Posts mit dem Label Brecht werden angezeigt. Alle Posts anzeigen
Posts mit dem Label Brecht werden angezeigt. Alle Posts anzeigen

Dienstag, 14. August 2018

"Der Mensch ist erst wirklich tot, wenn niemand mehr an ihn denkt." Bertolt Brecht (angeblich)


Pseudo-Bertolt-Brecht-Zitat.
Dem im Jahr 1956 verstorbenen Dramatiker und Lyriker Bertolt Brecht wird dieser Trauerspruch seit etwa zwanzig Jahren unterschoben. In seinen Werken und in zeitgenössischen Quellen ist dieses Pseudo-Brecht-Zitat bisher nicht gefunden worden.

Dieser Trauerspruch stammt so ähnlich aus dem 19. Jahrhundert.

Entwicklung des Zitats


 1830, Christian von Zedlitz
  • "Wer im Gedächtniß seiner Lieben lebt,
    Ist ja nicht todt, er ist nur fern. – Todt nur
    Ist, wer vergessen wird; 
    ich aber werde,
    Ich weiß es, nicht vergessen seyn von dir – "
    Joseph Christian von Zedlitz: "Der Stern von Sevilla", 4. Aufzug, 7. Auftritt, Ortiz zu Estrella  (Link)
"Der Stern von Sevilla" ist nach Motiven des 1623 publizierten Dramas "La Estrella de Sevilla" des spanischen Dichters Lope de Vega entstanden.

Die Wendung, "Todt nur ist, wer vergessen wird", scheint es nur in der deutschen Fassung des österreichischen Autors Christian von Zedlitz zu geben, obwohl sie manchmal im 19. Jahrhundert Lope de Vega zugeschrieben wird (Link).

Das Zitat aus dem Schauspiel "Der Stern von Sevilla" wurde bald geflügelt und als anonymer Trauerspruch verbreitet.
 

1859, George Eliot
  • "Unsere Toten werden erst dann wirklich tot sein, wenn wir sie vergessen haben."
  • "Our dead are never dead to us until we have forgotten them."
    George Eliot, "Adam Bede"  (Link)

Der Trauerspruch "Tot ist nur, wer vergessen ist" (Link) wird heute auch  Immanuel Kant , Seneca und anderen unterschoben.


 Twitter, 2017:


https://twitter.com/krieghofer/status/8712816072185405
_______
Quellen:
Wikiquote
Arbeitsgruppe von Ulrich Seelbach von der Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft der Universität Bielefeld: "Trauersprüche"
"Der Stern von Sevilla", Nach dem gleichnamigen Schauspiel des Lope de Vega, bearbeitet von Joseph Christian Baron v. Zedlitz, Verlag der J.G. Cotta'schen Buchhandlung, Stuttgart und Tübingen: 1830, S. 98 (Link)
George Eliot: "Adam Bede" (Erstausgabe 1859, John Blackwood, London), Harper and Brothers, New York: 1860, S. 89 (Link)
 Google
2011: Geschichtsforum

Frühe falsche Zuschreibung:
1998: groups.google.com

Beispiele für falsche Zuschreibungen:
Google: diverse Online-Zitatsammlungen;  Zitate im Management;
Dudenredaktion: "DUDEN - Passende Worte im Trauerfall: Trauertexte stilsicher formulieren", Bibliographisches Institut, Berlin, 2016, ebook (Link)

______
Dank

Ich danke Ulrich Seelbach und allen Teilnehmern der Twitter-Diskussion über dieses Zitat und besonders Ralf Bülow für den Hinweis auf Zedlitz.

Artikel in Arbeit.


Sonntag, 5. August 2018

"Die Bürger werden eines Tages nicht nur die Worte und Taten der Politiker zu bereuen haben, sondern auch das furchtbare Schweigen der Mehrheit." Bertolt Brecht (angeblich)

Pseudo-Bertolt-Brecht-Zitat.
Dieses Zitat wird seit etwa 10 Jahren Bertolt Brecht unterschoben. Das heute bei AfD-nahen Postern und Leserbriefschreibern beliebte Zitat scheint ursprünglich eher von Antifaschisten verwendet worden zu sein.

Vor dem 21. Jahrhundert habe ich das angebliche Brecht-Zitat auf Deutsch in keinem digitalisierten Text gefunden.

