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Mittwoch, 22. August 2018

"Wer in der Demokratie schläft, wacht in der Diktatur auf." Johann Wolfgang von Goethe (angeblich)

Pseudo-Johann-Wolfgang-Goethe-Zitat.
Diesen politischen Aphorismus einer unbekannten Autorin schrieb ein Lehrer beim Geschichtsunterricht um 1960 auf eine Schultafel. Der Lehrer wurde mit diesem Zitat auf der Tafel photographiert und das Foto in den "Nürnberger Nachrichten" veröffentlicht.

Deswegen wird diesem ehemaligen Lehrer und späterem Professor Hermann Glaser manchmal der Aphorismus zugeschrieben. Doch nach einer Anfrage von Dominik Lagushkin teilte Hermann Glaser mit, dass er diesen Aphorismus nicht geprägt habe, und 50 Jahre danach nicht mehr feststellen könne, woher er das Zitat damals hatte (Link).

Seit 2012, seit eine rechtsextreme Webseite damit begann, wird das Zitat auf Facebook, in der Kronen Zeitung und in anderen unseriösen Medien meistens Johann Wolfgang Goethe untergeschoben, vereinzelt auch Shakespeare, Kurt Tucholksy oder Immanuel Kant.

In den Schriften und dazugehörigen Nachschlagwerken Goethes, Kants und Tucholskys ist dieses Zitat, das in der Mitte des 20. Jahrhunderts als politische Parole entstanden sein könnte, nicht zu finden.


 Entwicklung des Zitats



1998, unbekannt
  • "In unseren Tagen kursiert ein Satz, der Aichers Philosophie vorwegzunehmen scheint: „Wer in der Demokratie schläft, wacht auf in der Diktatur.“ Oder schlagender: „Schlaf in der Demokratie, wach auf in der Diktatur!“ Dieser Erkenntnis der jüngsten Vergangenheit diente seine Art der Prophylaxe." 
    Joerg Crone, Dissertation (pdf)

2007, unbekannt
  • "Wählen tut Not! Denn wer in der Demokratie pennt, der wacht in der Dikatur auf. "
    groups.google
2011?, Glaser
  • „Wer in der Demokratie schläft, erwacht in der Diktatur“. Dieses hochaktuelle Zitat stammt vom Nürnberger Professor und Publizisten Hermann Glaser".
    amadeu-antonio-stiftung.de

2012, Goethe
  •  "Wer in der Demokratie schläft, wacht in der Diktatur auf." J W Goethe
    dasgelbeforum
2012, Shakespeare
  • "Liebe Landratsmitglieder, wachen Sie endlich auf. Sie haben einen Auftrag vom Volk! Nehmen Sie sowohl Ihre Pflichten wie auch Ihre Rechte wahr. Erinnern Sie sich an Shakespeare, der sagte:
    'Wer in der Demokratie schläft, wacht in der Diktatur auf.'"
    etwasanderekritik.wordpress.com/2012
2016, Goethe
  • Da fällt mir ein Satz Goethes ein: „Wer in der Demokratie schläft, wacht in der Diktatur auf“.
    Tassilo Wallentin: "Der große Coup", Kronen Zeitung, 27/3 2016 (Link)
  2017
-
Johann Wolfgang von Goethe ist übrigens nie als Verteidiger der Demokratie aufgefallen. Im Gegenteil:

Goethe, 1792

  • "Was mir aber noch mehr auffiel, war, daß ein gewisser Freiheitssinn, ein Streben nach Demokratie sich in die hohen Stände verbreitet hatte; man schien nicht zu fühlen, was alles erst zu verlieren sei, um zu irgendeiner Art zweideutigen Gewinnes zu gelangen."
    Johann Wolfgang von Goethe, Kampagne in Frankreich, Pempelfort, November 1792 (Link)

