Sonntag, 8. Mai 2022

"Betrachte es als die größte Torheit, das nackte Leben über diejenigen Dinge zu stellen, für die es sich zu leben lohnt." Juvenal (angeblich)

 Diese Version eines der berühmtesten Zitate Juvenals ("summum crede nefas animam praeferre pudori /et propter vitam vivendi perdere causas") ist problematisch.

Von dem römischen Dichter Juvenal sind sechzehn in Hexameter verfasste Satiren überliefert, das Zitat steht so ähnlich in der achten Satire, in der sich Juvenal blasierte Adelige vornimmt, die sich vornehm vorkommen, nur weil sie einen spektakulären Stammbaum und berühmte Verwandte haben. 

Aber so wenig ein langsames Rennpferd, 
um gefeiert zu werden, sich auf seinen Siegervorfahren berufen könne, so wenig sollten Menschen mit ihrem Stammbaum angeben. 

Man müsse selbst auf seinem Gebiet etwas leisten, um einmal auf einer Ehrentafel zu stehen. Falscher "Ahnenstolz" versus wahrer Adel ist das Thema dieser achten Satire.

Juvenal, Satura VIII, um 120 n. Chr.:


  • " miserum est aliorum incumbere famae [...] esto bonus miles, tutor bonus, arbiter idem integer; ambiguae si quando citabere testis incertaeque rei, Phalaris licet imperet ut sis falsus et admoto dictet periuria tauro, summum crede nefas animam praeferre pudori et propter uitam uiuendi perdere causas." (Link)

  • "Es ist erbärmlich, sich auf das Ansehen anderer Leute zu stützen [...] Sei ein guter Soldat, ein guter Vormund, auch ein integrer Richter. Falls du mal in einem zweifelhaften Fall mit unsicherem Ausgang als Zeuge aufgerufen wirst, dann halte an der Überzeugung fest (auch wenn Phalaris dir befiehlt zu lügen, den Stier holen läßt und dir den Meineid diktiert), dass es der schlimmste Frevel ist, das Überleben vor die Ehrenhaftigkeit zu stellen und aus Rücksicht auf das Leben die Gründe für das Leben einzubüßen."

    Juvenal: Satura VIII, in: Juvenal: "Satiren." Lateinisch - deutsch, herausgegeben, übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Sven Lorenz. Sammlung Tusculum, De Gruyter, Berlin / Boston: 2017, S. 259 ff. (Link)
Juvenal verlangt von vornehmen Menschen, dem wahren Adel, unbedingte Wahrhaftigkeit, selbst wenn der legendär grausame Diktator Phalaris ihnen droht, sie in einem durch Feuer erhitzten bronzenen Stier zu Tode zu foltern.
Phalaris zwingt den Künstler Perilles in den glühenden Bronzestier hinein. Seine Schmerzensschreie sollen wie das Brüllen eines Stiers klingen.
(Kupferstich von Pierre Woeiriot, 16. Jahrhundert). Wikipedia, gemeinfrei.

Für Immanuel Kant war diese Forderung Juvenals ein heroisches Beispiel für Handlungen "aus Pflicht", für die "Heiligkeit der Pflicht", und er zitierte diese Stelle in seiner "Kritik der praktischen Vernunft" (Link), um zu zeigen, wie man sich eine Handlung aus Pflicht gegen das unmittelbare Selbstinteresse vorstellen kann.

234 Jahre nachdem Immanuel Kant diese Stelle Juvenals als Beispiel für ideale Pflichterfüllung unter Todesverachtung zitierte, meinte die Bonner Universitätsprofessorin Ulrike Guérot, mit diesem Zitat Juvenals könne man "Unbeschwertheit und Lebensfreude" empfehlen:

  • "Ulrike Guérot wünscht sich am Ende des Films, dass möglichst viele Kinder und Jugendlichen ihre Unbeschwertheit und Lebensfreude zurückgewinnen, ganz im Sinne des Philosophen Juvenal 'betrachte es als die größte Torheit, das nackte Leben über diejenigen Dinge zu stellen, für die es sich zu Leben lohnt.'" (eine-andere-zukunft.com)
Juvenal beschreibt aber an dieser Stelle nicht allgemein Dinge, für die es sich zu leben lohnt, sondern eine Prinzipientreue auch unter Androhung von Folter, die Absicht, lieber zu sterben, wenn Wahrhaftigkeit vor einem Gericht nicht möglich ist: also das Gegenteil von "Unbeschwertheit und Lebensfreude".