Ralf Bülow verdanken wir den Hinweis, dass dieses Pseudo-Brecht-Zitat aus der Übersetzung eines Satzes Martin Luther Kings entstanden sein könnte:


Martin Luther King

  • "We will have to repent in this generation not merely for the vitriolic words and actions of the bad people but  for the appalling silence of the good people."
    (Wir werden in dieser Generation nicht nur die gehässigen Worte und Taten der Bösen zu bereuen haben, sondern auch das furchtbare Schweigen der Guten.
    )
    Martin Luther King Jr: "Letter From Birmingham  Jail", August 1963  (Link)
-

Frühe falsche Zuschreibungen:



2004: razyboard.com/Anti Nazi Sprüche Ohne Zuschreibung an Bertolt Brecht
2009: carookee.de/forum  Zuschreibung an 'Bertholt' Brecht
2012: kosova-aktuell.de Zuschreibung an  "Bertold' Brecht
2013: talk50plus.de Zuschreibung an Brecht


Twitter:


2013


2018

 _______
Quellen:
Google
Martin Luther King Jr:  "Letter From Birmingham  Jail", August 1963  (Link)
wikiquote
2004:  razyboard.com/Anti Nazi Sprüche (Ohne Zuschreibung an Bertolt Brecht)
2009: .carookee.de/forum  (Zuschreibung an Bertholt (!) Brecht)
2012: kosova-aktuell.de (Zuschreibung an  Bertold (!) Brecht)
2013: talk50plus.de (Zuschreibung an Brecht)
afd-mühldorf.de

_______
Dank:
Ich bin Ralf Bülow für seinen Hinweis auf Martin Luther King Jr. sehr dankbar.

Artikel in Arbeit.

Mittwoch, 4. April 2018

"Nur die allerdümmsten Kälber wählen ihren Schlächter selber." Bertolt Brecht (angeblich)

Pseudo-Bertolt-Brecht-Zitat.
 Dieses Sprichwort taucht erstmals 1874 auf einem Schweizer Stimmzettel zur Wahl der Züricher Steuerkommission auf, was damals von vielen deutschen und österreichischen Zeitungen  amüsiert berichtet wurde. 

Der Witz des unbekannten Autors wurde in den Jahren darauf weit verbreitet und von Sozialdemokraten schon vor dem 1. Weltkrieg bei Wahlen oft als Slogan verwendet.


Neues Fremden-Blatt, Abendausgabe, Wien, 27. Mai 1874, S. 2.
In den letzten Jahrzehnten wird der Spruch irrtümlich oft Bertolt Brecht und manchmal auch Wilhelm Busch oder Heinrich Heine zugeschrieben.
Pseudo-Bertolt-Brecht-Zitat.


Varianten:

  • "Nur die allerdümmsten Kälber // wählen ihren Schlächter selber."
  • "Nur die allergrößten Kälber wählen ihre Metzger selber."
  • "Nur die dümmsten Kälber wählen ihre Schlächter selber."
  • "Nur die dümmsten Kälber wählen ihre Metzger selber." 

Bertolt Brecht spielt in dem "Kälbermarsch", seiner Parodie des Horst-Wessel-Liedes, in dem 1943 entstandenen Drama "Schwejk im Zweiten Weltkrieg" auf das Sprichwort an, aber er hat es selber weder geprägt noch in einer der ihm irrtümlich zugeschriebenen Versionen verwendet.

 

Bertolt Brecht

  • "Hinter der Trommel her
    Trotten die Kälber
    Das Fell für die Trommel
    Liefern sie selber.
    Der Schlächter ruft:
    Die Augen fest geschlossen
    Das Kalb marschiert.
    In ruhig festem Tritt.
    Die Kälber, deren Blut im Schlachthaus schon geflossen
    Marschiern im Geist in seinen Reihen mit."
    _____







[Ist Ihnen ZITATFORSCHUNG etwas wert? (Link)]


_______
Quellen:
Google 
Bertolt Brecht: Stücke. Band 10 – Stücke aus dem Exil: Schweyk im Zweiten Weltkrieg; Der kaukasische Kreidekreis; Die Tage der Commune. Suhrkamp, Frankfurt am Main: (1957) 1959, S. 103
Neues Fremden-Blatt, Abendausgabe, Wien, 27. Mai 1874, S. 2 (Link)
Zitat in der Arbeiter Zeitung, Wien 1895-1933 (anno)

Beispiele für falsche Zuschreibungen:

