Mittwoch, 14. März 2018

"Wir denken selten an das, was wir haben, aber immer an das, was uns fehlt.“ Arthur Schopenhauer (angeblich)

Querdenker Club.

Dieses seit etwa 20 Jahren verbreitete Zitat variiert und verkürzt einen Satz aus dem handschriftlichen Nachlaß Arthur Schopenhauers, und ist wahrscheinlich aus einer Rückübersetzung aus dem Englischen entstanden.

Urpünglich lautet Schopenhauers Satz:

Arthur Schopenhauer

  • "Daher sind wir stets bedacht aufzufinden was uns fehlt und darauf unsre Betrachtung zu richten: was wir aber besitzen, läßt jene Maxime uns ungestöhrt übersehn: daher wir, sobald wir etwas erlangt haben, ihm viel weniger Aufmerksamkeit schenken als vorher, selten bedenken was wir besitzen, stets was uns fehlt. " (Link)

Übersetzungen:

  • "We seldom think of what we have, but always of what we lack." 1896 (Link)
  • "We rarely think of what we possess, but always about what we lack."

Rückübersetzungen:

  • "Wir denken selten darüber nach was wir haben, immer nur darüber, was uns fehlt." 1997 (Link) 
  • "Wir denken selten an das, was wir haben, aber immer an das, was uns fehlt." 2005 (Link)
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Shakespeare?


Pseudo-Shakespeare quote.

Die Zuschreibung dieses Zitats an William Shakespeare kann nur irrtümlich passiert sein.

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Arthur Schopenhauer:

  • "Unsre beständige Unzufriedenheit hat großen Theils ihren Grund darin, daß schon der Selbsterhaltungstrieb, übergehend in Selbstsucht, uns die Maxime zur Pflicht macht, stets Acht zu haben auf Das was uns abgeht, um danach für dessen Herbeischaffung zu sorgen. Daher sind wir stets bedacht aufzufinden was uns fehlt und darauf unsre Betrachtung zu richten: was wir aber besitzen, läßt jene Maxime uns ungestöhrt übersehn: daher wir, sobald wir etwas erlangt haben, ihm viel weniger Aufmerksamkeit schenken als vorher, selten bedenken was wir besitzen, stets was uns fehlt. – Jene Maxime des Egoismus die zwar gut ist um die Mittel zum Zweck herbei zuschaffen, zerstöhrt aber zugleich den letzten Zweck, nämlich die Zufriedenheit, selbst: sie ist daher der Bär der dem Einsiedler die Fliege tödtet."
    Arthur Schopenhauer: Der handschriftliche Nachlass
    , Hrsg. von Arthur Hübscher, Band 1, 1966, S. 360 (Link)

  • "Therefore, as soon as we have obtained anything, we give it much less attention than previously; we rarely think of what we possess, but always about what we lack. But that maxim of egoism which is naturally good for procuring the means to the end, at the same time destroys the ultimate aim, namely ..."
    Arthur Schopenhauer: Manuscript Remains in Four Volumes: Early manuscripts (1804-1818), S. 397 (Link)

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Quellen:
Arthur Schopenhauer: Der handschriftliche Nachlass, Hrsg. von Arthur Hübscher, Band 1, Waldemar Kramer, Frankfurt am Main: 1966, S. 360 (Link)
Arthur Schopenhauer: Manuscript Remains in Four Volumes: Early manuscripts (1804-1818), Hrsg. von Arthur Hübscher, übersetzt von Valerie Egret-Payne, Oxford University Press: 1988, S. 397 (Link)

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Anmerkung
Fabel:
"Einst schlief der Einsiedler, und eine Fliege setzte sich ihm auf die Stirn. Halt, sagte der Bär, du böses Thier sollst meinen Herrn nicht im Schlafe stören. Was that er? Er nahm einen großen Stein in die Vordertatzen, und schlug damit nach der Fliege. Freilich schlug er die Fliege todt, aber den Einsiedler auch." (Link)
Bärendienst, nach La Fontaine (Link)

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Dank:

Ich danke Michael Gunczy für den Hinweis auf dieses Zitat und Ralf Bülow für seine Recherche.


 

"Der größte Feind des Wissens ist nicht Unwissenheit, sondern die Illusion, wissend zu sein.“ Stephen Hawking (angeblich)

Pseudo-Stephen-Hawking-Zitat.

Dieser mindestens 40 Jahre alte Aphorismus wird Sephen Hawking seit 2001 unterschoben. Er hat ihn weder geprägt, noch jemals verwendet, wie Garson O’Toole (Quote Investigator) herausgefunden und dokumentiert hat (Link).