Goethe, 1827

  • "Man spricht immer viel von Aristokratie und Demokratie, die Sache ist ganz einfach diese: In der Jugend, wo wir nichts besitzen oder doch den ruhigen Besitz nicht zu schätzen wissen, sind wir Demokraten; sind wir aber in einem langen Leben zu Eigenthum gekommen, so wünschen wir dieses nicht allein gesichert, sondern wir wünschen auch, daß unsere Kinder und Enkel das Erworbene ruhig genießen mögen. Deshalb sind wir im Alter immer Aristokraten ohne Ausnahme, wenn wir auch in der Jugend uns zu andern Gesinnungen hinneigten."
    Gespräche mit Eckerman, 15. Juli 1827 (Link)
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Quellen:
"Lexikon der Goethe-Zitate". Hrsg. von Richard Dobel, Artemis Verlag, Weltbild Verlag, Augsburg: 1991, Stichwort "Demokratie", S. 110
Johann Wolfgang von Goethe, Kampagne in Frankreich, Pempelfort, November 1792 (Link)
Gespräche mit Eckerman, 15. Juli 1827 (Link)
Immanuel Kant: Gesammelte Werke, Akademieausgabe. Elektronische Edition: Universität Duisburg  
Altes Sprichwort: "Wer mit Hunden schläft, wacht mit Flöhen auf."
Joerg Crone: "Die visuelle Kommunikation der Gesinnung - Zu den grafischen Arbeiten von Otl Aicher und der Entwicklungsgruppe 5 für die Deutsche Lufthansa 1962", Dissertation, Freiburg, 1998, S. 46 (pdf)
Edwin Baumgartner: "Retten wir Goethes Karriere!", Wiener Zeitung, 3. Dezember 2015 wienerzeitung.at
Dominik Lagushkin: "Über adoptierte Zitate", 2013 (Link)

Frühe falsche Zuschreibung an Goethe: 
2012:  dasgelbeforum
Beispiel für falsche Zuschreibung:
Tassilo Wallentin: "Der große Coup", Kronen Zeitung, 27. März 2016 (Link)

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Dank
Ich danke Dominik Lagushkin für seine informative Dokumentation aus dem Jahr 2013 (Link).

Artikel in Arbeit. 

Sonntag, 10. September 2017

"Nothing to hide." "Wer nichts zu verbergen hat, braucht nichts zu befürchten." Joseph Goebbels (angeblich)

Der Spruch: "If you have nothing to hide you have nothing to fear", der bei Diskussionen über den Ausbau des Überwachungsstaats in den letzten Jahren oft zititert wird, wird in der englischsprachigen Welt manchmal fälschlich Joseph Goebbels zugeschrieben.

  • "Wenn Sie nichts zu verbergen haben, dann haben Sie nichts zu befürchten."
  • "Wer nichts zu verbergen hat, braucht nichts zu befürchten." 
  • "If you have nothing to hide you have nothing to fear.”
  • "You have nothing to fear if you have nothing to hide."
Da der problematische Slogan niemals mit einer genauen Quellenangabe zitiert wird und von kompetenten Leuten in keiner Schrift oder Rede von Goebbels so zu finden war, kann man sich inzwischen sicher sein, dass er Goebbels fälschlich zugeschrieben wird.

Wer den Spruch in diesem kurzen Wortlaut vor kaum 20 Jahren geprägt hat, wissen wir nicht. Varianten findet man sowohl auf Englisch als auch auf Deutsch seit dem 19. Jahrhundert.
Zum Beispiel: Wer nichts zu verbergen hat, braucht die Beobachtung ..., die Beichte ..., die Aufsicht der ungarischen Regierung ... oder die Kontrolle der Sozialdemokratie nicht zu fürchten.

In der immer noch lesenswerten Analyse des korrupten Pressemilieus, in "The Brass Check. A Study of American Journalism" (1919), kommt auch der sozialistische Autor Upton Sinclair dem Wortlaut des Spruchs nahe.