An Bertolt Brecht:
 Google
Wiener Zeitung
facebook.com/CiceroMagazin

An  Wilhem Busch:
Michael Wolffsohn: Und wir stecken den Kopf in den Sand, Die Welt, 26. März 2019 (Link)


__________
Dank:
Ich danke Christian Seidl und Wolfgang Gruber für ihre Hinweise auf den Schweizer Stimmzettel.

Letzte Änderung: 17/6 2020

Samstag, 10. Februar 2018

"Wer kämpft, kann verlieren, wer nicht kämpft, hat schon verloren." Bertolt Brecht (angeblich)

Wandtattoo; Pseudo-Bertolt-Brecht-Zitat.
Dieses heutzutage bei Sportlern und Aktivisten beliebte Sprichwort stammt nicht von Bertolt Brecht, sondern entstand anscheinend in den 1970er Jahren als Sponti-Spruch. (Link) 
Pseudo-Bertolt-Brecht-Zitat.
Das Zitat wird seit etwa 1993  Bertolt Brecht und später auch anderen Autorinnen und Autoren irrtümlich zugeschrieben; es wurde von einer unbekannten Person in den 1970er Jahren geprägt.

Von Bertolt Brecht stammt der Satz: "Wer den Kampf nicht geteilt hat/ Der wird teilen die Niederlage."

"WER ZU HAUSE BLEIBT, WENN DER KAMPF BEGINNT
Wer zu Hause bleibt, wenn der Kampf beginnt
Und läßt andere kämpfen für seine Sache
Der muß sich vorsehen: denn
Wer den Kampf nicht geteilt hat
Der wird teilen die Niederlage.
Nicht einmal den Kampf vermeidet
Wer den Kampf vermeiden will: denn
Es wird kämpfen für die Sache des Feinds
Wer für seine eigene Sache nicht gekämpft hat."
Bertolt Brecht, Kolomann Wallisch Kantate (Link) (Link)

 

Entwicklung des Zitats


1706
  • "denn wer nicht kämpft, trägt auch die Cron des ew'gen Lebens nicht davon."  (Link)
1970er Jahre, Sponti-Spruch

  • "Wer kämpft, kann verlieren; wer nicht kämpft, hat schon verloren. "
  • "Wer kämpft, kann verlieren; wer nicht kämpft, kann nicht gewinnen." (Link) 

1984, Buchtitel
  • "Hans Ziegenfuß ua.: »Wer kämpft kann verlieren, wer nicht kämpft, hat schon verloren« VSA Verlag, Hamburg: 1984 (Link)

1985, Filmtitel
  • "Wie leicht das schief gehen kann, weiß Kluge: Es gibt einen Filmtitel von Günther Hörmann: 'Wer kämpft, kann verlieren, wer nicht kämpft, hat schon verloren'. Wenn wir 's probieren, kann es sein, daß wir scheitern, und zwar aufgrund der Widersprüche unserer Produktionsstruktur." (Link)

1986, Buchtitel
  • "Anke Martiny: Wer nicht kämpft, hat schon verloren: Frauen und der Mut zur Macht Cover  Rowohlt, 1986" - (Link) 

1986, Kluge (angeblich)
  • "Wie sagt Alexander Kluge? Wer kämpft, kann verlieren. Wer nicht kämpft, hat schon verloren. Die SPD wird kämpfen. Die werden sich noch wundern." (Link)

1993, Bertolt Brecht (angeblich)
  • "Wer kämpft, kann verlieren, wer nicht kämpft, hat schon verloren", hat Bertolt Brecht gesagt." (Link) 

2004
  • "Auf seinem hellblauen T-Shirt steht: 'Wer kämpft, kann verlieren! Wer nicht kämpft, hat schon verloren!'" 