Geprägt hat den Aphorismus der amerikanische Historiker Daniel J. Boorstin:
  • "The fact is the savior, as long as you don’t jam it into some preconceived pattern. The greatest obstacle to discovery is not ignorance—it is the illusion of knowledge."
    Daniel J. Boorstin, Interview, 19. Januar 1984, The Washington Post
    (zitiert nach Garson O'Toole (Link) ).
     
 Stephen Hawking hinterließ viele schöne und wahre Sätze. Es ist befremdlich, wie oft er an seinem Todestag (14. März 2018) mit diesem falschen Zitat gefeiert wird.

 Twitter, 14. März 2018:

 






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Quellen:
Auf Twitter kommen am Todestag Stephen Hawkings pro Stunde 30-40 verschiedene Tweets mit diesem Zitat; also insgesamt geschätzte 500 Tweets (ohne die Retweets zu zählen).
Twitter english
Twitter deutsch
Garson O’Toole (Quote Investigator):  "The Greatest Obstacle to Discovery Is Not Ignorance—It Is the Illusion of Knowledge: Daniel J. Boorstin? Stephen Hawking? Henry Thomas Buckle? Anonymous?", 2016   (Link)
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Letzte Änderung: 21/04 2020 

Montag, 12. März 2018

"Nur weil du paranoid bist, heißt das noch lang nicht, dass sie nicht trotzdem hinter dir her sind.“ Woody Allen (angeblich)

Screenshot.
Dieser Witz stammt aus den1960er Jahren von einer unbekannten Autorin oder einem anonymen Autor und wurde damals durch Graffiti und Sticker verbreitet, wie Graffiti-Sammler 1971 dokumentierten.

Erst päter wurde er Joseph Heller, Woody Allen, Delmore Schwartz, Henry Kissinger, John Hart, Terry Pratchett, Kurt Cobain und anderen zugeschrieben. Henry Kissinger scheint ihn so ähnlich  1973 wirklich gesagt zu haben und auch Kurt Cobain hat ihn in seinem Song Territorial Pissings (Nirwana, 1991)  eingebaut, aber nicht geprägt.  

Die Behauptungen, die Wendung komme in einem Film Woody Allens oder in Catch 22 vor, konnten bisher nicht verifiziert werden, sind also aller Wahrscheinlichkeit nach falsch, da schon seit Jahren vergeblich danach gesucht wurde. 

Der Quote Investigator hat den Ursprung des Witzes dokumentiert und sich den Film Catch 22 genau angeschaut (Link).

1960er Jahre
1973
  • "just because i’m paranoid, delmore schwartz used to say, doesn’t mean i don’t have enemies."
    (Link).
     
  •  Henry Kissinger
    (Link).

1981

  • "'I'm proud to be human. Make no mistake! As for the other,' he said, turning, 'just because you're paranoid doesn't mean They aren't out to get you."
    Terry Pratchett, Strate (EA 1981),  
    (LINK)
 1991
  • "Gotta find a way
    To find a way
    When I'm there
    Gotta find a way
    A better way
    I had better wait

    Just because you're paranoid
    Don't mean they're not after you"
    Chet Powers und Kurt Cobain:  Territorial Pissings (Nirwana, 1991)
1993, Woody Allen?
  • Anscheinend erstmals Woody Allen zugeschrieben; ohne Quellenangabe.  (Link)
2108
  • "Die Tatsache, dass ich ein Paranoiker bin, bedeutet nicht, dass sie nicht trotzdem hinter mir her sind. (Woody Allen)"

Der Witz wurde also von Henry Kissinger,  Delmore Schwartz, Terry Pratchett und Kurt Cobain verwendet, er stammt aber aus einer unbekannten Quelle aus den 1960er Jahren. Joseph Heller und Woody Allen scheint er irrtümlich zugeschrieben zu werden.
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Quellen:

Quote Investigator:  "Even Paranoiacs Have Real Enemies  Henry Kissinger? Delmore Schwartz? Sigmund Freud? Virginia McManus? Mark Harris? Buck Henry? Joseph Heller? Anonymous?" 2016  (Link):

Artikel in Arbeit

 (Link)

(Link)

Dienstag, 6. März 2018

“Eine schmerzliche Wahrheit ist besser als eine Lüge.“ Thomas Mann (angeblich)


Pseudo-Thomas-Mann-Zitat.