 1825
  • "Wer nichts zu verbergen hat, scheut die Beobachtung nicht; und wer den Beobachter scheut, wird machen, daß er nichts mehr zu verbergen habe."
    Anselm Feuerbach
    ,
    "Betrachtungen über die Oeffentlichkeit und Mündlichkeit der Gerechtigkeitspflege."

1832

  • "We must have nothing to hide, nothing to fear."
    "Sermons on the spiritual comfort and assurance attainable by obedience ..." (Link)
 
1883
  • "wer nichts zu ver­heimlichen habe, brauche auch die Aufsicht der ungarischen Regierung nicht zu fürchten."  

1889
  • "Wer nichts zu verheimlichen hat, braucht eine Beichte nicht zu fürchten.“ (Google)
 1903
  • "Until you make your life so honorable and open that you have nothing to fear, that no disclosure will cause you to tremble, until you have made your life so clean that you have nothing to hide ..."
    The Character Builder (Link)

1910
  • "Wer nichts zu verbergen hat, braucht die Kontrolle der Sozialdemokratie nicht zu scheuen."
    In dem Zeitungsartikel fordern Sozialdemokraten Kontrollen der Gemeindegelder. (Link)

1919
  • „From first to last I had nothing to hide, and for that reason I had nothing to fear, and this was as well known to the newspapers as it was to the police who were probing the explosion.“
  • „Vom Anfang bis zum Ende hatte ich nichts zu verbergen, und deswegen hatte ich nichts zu befürchten, und dies war den Zeitungen genauso gut bekannt wie der Polizei, die die Explosion untersuchte.“
    Upton Sinclair: "The Brass Check. A Study of American Journalism." Published by the author. Pasadena: 1919 (Google books)


1933
  • "I have nothing to hide and nothing to colour, for this young Germany has no reason to fear the judgment of the world."
    Joseph Goebbels: Englische Übersetzung seiner Genfer Rede vom 28. September 1933 (Link) 
Jospeh Goebbels versichert im September 1933 in Genf, er habe nichts zu verbergen und das junge Deutschland habe keinerlei Grund, das Urteil der Welt zu fürchten, das autoritäre Regime Deutschlands sei eine höhere Form von Demokratie und Hitler wünsche den Frieden, weil er miterlebt habe, was Krieg bedeute.
Der Spin, die Lügen von Joseph Goebbels wurden von der internationalen Presse nicht gut aufgenommen, aber vielleicht blieb sein "nothing to hide" bei einigen Journalisten hängen.
 

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Quellen:
Ralf Bülow: " 'Missing Link': Der Erste, der nichts zu verbergen hatte." heise online, 13. August 2017 (Link)
Anselm Feuerbach: "Betrachtungen über die Oeffentlichkeit und Mündlichkeit der Gerechtigkeitspflege." Zweiter Band, Georg Friedrich Heyer, Giessen: 1825, S. 139 (Link)
Upton Sinclair: "The Brass Check. A Study of American Journalism." Published by the author. Pasadena: 1919 (pdf) (Link)
Anno
Wikipedia: "Nichts-zu-verbergen-Argument"
Wikipedia: "Nothing to hide argumen"

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Dank:
Ich danke Ralf Bülow für Hinweise und für seinen aufschlußreichen Artikel zu diesem Spruch (Link).

Montag, 11. September 2017

"Nicht der Krieg, der Frieden ist der Vater aller Dinge." Willy Brandt


Dieses Zitat von Willy Brandt stammt - wie Tobias Blanken herausgefunden hat - ursprünglich von einem der größten Sozialistenhasser aller Zeiten, von dem österreichischen Ökonomen Ludwig von Mises.

Ob Willy Brandt den Ursprung dieses Satzes aus seiner Autobiographie "Über den Tag hinaus: eine Zwischenbilanz" (Link) kannte, weiß ich nicht.