2004
  • "Bestätigt hat sich die alte Weisheit: Wer kämpft, kann verlieren; wer nicht kämpft, hat schon verloren. Ich möchte hinzufügen: Wer kämpft, kann auch gewinnen!" (Link)  

2009
  • "Wer kämpft, kann verlieren. Wer nicht kämpft, hat schon verloren. Zitat wird mehreren erfolgreichen Menschen zugeschrieben". (Link)
2011 Bertolt Brecht, englisch


 2012 Brecht (angeblich)
  • "Wer kämpft, kann verlieren, wer nicht kämpft, hat schon verloren. - Berthold Brecht" 

2017, Rosa Luxemburg (angeblich)
  • "Doch bei der Verhandlung hatte er gesagt, dass ihm die offizielle Feststellung, dass man ihm Unrecht getan habe, genüge, und dass er damit seinem Wahlspruch: „Wer kämpft, kann verlieren. Wer nicht kämpft, hat schon verloren“, tatsächlich gefolgt sei. Der Wahlspruch wird oft Bertolt Brecht zugewiesen, stammt jedoch von Rosa Luxemburg." (Link) 
2018, Brecht (angeblich)




 _________
Quellen:
Das Zitat wird in vielen Online-Zitatsammlungen fälschlich und immer ohne Quellengabe Bertolt Brecht zugeschrieben: Google 
Wikipedia 
Hans Ziegenfuß ua.: Wer kämpft kann verlieren, wer nicht kämpft, hat schon verloren. VSA Verlag, Hamburg: 1984 (Link)
Anke Martiny: Wer nicht kämpft, hat schon verloren: Frauen und der Mut zur Macht Cover.  Rowohlt, Reinbek: 1986 (Link)

____
Artikel in Arbeit. 

Sonntag, 15. Oktober 2017

"Die Macht geht vom Volk aus." Österreichische Verfassung (angeblich); Bertolt Brecht (angeblich)




Österreichische Bundesverfassung, 1930/1995, Artikel 1
  • "Österreich ist eine demokratische Republik. Ihr Recht geht vom Volk aus."
-

Deutsches Grundgesetz, Artikel 20
  • "(1) Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.
      (2) Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt."
-
Bertolt Brecht:

DREI PARAGRAPHEN DER WEIMARER VERFASSUNG 

"PARAGRAPH I 

  •  I
    Die Staatsgewalt geht vom Volke aus.

    — 
    Aber wo geht sie hin?
    Ja, wo geht sie wohl hin
    Irgendwo geht sie doch hin!
    Der Polizist geht aus dem Haus.
    Aber wo geht er hin?
    usw.
    ..." (Link)
Bertolt Brechts Worte: "Die Staatsgewalt geht vom Volke aus. —  Aber wo geht sie hin?", werden manchmal in der Version, "Alle Macht geht vom Volk aus. —  Aber wo geht sie hin?", zitiert.
________
Quellen:
Österreichische Bundesverfassung, BGBl. Nr. 1/1930 zuletzt geändert durch BGBl. Nr. 1013/1994, Artikel 1 (Link)
Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Stand 2014, Artikel 20  (Link) 
Hans Peter Lehofer, Twitter, 15. Oktober 2017 (Link)
Bertolt Brecht: Gedichte in einem Band, Suhrkamp, Frankfurt: 1981, S. 378 (Link); (de.scribd.com

Donnerstag, 1. Juni 2017

"Der Mensch denkt, Gott lenkt." Bertolt Brecht (angeblich)

Pseudo-Bertolt-Brecht quote.

Dieses Pseudo-Bertolt-Brecht-Zitat ist doppelt daneben: Erstens ist es ein altes Sprichwort, das von einem Bibelspruch kommt und mit Brecht nichts zu tun hat und zweitens zitiert Bertolt Brecht diesen Spruch tatsächlich drei Mal in dem "Lied von der Großen Kapitulation" der Mutter Courage. Allerdings verwandelt er die Aussage dieses Bibelspruchs durch einen Doppelpunkt in ihr Gegenteil: Der Mensch denke, Gott lenke, aber es ist nicht so. Bertolt Brecht: "Der Mensch denkt: Gott lenkt – Keine Red davon!" Dieses Zitat ist ein schönes Beispiel dafür, wie ein einziges Satzzeichen einen Satz vollständig verändern kann.

Entwicklung des Sprichworts:
  • "Des Menschen Herz erdenkt sich seinen Weg; aber der HERR allein lenkt seinen Schritt."
    Sprüche 16, 9
  • "Homo proposit, sed Deus disponit."
    Mittellateinisches Sprichwort
  • "Man proposes, God disposes."
    Englisches Sprichwort
  • "L'uomo propone ma Dio dispone."
    Italienisches Sprichwort
  • "Der Mensch denkt, Gott lenkt."
    Etwa um 1750 entstandenes deutsches Sprichwort.
  • "Der Mensch denkt: Gott lenkt – Keine Red davon!"
    Refrain vom "Lied von der Großen Kapitulation", Bertolt Brecht, 1941
  