Die verwickelte Geschichte dieses Pseudo-Thomas-Mann-Zitats beginnt mit einem Aphorismus Johann Wolfgang Goethes, den Thomas Mann zitiert und der ins Englische übersetzt von Arthur Koestler ungenau wiedergegeben wird.

Aus Goethes Hexameter, "Schädliche Wahrheit, wie zieh ich sie vor dem nützlichen Irrthum!",  entstand im Lauf von 160 Jahren durch Übersetzung, Schlamperei und Rückübersetzung das angebliche Thomas-Mann-Zitat: "Eine schmerzliche Wahrheit ist besser als eine Lüge".

 

Entwicklungsgeschichte:

  1. Goethe schrieb in einem Brief an Frau von Stein ein Lob der Wahrheit. 
  2. Später machte er aus diesem Bekenntnis einen Distichon. 
  3. Thomas Mann zitiert den Distichon mit veränderter Wortfolge.
  4. Dieses Goethe-Zitat wird 1937 ins Englische übersetzt. 
  5. Arthur Koestler macht aus dieser Übersetzung ein Thomas-Mann-Zitat. Er vergaß, dass Thomas Mann Goethe zitierte und änderte das Wort "Irrtum" in das Wort "Lüge" um. 
  6.  Später wurde Arthur Koestlers Thomas-Mann-Zitat gekürzt und 
  7.  dann so auch ins Deutsche übersetzt.


  1. 1787: "auch eine schädliche Wahrheit ist nützlich ... und umgekehrt ein nützlicher Irrthum schädlich". Goethe
  2. 1796: "Schädliche Wahrheit, wie zieh ich sie vor dem nützlichen Irrthum!" Goethe
  3. 1937: "Ich ziehe die schädliche Wahrheit dem nützlichen Irrtum vor." Goethe (zit. v. Th. Mann)
  4. 1937: "I prefer the harmful truth to the useful error." Goethe (zit. von Th. Mann)
  5. 1954: "In the long run, a harmful truth is better than a useful lie." Thomas Mann (zit. v.  A. Koestler)
  6. 1962: "A harmful truth is better than a useful lie." Thomas Mann (angeblich)
  7. "Eine schmerzliche Wahrheit ist besser als eine Lüge."  Thomas Mann (angeblich)


Pseudo-Thomas-Mann quote.





1787
  • "Ich kam neulich auf einen Gedanke, der mich sagen ließ: Auch eine schädliche Wahrheit ist nützlich, weil sie nur Augenblicke schädlich sein kann und alsdann zu andern Wahrheiten führt, die immer nützlich und sehr nützlich werden müssen, und umgekehrt ist ein nützlicher Irrtum schädlich, weil er es nur augenblicklich sein kann und in andre Irrtümer verleitet, die immer schädlicher werden."

    J. W. v. Goethe an Charlotte von Stein, Rom, 8. Juni 1787,  Goethes Briefe und Briefe an Goethe, Bd. 2: Briefe der Jahre 1786-1805, Hrsg.: Karl Robert Mandelkow, C. H. Beck, München: 1976, Brief 446,  S. 59  (Link)
1796
  •           "Was nutzt.
    Schädliche Wahrheit, wie zieh ich sie vor dem nützlichen Irrthum!

    Wahrheit heilet den Schmerz, den sie vielleicht uns erregt."

    J. W. v. Goethe: Musenalmanach für das Jahr 1797, herausgegeben von Schiller, Cottaische Buchhandlung, 2. Ausgabe, Tübingen: (1797), S. 159  (Link)
1800
  • "Schädliche Wahrheit, ich ziehe sie vor dem nützlichen Irrtum.
    Wahrheit heilet den Schmerz, den sie vielleicht uns erregt.
    "

    J.W. v. Goethe: Vier Jahreszeiten, Nr. 50 (1800) in: Goethe-Lexikon, hrsg. von Heinrich Schmidt, Kröner Verlag, Leipzig: 1912, S. 251; Nachdruck: (Link) 

1937

  • "Goethe erklärte: »Ich ziehe die schädliche Wahrheit dem nützlichen Irrtum vor. Eine schädliche Wahrheit ist nützlich, weil sie nur Augenblicke schädlich sein kann und alsdann zu anderen Wahrheiten führt, die immer nützlicher und nützlicher werden müssen; und umgekehrt ist ein nützlicher Irrtum schädlich, weil er nützlich nur einen Augenblick sein kann und in andere Irrtümer verleitet, die immer schädlicher werden.«"

    Thomas Mann: Vorwort zur Zeitschrift "Mass und Wert", hrsg. von Thomas Mann und Konrad Falke,
    Heft 1, September/Oktober 1937, Oprecht Verlag, Zürich: 1937,  S. 7 (Link)

1937
  • "Goethe declared: "I prefer the harmful truth to the useful error. A harmful truth is useful ...."