Willy Brandt: 

  • 1971: "Krieg ist nicht mehr die ultima ratio, sondern die ultima irratio."
  • 1973: "... sollte uns daran erinnert haben, dass nicht Krieg, sondern Frieden der Vater aller Dinge ist."
  • 1974: "Nicht der Krieg, der Friede ist der Vater aller Dinge!" 
1971
  • "Krieg ist nicht mehr die ultima ratio, sondern die ultima irratio. Auch wenn das  noch nicht allgemeine Einsicht ist: Ich begreife eine Politik für den Frieden als wahre Realpolitik dieser Epoche."
    Willy Brandt: "Friedenspolitik in  unserer Zeit"
    Universität Oslo, am 11. Dezember 1971 anlässlich der Verleihung des Friedensnobelpreises.
1973/1974, Neujahrsansprache
  • "Der Konflikt im Nahen Osten sollte uns daran erinnert haben, dass nicht Krieg, sondern Frieden der Vater aller Dinge ist."

Quelle: Willy-Brandt-Archiv im Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung.
Willy Brandt: Entwurf zur Neujahrsansprache vom 31.12.1973

1974
  • "Nicht der Krieg, der Friede ist der Vater aller Dinge! Wir müssen ihn mit allen Mitteln zu sichern versuchen. Und es muß schließlich gelingen, eine internationale Ordnung zu schaffen, die den Namen Friede verdient. Immerhin meinen wir heute zu wissen, daß ein dritter Weltkrieg, der vermutlich der letzte unserer Zivilisation wäre, vermeidbar ist. Wir dürfen sogar davon ausgehen, daß niemand, der über Macht verfügt und Verantwortung trägt, die Katastrophe will." Willy Brandt: "Über den Tag hinaus: eine Zwischenbilanz" (Autobiographie), Hoffmann und Campe, Hamburg: 1974, S. 469 (Link)
Günther Grass, am 17. Dezember 1969 an Willy Brandt: 
  • "Wer immer noch meint, der Krieg oder auch die Revolution sei der Vater aller Dinge, der wird sich belehren lassen müssen, dass wir zum Frieden verurteilt sind, und zwar lebenslänglich". 
Günther Grass fordert Willy Brandt in diesem Brief auf, schreibt Wolfgang Mieder, "seinen Gedanken 'im Frieden leben' in seinen Reden weiter auszubauen" (Link)

Dieser aufschlußreichen Studie Wolfgang Mieders zur Sprichwortrhetorik Willy Brandts verdanken wir auch die Vermutung, dass Günther Grass seinem Freund Willy Brandt das Heraklit-Sprichwort vom Krieg als dem Vater aller Dinge in Erinnerung gebracht haben könnte.

Ludwig Mises

 1922 
  • "Die Überwindung des Gewaltprinzips durch das Friedensprinzip wird dem menschlichen Geiste in der liberalen Sozialphilosophie bewußt, in der sich die Menschheit zum erstenmal über ihr Handeln Rechenschaft gibt. Sie zerreißt den romantischen Nimbus, mit dem die Ausübung der Gewalt bis dahin umgeben war. Krieg, lehrt sie, ist schädlich, nicht nur für die Besiegten, sondern auch für die Sieger. Durch Werke des Friedens ist die Gesellschaft entstanden, ihr Wesen ist Friedensstiftung. Nicht der Krieg, der Frieden ist der Vater aller Dinge. Nur durch wirtschaftliche Arbeit ist der Wohlstand um uns herum entstanden; Arbeit, nicht Waffenhandwerk bringt den Völkern Glück."
    Ludwig von Mises: "Die Gemeinwirtschaft. Untersuchungen über den Sozialismus." (1922) 2., umgearbeitete Auflage, Verlag von Gustav Fischer, Jena: 1932, S. 45 pdf
  •  
Wie weit diese Umkehrung des Heraklit-Spruchs von Ludwig Mises, der 1919 in Österreich entadelt wurde und sich in der Emigration wieder das "von" vor seinem Nachnamen zugelegt hat, in den 1960er und 1970er Jahren verbreitet war, kann ich noch nicht sagen.