Weitere Varianten dieses Sprichworts:
  • "Der Mann zielt, und Gott lenkt die Kugel;"
    J.C. Passeck, 1838 (Link)
  • "'Der Mensch denkt, Gott lenkt.' Die Philosophen sind sehr gute Denker, aber schlechte Lenker."
    Moritz G. Saphir, 1849 (Link)
  • "Der Mensch denkt, aber der Nebenmensch lenkt. Er denkt nicht einmal so viel, daß er sich denken könnte, daß ein anderer denken könnte."
    Karl Kraus, 1909
________
Quellen:
Zitate.eu: "Der Mensch denkt, Gott lenkt. Bertolt Brecht"
Lutherbibel 2017, Sprüche 16, 9 (Link)
Bertolt Brecht: "Mutter Courage und ihre Kinder. Eine Chronik aus dem Dreißigjährigen Krieg." 4. Bild, in: "Die Stücke von Bertolt Brecht in einem Band." Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main: 1978; bei der "Mutter Courage"-Ausgabe von 2013 fehlt der Gedankenstrich nach "lenkt": (Link)
Wolfgang Mieder: "'Wer andern eine Grube gräbt ...' Sprichwörtliches aus der Bibel in moderner Literatur, Medien und Karikaturen." Praesens Verlag, Wien: 2014, S. 286ff.
Wolfgang Mieder: "'Der Mensch denkt: Gott lenkt – Keine Red davon!' Sprichwörtliche Verfremdungen im Werk Bertolt Brechts." Peter Lang, Bern: 1998, S. 47ff.
Karl Kraus: "Sprüche und Widersprüche", 1909
Jan Knopf: "Brechthandbuch. Band 1, Stücke." J.B. Metzler, Stuttgart: 2001

 ________
Ich danke Bill Roth für den Hinweis auf dieses Zitat.
________
  • Maryl Streep in einer großartigen englischen Version vom "Lied von der Großen Kapitulation".

Helene Weigel, Berliner Ensemble: "Lied von der Großen Kapitulation", ab 1:09:20


Sonntag, 28. Mai 2017

"Ich kann nicht so viel fressen, wie ich kotzen möchte." Max Liebermann

Der Maler Max Liebermann hat angeblich mit diesen Worten am 30. Januar 1933 seinen Ekel vor dem Sieges-Fackelzug von Nationalsozialisten in Berlin ausgedrückt (Link)
Die Anekdote wird in verschiedenen Versionen  seit dem Jahr 1934 weitererzählt. 
 Max Liebermann war nicht nur als Maler berühmt, sondern auch wegen seiner "Berliner Schnauze", seinen "lapidaren Aussprüchen", die "oft und oft durch die Welt" gegangen seien, wie in einem Nachruf der Wiener Tageszeitung "Die Stunde" am 13. Februar 1935 zu lesen war (Link).
 Bei einer frühen Erwähnung der Anekdote im Jahr 1934 wurde der Name des berühmten Malers noch verschwiegen, wohl um ihn vor Verfolgung durch Nazi-Behörden zu schützen:
1934
  • "Man erzählt in Berlin:
  • Professor...., der berühmte Maler, wird von einem seiner Schüler gefragt, wie er sich mit den Zuständen im Dritten Reiche abgefunden habe.

  • 'Ach Jott', erwidert der Meister, 'man kann nich halb so viel essen, wie man kotzen möchte.'"

  • Das Neue Tage-Buch, 2. Jahrgang, Nr. 40, Paris-Amsterdam, 6. Oktober 1934, S. 959 (Link)
1935
  • "Gefragt wie ihm Deutschland unter Hitler gefalle, sagte der greise Meister: 'Soviel kann man gar nicht fressen, als man kotzen möchte!'"
  • Hendric: "Totenklänge um einen Künstler", "Die Stunde", 13. Februar 1935, S. 3 (Link).
 Eine Version des Ausspruchs stammt von der Malerin Käthe Kollwitz.
 1947
  • "Mit Max Liebermann verband Käthe Kollwitz eine enge Freundschaft. Auch nach der Machtergreifung der Nazis ging sie oft zum Tee zu ihm. ... Einmal sagte er höhnisch und drastisch über die Zustände im Nazireich: "Ick kann janich so viel fressen, wie ick kotzen möchte!"
  • Katharina Laessig: "Mit den Augen der Freundin. Zum 80. Geburtstag von Käthe Kollwitz." (Link)

