Samstag, 28. März 2020

"Du brauchst dein Zimmer gar nicht zu verlassen. Bleib an deinem Tisch sitzen und lausche..." Franz Kafka (angeblich)

Dieses entstellte Franz-Kafka-Zitat stammt aus einer Rückübersetzung aus dem Englischen eines Aphorismus von Franz Kafka aus dem Jahr 1920, der mit den Worten, "Es ist nicht notwendig, daß Du aus dem Haus gehst", beginnt:

Franz Kafka, 1920, Zürauer Zettel 109b: 

 

Franz Kafka, Zürauer Zettel, Nr. 109b (Link).

 

 Transkription:

 

  • "Es ist nicht notwendig, daß Du aus dem Haus gehst. Bleib bei Deinem Tisch und horche. Horche nicht einmal, warte nur. Warte nicht einmal, sei völlig still und allein. Anbieten wird sich Dir die Welt zur Entlarvung, sie kann nicht anders, verzückt wird sie sich vor Dir winden."  (Link)


Englische Übersetzung:




Rückübersetzung, entstelltes Franz-Kafka-Zitat:

  •  "Du brauchst dein Zimmer gar nicht zu verlassen. Bleib an deinem Tisch sitzen und lausche. Du brauchst nicht einmal zu lauschen. Warte einfach. Du brauchst nicht einmal zu warten, lerne einfach still zu sein, still und allein. Dann wird die Welt sich dir zur Demaskierung anbieten. Sie hat keine andere Wahl! Ekstatisch wälzt sie sich zu deinen Füßen." (Link)

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 Quellen:
Google
Franz Kafka: Zürauer Zettel. Historisch-Kritische Ausgabe sämtlicher Handschriften, Drucke und Typoskripte. Herausgegeben von Roland Reuß und Peter Staengle. Stroemfeld Verlag, Frankfurt am Main: 2011, Zettel Nr. 109b (Link)
Twitter: Klaus Pohlmann




archive.org 

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Dank:
Ich danke Klaus Pohlmann für die Frage nach diesem Zitat und Isabel Langkabel (@kabel_isa) und @b_iuditha für das Faksimile aus der Franz-Kafka-Edition von Roland Reuß.
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Donnerstag, 26. März 2020

"Vernunft ist durch das Herz gebrochener Verstand." Immanuel Kant (laut Ulrike Guérot)

Dieses Bonmot unterschiebt die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot dem Philosophen Immanuel Kant seit dem Jahr 2017.

Es ist in den gut digitalisierten Werken Immanuel Kants nicht zu finden, und Kants Vernunftbegriff hat, wie Philosophiestudent:innen lernen, auch ganz und gar nichts mit dem Herzen zu tun.

Dieses Zitat ist also ein Kuckuckszitat, über das auch flüchtige Leser:innen von Kants "Kritik der reinen Vernunft" oder seiner "Kritik der praktischen Vernunft"  nur den Kopf schütteln können.

Pseudo-Immanuel-Kant-Zitat, 23. Mai 2018 twitter.com
  • "Wer kein Fan von Tolkien ist, kann es aber auch mit Kant halten, den zum Ende des Abends Ulrike Guérot zitiert: Vernunft ist durch das Herz gebrochener Verstand. " 2017 (Link)

Ulrike Guérots Pseudo-Immanuel-Kant-Zitat könnte aus dem 1995 publizierten Aphorismus "Vernunft ist Verstand mit Herz" von Ulrich Erckenbrecht entstanden sein.



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Quellen:
Immanuel Kant: "Kant’s Gesammelte Schriften",  Akademieausgabe, Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften, Berlin: 1900ff.  Reimer, ab 1922 de Gruyter; Elektronische Edition: Universität Duisburg 

Ulrich Erckenbrecht:  aphorismen.de/zitat/161197  Quelle laut aphorismen.de: Ulrich Erckenbrecht: "Katzenköppe", Muriverlag: 1995

 

Beispiele für falsche Zuschreibungen von Ulrike Guérot: 

 
2017: Lenz Jacobsen: "Alle Macht für Mister Spock" DIE ZEIT, 6. April 2017 (Link)
2018:  23. Mai 2018 Twitter;  
2019: Ulrike Guérot: Opening Keynote, "Sciences, Research and  Excellency in Europe", Marie Skłodowska-Curie Actions Conference 2018,  Donau-Universität Krems, Discussion Paper Series Nr 6 | August 2019  (donau-uni.ac.at)
2020: Ulrike Guérot: "Uns wird das Denken abgenommen", Gespräch mit Brigitte Schwens-Harrant, Die Furche, 5. Februar 2020 (furche.at)


Artikel in Arbeit.
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Ich danke Philipp Hummel für den Hinweis und Ralf Bülow für seine Recherchen zum Ursprung des Falschzitats.