Korr. Fassung, 16. Februar 2018
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Quellen:
Wofgang Mieder: "Der Mensch lebt nicht vom Brot allein. Zu Willy Brandts gesellschaftspolitischer Sprichwortrhetorik." In: Hartmut E. H. Lenk, Ulrike Richter-Vapaatalo (Hg.): Sie leben nicht vom Verb allein; Beiträge zur historischen Textanalyse, Valenz- und Phraseologieforschung, Frank und Timme, Berlin: 2015, S.135 (Link) 
Günther Grass an Willy Brandt,  17. Dezember 1969: Zitiert nach Wolfgang Mieder.
Ludwig von Mises: "Die Gemeinwirtschaft. Untersuchungen über den Sozialismus." (1922) 2., umgearbeitete Auflage, Verlag von Gustav Fischer, Jena: 1932, S. 45 pdf
 "Zum 100. Geburtstag von Willy Brandt. Er hat die Fenster aufgemacht in diesem doch sehr verrotteten Land." Brandts Wahlkampfleiter erinnert an die alte Bonner Republik. Albrecht Müller im Gespräch mit Liane von Billerbeck. Deutschlandfunk Kultur: 18.12.2013 (Link)
Willy Brandt: "Über den Tag hinaus: eine Zwischenbilanz" (Autobiographie), Hoffmann und Campe, Hamburg: 1974, S. 469 (Link)
Willy Brandt: Entwurf zur Neujahrsansprache vom 31.12.1973; Willy-Brandt-Archiv im Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung.
Willy Brandt: "Friedenspolitik in  unserer Zeit." Universität Oslo, am 11. Dezember 1971 anlässlich der Verleihung des Friedensnobelpreises. (Link)

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Google
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Dank:
Ich danke Tobias Blanken für den Hinweis auf Ludwig von Mises (Link) und den Kolleginnen und Kollegen vom Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung für die Nachweise des Zitats in den Schriften Willy Brandts (Link).

Mittwoch, 14. Februar 2018

"Es hat keinen Sinn, eine Mehrheit für die Sozialdemokraten zu erringen, wenn der Preis dafür ist, kein Sozialdemokrat mehr zu sein." Willy Brandt (angeblich)

Pseudo-Willy-Brandt-Zitat.

Dieser Satz wurde Willy Brandt etwa 10 Jahre nach seinem Tod erstmals untergeschoben. 


Bislang ist dieses Zitat so oder so ähnlich weder in Zeitungen, Blogs oder digitalisierten Büchern des 20. Jahrhunderts, noch in den Dokumenten des Willy-Brandt-Archivs der Friedrich-Ebert-Stiftung gefunden worden.

Leserbrief, Stern, 18.3.2004, Pseudo-Willy-Brandt-Zitat.

Einer der Ersten, oder der Erste, der dieses Zitat Willy Brandt zugeschrieben hat, war ein Leserbriefschreiber des Magazins "Stern" am 18. März 2004. Er glaubt heute, dieses Willy-Brandt-Zitat damals so in einer Rede oder in einem Interview Oskar Lafontaines gehört oder gelesen zu haben, wie er dem Willy-Brandt-Archiv auf Nachfrage mitteilte.

Nur zwei Tage nachdem der Leserbrief erschienen ist wählte der Theologe und Bürgerrechtler  Friedrich Schorlemmer dieses Zitat als Motto für seine Rede, "An meine Freunde in der SPD", die in seinem Buch "In der Freiheit bestehen: Ansprachen" (2004) veröffentlicht ist.