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Quellen:
"Geflügelte Worte. Der Zitatenschatz des deutschen Volkes", gesammelt und erläutert von Georg Büchmann, fortgesetzt von Walter Robert-tornow, 22. vermehrte und verbesserte Auflage, bearbeitet von Eduard Ippel, Verlag der Haude u. Spenerschen Buchhandlung, Berlin: 1905, S. 503 (Link)
Juvenal: "Satiren" Lateinisch - deutsch, herausgegeben, übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Sven Lorenz. Sammlung Tusculum, De Gruyter, Berlin / Boston: 2017, S. 259 ff. ((books.)
"Juvenal." Übersetzt und mit Anmerkungen für Ungelehrte versehn von Karl Friedrich Bahrdt, Dessauische gelehrte Buchhandlung: 1781, 8. Satire, 79-85, S. 175 (Link)
Immanuel Kant: Kritik der Praktischen Vernunft, in: Immanuel Kant: Werke in 6 Bänden,  Band IV, herausgegeben von Wilhelm Weischedel, Insel-Verlag, Wiesbaden: 1956, A 283, 284, S.  296
 Immanuel Kant: Kritik der praktischen Vernunft (1788), in: "Kant’s Gesammelte Schriften", Akademieausgabe, Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften, Reimer, ab 1922 de Gruyter, Berlin: 1900ff.  Elektronische Edition: Universität Duisburg, AA 5, S. 158f. (Link)
Christine Schmitz: "Juvenal", Georg Olms Verlag, Hildesheim, Zürich, New York: 2019 S. 215 (Link)
Nicola Gardini: "Latein lebt: Von der Schönheit einer nutzlosen Sprache." Übersetzt von Stefanie Römer. Rowohlt ebook  (Link)
Robert Pfaller: „Wofür es sich zu leben lohnt. Elemente materialistischer Philosophie“. S. Fischer Verlag (Reihe S. Fischer Wissenschaft), Frankfurt am Main: 2011
Robert Pfaller: „Wofür es sich zu leben lohnt." Essay, Der Standard, 28. Januar 2011 
Ulrike Guérot, in: "Eine andere Zukunft", Film, 2022, Webseite (eine-andere-zukunft.com)

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Dank:

Ich danke Louis Berger für seine Analyse des Falschzitats auf Twitter.


Artikel in Arbeit.

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Anhang

Beipiele für Übersetzungen: 


  • "summum crede nefas animam praeferre pudori et propter uitam uiuendi perdere causas."
    Juvenal, Satura VIII (Link)

  • "halte es für den äußersten Frevel, das Leben der Ehre vorzuziehen und um des Lebens willen den Grund des Lebens zu zerstören."
    Übersetzung von Wilhelm Weischedel (Link)
  • "für den schlimmsten Frevel halte es, das bloße Dasein dem Ehrgefühl vorzuziehen und um des Lebens willen die Gründe für das Leben zu verwirken"
    Übersetzung von Christine Schmitz, 2019  (Link)
  • "Halt's für die größte Sünd' der Ehre / Das Leben vorzuziehn und, um zu leben / Des Lebens Zweck verfehlen."
    Übersetzung von Karl Friedrich Bahrdt, 1781 (Link)
  •  "Als grösste Sünde gelt' es dir, / Der Ehre vorzuzieh'n das Leben / Und um das liebe Leben hier / Des Daseins Ziele aufzugeben!"
    Übersetzung: Georg Büchmann (Link)
  • "Count it the greatest sin to prefer life to honor, and for the sake of living to lose what makes life worth living."
  •  "Count it the greatest sin to prefer mere existence to honour, and for the sake of life to lose the reasons for living" (Link)
  • "Betrachte es als die größte Schandtat, das nackte Leben höher zu stellen als die Scham; und um des Lebens willen die Gründe, für die es sich zu leben lohnt, zu verlieren."
    Übersetzung von Robert Pfaller, 2011 (Link)
  • "Betrachte es als die größte Torheit, das nackte Leben über diejenigen Dinge zu stellen, für die es sich zu leben lohnt." 
    Version von 
    Ulrike Guérot, 2022
     (eine-andere-zukunft.com)