Montag, 17. April 2017

"Die Lage ist hoffnungslos, aber nicht ernst." Karl Kraus (angeblich)

Filmplakat, 1965
 In den Schriften von Karl Kraus ist dieses Bonmot nicht nachzuweisen. 1968, 32 Jahre nach seinem Tod, wird es ihm erstmals irrtümlich - ohne Quellenangabe - zugeschrieben  (Neues Forum, Band 15, S, 229) und seitdem gilt Karl Kraus bei vielen als Schöpfer dieses Zitats. Auch zum Beispiel bei Historikern wie Christopher Clark, der in "Die Schlafwandler: Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog" Karl Kraus dieses Scherzwort unterschiebt.
 
In den 1890er Jahren war die Floskel: "Die Lage ist ernst, aber nicht hoffnungslos" schon verbreitet (Link), und wahrscheinlich ist Alfred Polgar 30 Jahre später der Erste, der sie umdreht und die resignative Formel "hoffnungslos, aber nicht ernst" prägt. 

Am 8. Februar 1921 wird sie im "Prager Tagblatt" Alfred Polgar  zugeschrieben; davor taucht sie in keinem digital durchsuchbaren Druckwerk auf.   Alfred Polgar verwendet sie 1922 noch einmal in einem Dialog in dem Dramolett "Kasperls Höllenfahrt".

Alfred Polgar, 1921:

  • "Die Lage in Österreich ist hoffnungslos, aber nicht ernst."
    "Böse Bubenzeitung", zitiert in: Prager Tagblatt, 8. Februar 1921, S. 3 (Link) 

Alfred Polgar, 1922:

  • "Kasperl (nachsehend): An schön' Gruß an den Nationalrat. I laß' sag'n, die Lage ist hoffnungslos, aber nicht enst. (Er legt sich nieder, schläft ein)."

    "Kasperls Höllenfahrt",  Prager Tagblatt, 16. April 1922 , S. 3 (Link)

Schon in den 1920er Jahren wird das Polgar-Zitat in englischen Zeitschriften als "Wiener Redensart" bezeichnet. Und um 1930 scheinen folgende Varianten, die als anonyme Witzworte weitererzählt werden, aufgekommen zu sein:
  • "Für den Preußen ist die Lage ernst, aber nicht hoffnungslos, für den Österreicher, hoffnungslos, aber nicht ernst." 
  • "In Berlin ernst, aber nicht hoffnungslos — in Wien hoffnungslos, aber nicht ernst."
Die Vermutung, dieses Zitat sei in den letzten Jahrzehnten der Österreich-Ungarischen Monarchie unter k.u.k. Beamten verbreitet gewesen, scheint so wenig zu stimmen wie die Behauptung, Karl Kraus habe es verwendet oder geprägt. 

Filmplakat, 1965

Mit dem 1965 entstanden Film "Situation Hopeless ... But Not Serious" (deutscher Titel: "Lage hoffnungslos – aber nicht ernst"), unter der Regie von Gottfried Reinhardt, dem Sohn von Max Reinhardt, wurde Alfred Polgars Bonmot weltberühmt.

Auch Konrad Adenauer, der angeblich manchmal sagte, "die Lage ist ernst, aber nicht hoffnungslos", wird neuerdings völlig grundlos das Polgar-Zitat zugeschrieben (Link).
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Quellen:
Alfred Polgar: Leitartikel "Böse Bubenzeitung", zitiert in: Prager Tagblatt, 8. Februar 1921, S. 3 (Link) 
Alfred Polgar:  "Kasperls Höllenfahrt",  Prager Tagblatt, 16. April 1922 , S. 3 (Link)
"Salzburger Volksblatt", 9. Dezember 1930
"Morgen", Band 17,  1961
"Die politische Meinung",  1960
Neues Forum, Band 15, S, 229, 1968
Wolfgang Kraus: Kultur und Macht, 1972
Christopher Clark: "Die Schlafwandler: Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog" ebook (Link); "The Sleepwalkers: How Europe Went to War in 1914" ebook, "desperate, but not serious" (Link)

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Ich danke Archiphilologus‏ für den Hinweis auf Polgars "Kasperls Höllenfahrt".

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Man liest eine Menge Unsinn, wenn man die Geschichte dieses Bonmots zur österreichischen Mentalität recherchiert.

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Letzte Änderung: 8/9 2018