1954
  • "Harrass: (rülpst genüßlich) Verzeihung. Der geradezu nicht-arische Kunstmaler Max Liebermann, 'n juter oller Berliner, der gar betreffenden Witzes in großem Maße teilhaftig, hat einmal den schlichten Satz jeprägt: Kann jar nich soviel essen, wie ich kotzen möchte."
  • "Des Teufels General", Film, 1955 (Link)

Jahrzehnte später wird der Spruch Max Liebermanns manchmal fälschlich Kurt Tucholsky oder Bertolt Brecht zugeschrieben, und kommt ohne Hinweis auf Liebermann wie eine sprichwörtliche Redensart zum Beispiel auch in Max Frischs Drama  "Biedermann und die Brandstifter - Ein Lehrstück ohne Lehre" vor.
Varianten:
  • "Ick kann janich so viel fressen, wie ick kotzen möchte!"
  • "Kann jar nich soviel essen, wie ich kotzen möchte." 
  • "So ville kann ick gar nich essen, wie ick kotzen möchte."
  • "Ich kann nicht so viel fressen, wie ich kotzen möchte." 
  • "Man kann gar nicht so viel fressen, wie man kotzen möchte."
  • "Man kann gar nicht so viel essen, wie man kotzen möchte."
  • "Ach Jott, man kann nich halb so viel essen, wie man kotzen möchte." 
  • "Soviel kann man gar nicht fressen, als man kotzen möchte!" 
_________
Quellen:
Das Neue Tage-Buch, 2. Jahrgang, Nr. 40, Paris-Amsterdam, 6. Oktober 1934, S. 959 (Link) 
Hendric: "Totenklänge um einen Künstler", "Die Stunde", 13. Februar 1935, S. 3 (Link).
Katharina Laessig: "Mit den Augen der Freundin. Zum 80. Geburtstag von Käthe Kollwitz." in: "Aufbau,  Band 3, Aufbau Verlag, Berlin: 1947, S. 63 (Link) 
"Des Teufels General". Film 1955, Drehbuch: George Hurdalek, Helmut Käutner und Gyula Trebitsch; Regie: Helmut Käutner (nach dem Drama Carl Zuckmayers) Transkription einer Szene von Wolfgang Näser: (Link)
Carl Zuckmayer: "Des Teufels General." Drama in drei Akten, verfasst: 1945; Uraufführung 14. Dezember 1946,  in: Carl Zuckmayer: Gesammelte Werke, Die Deutschen Dramen, Bermann-Fischer Verlag, Stockholm: 1947 (In dieser Ausabe scheint die Liebermann-Anekdote nicht enthalten zu sein.)
"Max Liebermann: Poesie des einfachen Lebens",  Ausstellungskatalog, hrsg. von  Nicole Bröhan und  C. Sylvia Weber,  Swiridoff:  2003,  S. 192  (Link)
Johannes John: "Reclams Zitaten-Lexikon." Philipp Reclam jun., Stuttgart: 1992 (Link)
Bernd Küster: "Max Liebermann – ein Malerleben."  Ellert und Richter, Hamburg: 1988, S. 216 (zitiert nach Wikiquote)
Friedhelm Greis: Sudelblog, Angebliche Tucholsky-Zitate
Kurt Tucholsky-Gesellschaft, Angebliche Tucholsky-Zitate (Link)
______
Dank:
Ich danke den Leuten von Wikiquote, Friedhelm Greis und Herbert Gnauer und besonders auch Garson O' Toole für ihre Recherchen. Dank auch an Klaus Allwicher für eine Korrektur.
 
Letzte Änderungen: 5/7 2021 (Belege 1930er Jahre) ; 7/7 2021; 12/9 2023.
 

Dienstag, 2. Mai 2017

"Wo Unrecht zu Recht wird, wird Widerstand zur Pflicht." Bertolt Brecht (angeblich)


Pseudo-Bertolt-Brecht-Zitat.
Dieser Slogan ist um 1974 von Atomkraftgegnern geprägt worden. Er fand in den Versionen: "Wo RECHT zu Unrecht, wird Widerstand zur Pflicht" sowie: "Wo UNRECHT zu Recht, wird Widerstand zur Pflicht", bald große Verbreitung.