Schorlemmer zitiert in diesem Buch auch einen angeblichen Spruch eines amerikanischen Präsidenten:

  • "Wir stehen zu dem Amerika eines Abraham Lincoln, der gesagt hat: 'Es gibt keinen ehrenwerten Weg, zu töten, keinen sanften Weg, zu zerstören. Es gibt nichts Gutes am Krieg. Außer seinem Ende.'"
    Friedrich Schorlemmer, 2004, 2010 (Link)

Dieses Zitat stammt allerdings nicht von dem amerikanischen Präsidenten Abraham Lincoln, sondern von einem Drehbuchautor der Serie Star Trek, und wird der fiktiven Figur "Abrahm Lincoln" in den Mund gelegt (1:30):



"Star Trek
Abraham Lincoln: 'There's no honorable way to kill, no gentle way to destroy. There is nothing good in war except its ending.'
Sometimes incorrectly cited as an actual Lincoln Quote." (Link)
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Nach der aktuellen Quellenlage ist zu vermuten, dass Friedrich Schorlemmer sich auch bei seinem Willy-Brandt-Zitat geirrt hat, weil er von einem Leserbriefschreiber, über dessen Seriösität wir nichts wissen, das Zitat unüberprüft übernommen hat. Dieses Willy-Brandt-Zitat wäre übrigens nicht das erste Falschzitat, das von einem Leserbrief ausgegangen ist.


Geschichte des Falschzitats

2004
  • 18. März 2004: Leserbrief im Stern (nicht Online)
  • 20. März 2004: Motto von Friedrich Schorlemmer in einer Rede (Link)
2006
  • 24. Oktober 2006: Bei Wikiquote ohne Quellenangabe gebucht unter der Rubrik "Zugeschrieben" (Link)
 2008
  •  21. März 2008: Das Zitat wird bei Wikiquote wieder gelöscht. (Link)
2013
  •  Das Zitat wird von Gegnern der Großen Koalition oft zitiert.

2018
  •  Das Zitat wird wieder von Gegnern der Großen Koalition oft zitiert.
(Quellen vor 2004 könnten noch auftauchen.)

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Schon Viele (Rechercheure von Wikipedia und vom Willy Brandt-Archiv, zum Beispiel) haben dieses Zitat seit 10 Jahren vergeblich in einer vertrauenswürdigen Quelle aus dem 20. Jahrhundert gesucht.

Ohne Nachweis, wann und wo Willy Brandt den fraglichen Satz gesagt hat, sollte man ihn seriöser Weise nicht mehr als Willy-Brandt-Zitat verbreiten.

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Willy Brandt, 1966

  • "BRANDT: Das Wesen der Demokratie ist der Kompromiß. Wenn er zusammen mit der SPD ausgehandelt werden muß, ergibt es einen besseren Kompromiß als den, der allein aus den Gegensätzen innerhalb der CDU/CSU herauskommt."
    DER SPIEGEL 50/1966, 5. Dezember 1966 (Link)


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Quellen:
Google
Twitter
Friedrich Schorlemmer: "In der Freiheit bestehen: Ansprachen" (2004), Aufbau Verlag, Berlin: 2010 ebook, "Die Reformen und ihre Verlierer. An meine Freunde in der SPD", 20. März 2004 (Link); Lincoln (Link)
"Lincoln's words noted, misquoted", Washington Times, 1. Dezember 2003 (Link)  
Wikiquote (Link)
Wikiquote, 24. Oktober 2006 (Link)
Wikiquote, 21. März 2008 (Link)
E-Mail-Korrespondenz mit Sven Haarmann vom Willy-Brandt-Archiv, Februar 2018
Stern, Nr. 13/2004,  18. März 2004, Leserbrief, S. 25
Hans Gerhard Stephani, Hans-Roderich Schneider und  Ernst Goyke: "AUF DEM FALSCHEN BEIN HURRA?", Spiegelgespräch mit Willy Brandt, DER SPIEGEL 50/1966, 5. Dezember 1966 (Link)
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 Dank:

Danke für den Hinweis, Tobias Blanken und Stephan Dörner.
Dank an die Leute von Wikiquote und vor allem an Sven Haarmann vom Willy-Brandt-Archiv in Bonn, der mich auf viele Quellen des Falschzitats hinwies und den "Stern"-Leserbriefschreiber um Auskunft bat.


Artikel in Arbeit.