 

Letzte Änderungen: 22/6 2022 

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Anhang:

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Twitter:


2020:

 

 



"Der schlimmste Feind des wilden Elefanten ist der gezähmte Elefant." Bertolt Brecht (angeblich)

Das ist ein entstelltes, aber kein sinnentstelltes Zitat aus Bertolt Brechts 1939 verfasstem Vorwort zu seinem Theaterstück "Leben des Galilei".

 Korrekt lautet dieser Satz von Bertolt Brecht:

  • "Kein Reaktionär ist unerbittlicher als der gescheiterte Neuerer, kein Elefant ein grausamerer Feind der wilden Elefanten als der gezähmte Elefant."  (Link)

Bertolt Brecht: 'Leben des Galilei', Vorwort, 1939:


  • " Furchtbar die Enttäuschung, wenn die Menschen erkennen oder zu erkennen glauben, daß sie einer Illusion zum Opfer gefallen sind, daß das Alte stärker ist als das Neue, daß die 'Tatsachen' gegen sie und nicht für sie sind, daß ihre Zeit, die neue, noch nicht gekommen ist.

    Es ist dann nicht nur so schlecht wie vorher, sondern viel schlechter; denn sie haben allerhand geopfert für ihre Pläne, was ihnen jetzt fehlt, sie haben sich vorgewagt und werden jetzt überfallen, das Alte rächt sich an ihnen.

    Der Forscher oder Entdecker, ein unbekannter, aber auch unverfolgter Mann, bevor er seine Entdeckung veröffentlicht hat, ist nun, wo sie widerlegt oder diffamiert ist, ein Schwindler und Scharlatan, ach, allzusehr bekannt, der Unterdrückte und Ausgebeutete nun, nachdem sein Aufstand niedergeschlagen wurde, ein Aufrührer, der besonderer Unterdrückung und Bestrafung unterzogen wird.

    Der Anstrengung folgt die Erschöpfung, der vielleicht übertriebenen Hoffnung die vielleicht übertriebene Hoffnungslosigkeit. Die nicht in Stumpfheit und Teilnahmslosigkeit zurückfallen, fallen in Schlimmeres; die die Aktivität für ihre Ideale nicht eingebüßt haben, verwenden sie nun gegen dieselben!

    Kein Reaktionär ist unerbittlicher als der gescheiterte Neuerer, kein Elefant ein grausamerer Feind der wilden Elefanten als der gezähmte Elefant.

    Und doch mögen diese Enttäuschten immer noch in einer neuen Zeit, Zeit des großen Umsturzes, leben. Sie wissen nur nichts von neuen Zeiten." 
    Bertolt Brecht: 1963, S. 8 books.google.
 Die Metapher eines gezähmten Elefantes verwendet Bertolt Brecht noch einmal im Jahr 1945 in einem Epigramm zu einem Foto von zwei erschöpften Soldaten, der eine in Wehrmachtsuniform, der andere in der Uniform der sowjetischen Roten Armee:

Bertolt Brecht, 1945:

  • "Ein Brüderpaar seht, das in Panzern fuhr
    Zu kämpfen um des einen Bruders Land
    So grausam war seit je im Kampfe nur
    Zum Bruder der gezähmte Elefant."
    (Link)

Bertolt Brecht, in dessem Werk Elefanten öfters auftauchen, ist auf die Metapher von dem gezähmten Elefanten wahrscheinlich durch eine Geschichte von Rudyard Kipling, den Bertolt Brecht verehrte, angeregt worden.

Rudyard Kipling erzählt in der Kurzgeschichte "Toomai of the elephants" von dem alten Elefanten Kala Lag, der 47 Jahre im Dienste der Regierung stand, und der als Mithelfer bei der Zähmung und Abrichtung wilder Elefanten besonders grausam war (Link).


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Quellen:

Bertolt Brecht: "'Leben des Galilei', Vorwort", in: Werner Hecht: Materialien zu Brechts "Lebens des Galiliei". Suhrkamp, Frankfurt am Main: 1963, S. 8 books.google. ; Gesammelte Werke Bd.17, Schriften Zum Theater III, Anmerkungen zu Stücken und Aufführungen 1918-1956,  Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main: 1967, S. 1105.
Welf Kienast: "Kriegsfibelmodell: Autorschaft und 'kollektiver Schöpfungsprozess' in Brechts Kriegsfibel", Dissertation, Palaestra, Bd. 313,  Vandenhoeck u. Ruprecht,  Göttingen: 2001, S. 144f.; 255  (Link)
 Rudyard Kipling:  "Toomai of the elephants"

/books.google
archive.org


Artikel in Arbeit.