Erst im 21. Jahrhundert wird der Slogan diversen berühmten Autoren, die alle mit diesem Zitat nichts zu tun hatten, unterschoben.

Varianten des Kuckuckszitats:

  • "Wo Unrecht zu Recht wird, wird Widerstand zur Pflicht."  Bertolt Brecht 
  • "Wo Recht zu Unrecht wird, wird Widerstand zur Pflicht."  Bertolt Brecht
  • "Wo Recht zu Unrecht wird, wird Widerstand zur Pflicht." Johann Wolfgang von Goethe
  • "Wenn Unrecht zu Recht wird, wird Widerstand zur Pflicht."  Wladimir Iljitsch Lenin
  • "Wenn Recht Unrecht wird, wird Widerstand Pflicht."  Günther Nenning
  • "Wo Recht zu Unrecht wird, wird Widerstand zur Pflicht, Gehorsam aber Verbrechen!"  Papst Leo XIII., 1891

Pseudo-Goethe-Zitat
Die ursprüngliche Autorin des Spruchs ist noch unbekannt; es könnte die damalige Führungsfigur der Grünen, Petra Kelly, gewesen sein.

Sie bezieht sich in einer Bundestagssrede einmal auf ein katholische  Widerstandspflicht, die Papst Leo XIII. in der Enzyklika "Sapientiae christianae", gefordert hat.


Petra Kelly (GRÜNE), 1983

  • "Wir berufen uns auch auf die Worte Papst Leo XIII. - ich zitiere -: 'Wenn aber die Staatsgesetze sich offen gegen das göttliche Recht auflehnen ... dann ist Widerstand Pflicht, Gehorsam aber Verbrechen.' ...."

    Deutscher Bundestag, Stenographischer Bericht,10. Wahlperiode, 13. Sitzung, 15. Juni 1983, S. 768 (archive.org)


Deutscher Bundestag, 15. Juni 1983, S.768 (archive.org)

Papst Leo XIII.: "Enzyklika Sapientiae christianae", 10. Januar 1890:


  • "10 Wenn aber die Gesetze des Staates mit dem göttlichen Recht in offenbarem Widerspruch stehen, wenn sie der Kirche Unrecht zufügen oder den religiösen Verpflichtungen widerstreiten oder die Autorität Jesu Christi in seinem Hohenpriester verletzen, dann ist Widerstand Pflicht und Gehorsam Frevel, und das selbst im Interesse des Staates, zu dessen Nachteil alles ausschlägt, was der Religion Abbruch tut. -

    Hieraus ergibt sich aber auch, mit welchem Unrecht diese Anschauung der Auflehnung beschuldigt wird, da man doch keiner staatlichen Obrigkeit und keinem Gesetzgeber den schuldigen Gehorsam verweigert, sondern nur jene Vorschriften unbeachtet lässt, zu deren Erlass es keine Gewalt gibt; denn da sie unter Verletzung des göttlichen Rechts erteilt wurden, sind sie ungerecht und eher alles andere als Gesetze."

    Papst Leo XIII.: "Enzyklika Sapientiae christianae", 10. Januar 1890 (Link)

***

Schmariator
: Richtig heißt es "Wo Unbrecht zu Brecht wird, wird Zitatforschung zur Pflicht" (
) (Twitter)

***
 Unterstützen Sie ZITATFORSCHUNG bitte entweder mit PayPal, mit Kreditkarte oder um 2,5€ pro Monat mit  STEADY.  - Danke.
***


(Dieser Artikel ist noch in Bearbeitung.)
__________
Quellen:
Papst Leo XIII.: "Enzyklika Sapientiae christianae", 10. Januar 1890 (Link); bibliographische Angaben dazu: kathpedia.com
Deutscher Bundestag, Stenographischer Bericht,10. Wahlperiode, 13. Sitzung, 15. Juni 1983, S. 768 (archive.org) 
Worte gegen den Wind ... "Die Seite mit kritischer Lyrik und Satire"
Petra Kelly
Constantin von Dietze: "Volkswirtschaftspolitik", 1936 
Franz Klüber: "Katholische Gesellschaftslehre", 1968 
Der Sprachdienst, 1985: Vermutung, der Slogan sei 1974 bei Demonstrationen Gegen das AKW Whyl entstanden 
Wikiquote: "Dieser Satz wird seit Jahrzehnten Bertolt Brecht zugeschrieben - ist vielleicht sogar sein bekanntestes "Zitat"" - (Seit Jahrzehnten? Wirklich?)


