden: was erfolgreiche Mitarbeiter am Telefon besser machen." Expert Verlag, Renningen: 2003 ebook (Link)