Dienstag, 16. November 2021

"Immer kommen die großen Wendezeiten der Völker aus dem Abgrund." Friedrich Hölderlin (angeblich)

Dieser Gedanke stammt von dem Philosophen Martin Heidegger und wird seit 1946 manchmal fälschlich Friedrich Hölderlin zugeschrieben.

 Martin Heidegger schrieb diesen Satz in seiner Freiburger Vorlesung zu Friedrich Hölderlins Gedicht "Germania", und meint mit den "großen Wendezeiten" wohl auch die Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland:

 

Martin Heidegger, 1934/1935:

  •  "Immer kommen die großen Wendezeiten der Völker aus dem Abgrund und je in dem Ausmaß, als ein Volk in ihn, und das heißt in seine Erde hinabreicht und Heimat besitzt. Daher werden Wendezeiten eines Volkes nicht erfahren, geschweige denn begriffen auf der flachen Ebene der Plattheit des Tagesgeschwätzes und der immer schief liegenden Bedenken und all der Zufälligkeiten, an denen sie hängen bleiben, blind für Ursprung und Ankunft des Notwendigen. Dieses ist nicht errechenbar aus der Verrechnung von Ursache und Wirkung, sondern gründend nur im Abgrund."

 Nach diesem Absatz zitierte Martin Heidegger drei Zeilen aus Hölderlins Gedicht "Die Titanen":

  • ".... und gewaltig dämmerts
    Im ungebundenen Abgrund
    Im allesmerkenden auf."

    Martin Heidegger: Gesamtausgabe, Band 39, 1999, S. 106 (Link)

 Aus dem dunklen Satz Heideggers und den etwas veränderten Worten aus Hölderlins Gedicht "Die Titanen" entstand 1947 ein Gedicht, das fälschlich Friedrich Hölderlin zugeschrieben wird:

1947

  • "Immer kommen die großen Wendezeiten
    der Völker aus dem Abgrund,
    Und gewaltig dämmert's im Abgrund,
    Im allesmerkenden auf."

    Josef Schmid: "Die Mission des Akademikers", Kupferberg, Mainz: 1947, S. 14 (Link)


Weitere Beispiele für die falsche Zuschreibung des Heidegger-Zitats:

1946


 Pseudo-Friedrich-Hölderlin-Zitat,1946 (books.google).

 1947

 Pseudo-Friedrich-Hölderlin-Zitat,1947 (books.google).

  1966

 

Pseudo-Hölderlin-Zitat, 1966  (books.google).

Dieses Heidegger-Zitat kommt auch nicht in Friedrich Hölderlins Roman "Hyperion oder Der Eremit in Griechenland" vor.

 

In Arbeit.

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Quellen:

Friedrich Hölderlin: "Die Titanen", in. Hölderlin: Sämtliche Werke, Briefe und Dokumente in zeitlicher Folge, Band 10: 1802-1804: Nürtingen; Gesänge, Die Trauerspiele des Sophokles, Nachtgesänge. Herausgegeben und kommentiert von D. E. Sattler, Luchterhand, München: 2004 ebook

Friedrich Hölderlin: "Hyperion oder Der Eremit in Griechenland." J. G. Cotta’schen Buchhandlung, Tübingen: Band 1: 1797, Band 2: 1799

Martin Heidegger: "Freiburger Vorlesung", Wintersemester 1934/35, in: Martin Heidegger: Gesamtausgabe. II. Abteilung: Vorlesungen 1923-1944, Band 39: Hölderlins Hymnen "Germanien" und "Der Rhein". Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main: (1980) 3. Auflage 1999, S. 106 (Link)

Josef Schmid: "Die Mission des Akademikers", Kupferberg, Mainz: 1947, S. 14 (Link)

Anton Zischka: "War es ein Wunder?: zwei Jahrzehnte deutschen Wiederaufstiegs"  Mosaik Verlag, Hamburg: 1966, S. 5 (books.google)

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Dank:

Ich danke M. Wollmann für den Hinweis auf dieses Pseudo-Friedrich-Hölderlin-Gedicht und Roland Reuß für die Bestätigung, dass die "Wendezeiten" etc. in den Texten Hölderlins nicht vorkommen.

 

"Was der Mund zu sprechen gewöhnt ist, daran gewöhnt sich das Herz zu glauben." Friedrich Hölderlin (angeblich)

Pseudo-Friedrich-Hölderlin-Zitat (gutezitate.com).

Dieser Aphorismus stammt nicht von dem deutschen Dichter Friedrich Hölderlin, sondern aus dem Essay "L'École païenne"  des französischen Dichters Charles Baudelaire, den Max Rychner mit dem Titel "Die heidnische Schule" übersetzt hat.

 

Charles Baudelaire:  "L'École païenne", 1851

  • "Qu’on ne prenne pas ces choses pour des puérilités. Ce que la bouche s’accoutume à dire, le cœur s’accoutume à le croire. " (Link)


  • "Man halte diese Dinge nicht für Kindereien. Was der Mund zu sagen sich gewöhnt, gewöhnt sich das Herz zu glauben."

    Charles Baudelaire: "Die heidnische Schule",  übersetzt von Max Rychner, Neue Schweizer Rundschau, 1926, Heft 11, S. 1077 (Link)

 

Warum dieses Zitat seit etwa 10 Jahren Friedrich Hölderlin untergeschoben wird, weiss ich nicht. 

 

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Quellen:

Twitter

gutezitate.com

Charles Baudelaire: "L’école païenne", in:  L’Art romantique, Œuvres complètes de Charles Baudelaire, tome III, Calmann Lévy, Paris: 1885, p. 301-309 (wikisource.org)

 Charles Baudelaire: "Die heidnische Schule",  übersetzt von Max Rychner, Neue Schweizer Rundschau, 1926, Heft 11, S. 1077 (Link) 

 


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Dank:

Ich danke  M. Wollmann für seine Frage zu diesem Zitat und Ralf Bülow für seinen Hinweis auf den Ursprung des Zitats bei Baudelaire.