______
Ich danke Markus Pirchner für den Hinweis auf diese Pseudo-Brecht-Zitate und Ralf Bülow für seine Recherchen.

Letzte Änderung: 22/6 2020 

Sonntag, 23. April 2017

"Siegen macht dumm." Sokrates (angeblich)

Der Spruch "Siegen macht dumm" ist noch keine 70 Jahre alt und wird zum Beispiel von dem Philosophen Richard David Precht in Talk Shows öfters fälschlich Sokrates zugeschrieben. Geprägt hat die Wendung wahrscheinlich Bertolt Brecht. Vor dem Erstdruck seinens Ausspruchs ist in keinem digitalisierten Druckwerk die Wendung zu finden. Durch ein Spiegel-Interview mit Günter Grass wurde der Spruch später populär.

1963:  
  • "Wir müßten eine Situation aus den Bauernkriegen auswählen, wenn wir realistisch vorgehen wollen. Eine Ritterschaft in Franken vielleicht. Die Bauern müßten einen gewissen Sieg hinter sich haben und am weiteren Kampf nicht mehr interessiert sein. Sie nehmen von den Plänen, die gegen sie reifen, keine Notiz mehr. Man hat es ihnen gezeigt: Siegen macht dumm."
    Diktat von Bertolt Brecht zu dem geplanten Film "Der Eulenspiegel"; dieses Film- oder Theaterprojekt aus dem Jahr 1952 (?) wurde nie vollendet.
    Erstdruck: Die Zeit, 52/1963, 27. Dezember 1963 (Link)
1967
  • "Man hat es ihnen gezeigt: Siegen macht dumm."
    Bertolt Brecht, 1967,  Texte für Filme, Theater, Band 4, S. 281
1987
  • "Siegen mach glücklich. Viel siegen mach glücklich und dumm. Dauernd siegen macht dumm. Unterliegen macht intelligent. Viel unterliegen macht intelligent und bitter. Dauernd unterliegen macht bitter."
    Horst Drescher:
    "Aus dem Zirkus Leben: Notizen 1969-1986", 1987
2003
  • "Siegen macht dumm", "Siegen macht gelegenlich dumm"
    Günter Grass in einem SPIEGEL-Gespräch, DER SPIEGEL, 35/2003 

 2009
  • FOCUS: Herr Precht, ethische Einsicht erfasst den Menschen selten in guten Zeiten. Dürfen wir von der Debatte um Nullwachstum einen gesellschaftlichen Moralschub erhoffen?
    Precht
    : Ein schönes Indiz dafür wäre die Tatsache, dass Herr Wiedeking die Hälfte seiner Abfindung von 50 Millionen spendet, weil ihm das im Zweifelsfall zu mehr Genugtuung und Glück verhilft. Damit bestätigt er eine Binsenweisheit der sogenannten Glücksökonomie, dass ab einem bestimmten Einkommen Glück nicht mehr proportional zur Mehreinnahme steigt. Aber im Ernst. Es gibt diesen schönen Satz von Sokrates: Siegen macht dumm. Und in Gesellschaften, die sich zu Tode amüsieren, kann man keine Veränderungen durchführen. So gesehen haben wir eine Chance."
    FOCUS, 17. August 2009, Kerstin Holzer im Gespräch mit Richard David Precht: „Kreativität entsteht aus Mangel“
____________
Ich danke Ralf Bülow für den Hinweis auf den Erstdruck.
__________
Twitter:


___________
Quellen:
Kerstin Holzer im Gespräch mit Richard David Precht: „Kreativität entsteht aus Mangel“, FOCUS Nr. 34 2009, 17. August 2009  
Martin Doerry und Volker Hage: "Siegen macht dumm." Günter Grass in einem SPIEGEL-Gespräch, DER SPIEGEL, 35/2003, 25. August 2003 
Günther Weisedborn: "Die Entlarvung der Großen und der Kleinen, Ein Brecht-Stück, das nicht mehr geschrieben wurde: Der Eulenspiegel", Die ZEIT Nr. 52/1963, 27. Dezember 1963 (Erstdruck)
Bertolt Brecht,  Texte für Filme, Theater, Band 4, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main: 1967, S. 281;  Gesammelte Werke, Supplementband, Bd. 2, Texte für Filme II, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main: 196p, S. 634 (Link)