Dienstag, 3. März 2020

"Wer keinen Humor hat, sollte eigentlich nicht heiraten." Eduard Mörike (angeblich)

Pseudo-Eduard-Mörike-Zitat.

Dieser Aphorismus wurde Eduard Mörike mehr als 100 Jahre nach seinem Tod erstmals zugeschrieben und ist in seinen Texten nicht zu finden; der humoristische Aphorismus ist also höchstwahrscheinlich ein Kuckuckszitat, auch weil er in keinem seriösen Nachschlagwerk verzeichnet ist.

  • "Wer keinen Humor hat, sollte eigentlich nicht heiraten."
  • "Wer keinen Humor hat, sollte nicht heiraten."
Erstmals unterschoben wurde Eduard Mörike dieses Bonmot anscheinend im Jahr 1999 ohne Quellenangabe in einem Ratgeberbuch für Hochzeitsreden ("Die schönsten Reden für Hochzeit und Hochzeitstage" books.google ), das man philologisch nicht ernst nehmen kann.

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Twitter:

 

Artikel in Arbeit.
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Quellen:
Eduard Mörike: Projekt Gutenberg; Google

Beispiele für falsche Zuschreibungen:
1999: "Die schönsten Reden für Hochzeit und Hochzeitstage", herausgegeben von Yvonne Thalheim, humboldt-Taschenbuch 1143, München: (1999), 3. Auflage: Baden Baden: 2005, S. 51  books.google (Frühe, vielleicht früheste falsche Zuschreibung an Eduard Mörike; ohne Quellennachweis.)

gutezitate.com - 120304
aphorismen.de - 151992
m.gratis-spruch.de
zitate.de


"In Bibliotheken fühlt man sich wie in der Gegenwart eines großen Kapitals, das geräuschlos unberechenbare Zinsen spendet." Johann Wolfgang Goethe (angeblich)


Ungenaues Johann-Wolfgang-Goethe-Zitat.
 
 Johann Wolfgang Goethe hat diesen Gedanken nicht für alle Bibliotheken formuliert, sondern speziell für die Göttinger Universitätsbliothek, die er am 8. Juni 1801 zum ersten Mal sah. 

Unmittelbar davor besuchte Goethe mit seinem damals 11jährigen Sohn August die Göttinger Pferderennbahn:


  • "Von da [der Reitbahn] zu der allerruhigsten und unsichtbarsten Thätigkeit überzugehen, war in oberflächlicher Beschauung der Bibliothek gegönnt; man fühlt sich wie in der Gegenwart eines großen Capitals, das geräuschlos unberechenbare Zinsen spendet."
    Goethe, 1830, S. 98 (Link)

Bild von uni-goettingen.de
Die Göttinger Bibliothek gehörte um das Jahr 1800 mit 150.000 Büchern und ihrem neuartigen Katalogsystem zu den modernsten Universitätsbibliotheken der Welt (Link).

Auf der Rückreise von Bad Pyrmont nach Weimar im Sommer 1801 konnte Goethe noch vier Wochen lang die Bibliothek für seine naturwissenschaftlichen Studien benützen.

Auf alle Bibliotheken ausgeweitet wurde Goethes Lob der Göttinger Bibliothek erst mehr als 100 Jahre nach seinem Tod.

Inzwischen schmückt sich sogar die Herzogin Anna Amalia Bibliothek in Weimar mit dem verfälschten Göttinger Goethe-Zitat (klassik-stiftung).

In den digitalisierten Texten taucht das entstellte Goethe-Zitat das erste Mal im Jahr 1954 (Link) auf. 

Artikel in Arbeit.
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Quellen:
Johann Wolfgang Goethe: "Tag- und Jahres-Hefte als Ergänzung meiner sonstigen Bekenntnisse", in: Goethe's Werke: Vollständige Ausgabe letzter Hand,  31. Band, J.G. Cotta'sche Buchhandlung, Stuttgart und Tübingen: 1830, S. 98 (Link)
Horst Kliemann: Stundenbuch für Letternfreunde: Besinnliches und Spitziges über Schreiber und Schrift, Leser und Buch, Ed. Lynotype, Frankfurt am Main: 1954, S. 176 (Link)
Gerhard Hachmann: "Wie lautet Goethes bekanntes Zitat über Bibliotheken richtig?", 26. September 2013 haferklee.wordpress.com

uni-goettingen.de
google books
zeno.org/
klassik-stiftung.de/herzogin-anna-amalia-bibliothek/?L=2

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Dank:
Gerhard Hachmann hat den Ursprung des entstellten Zitats schon im Jahr 2013 dokumentiert.