    Thomas Mann: Measure and Value. Artists we will be, and anti-barbarians", Story (magazine), November 1937,  Hrsg. von  Whit Burnett, Martha Foley, The Story Press, New York: 1937,  S. 7 (Link)
  1952
  • Arthur Koestler verabschiedete sich 1938 mit drei Zitaten von der Kommunistischen Partei: "The third was a quotation from Thomas Mann: 'In the long run, a harmful truth is better than a useful lie'."

    Arthur Koestler: The Invisible Writing: The Second Volume Of An Autobiography, 1932-40,  Collins with Hamish Hamilton, UK: 1954, 
    S. 388 (Link)
  1962

  •  "Thomas Mann: 'A harmful truth is better than a useful lie.'" 

1965
  • "Hätte Wilhelm den Ausspruch eines bekannten Dichters gekannt und auch beherzigen können: 'Eine schmerzliche Wahrheit ist besser, als eine Lüge!'"

2010
  • "»Eine schmerzliche Wahrheit ist besser als eine Lüge«, um es mit Thomas Mann auf den Punkt zu bringen."

2012
  • "'Eine schmerzliche Wahrheit ist besser als eine Lüge.' (Buddhistische Weisheit)"

Dieses Pseudo-Thomas-Mann-Zitat ist heute auf Englisch so beliebt wie auf Deutsch und so wie viele beliebte Zitate wird es auch anderen Personen unterschoben.
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Quellen:
Google, Deutsch,    Google-Englisch 
Johann Wolfgang von Goethe an Charlotte von Stein, Rom, 8. Juni 1787,  Goethes Briefe und Briefe an Goethe, Bd. 2: Briefe der Jahre 1786-1805, Hrsg.: Karl Robert Mandelkow, C. H. Beck, München: 1976, Brief 446,  S. 59  (Link)
J. W. v. Goethe: Musenalmanach für das Jahr 1797, herausgegeben von Schiller, Cottaische Buchhandlung, 2. Ausgabe, Tübingen: (1796), S. 159  (Link)
 J.W. v. Goethe: Vier Jahreszeiten, Nr. 50 (1800) in: Goethe-Lexikon, hrsg. von Heinrich Schmidt, Kröner Verlag, Leipzig: 1912, S. 251; Nachdruck: (Link)  

Thomas Mann: Vorwort zur Zeitschrift "Mass und Wert", hrsg. von Thomas Mann und Konrad Falke, Heft 1, September/Oktober 1937, Oprecht Verlag, Zürich: 1937,  S. 7 (Link)
Thomas Mann: Measure and Value. Artists we will be, and anti-barbarians", Story (Magazine), November 1937,  Hrsg. von  Whit Burnett, Martha Foley, The Story Press, New York: 1937,  S. 7 (Link)

Arthur Koestler: The Invisible Writing: The Second Volume Of An Autobiography, 1932-40,  Collins with Hamish Hamilton, UK: 1954,  S. 388 (Link)
Arthur Koestler: Pfeil ins Blaue. Bericht eines Lebens. 1905–1931. Übers. von Eduard Thorsch, Desch, München: 1953
Arthur Koestler: Die Geheimschrift. Bericht eines Lebens. 1932 bis 1940.  Übers. von Franziska Becker, Desch, München: 1955 

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Dank:
Ich danke Basso Continuo sehr für seine Funde und Hinweise.

"Die Tafel Essen: Wir haben diese Menschen zu uns eingeladen, also müssen wir sie zuerst versorgen!" Angela Merkel (angeblich)

Dieses Zitat wurde von einem AfD-nahen Blogger vor einer Woche erfunden und scheint - so wie viele andere völlig falsche oder entstellte Zitate dieses Bloggers (Link) - auf Facebook sehr erfolgreich zu sein.

Nach den empörten Kommentaren zu schließen, glauben viele Leute, diesen Satz habe Angela Merkel tatsächlich gesagt.

Patrick Gensing vom ARD-Faktenfinder hat die Entstehung und Verbreitung dieses erlogenen Zitats analysiert und dokumentiert  (Link) .

Twitter:


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Quellen:
Patrick Gensing, tagesschau.de: "Fake über Merkel erfolgreichster Artikel", 28. Februar 2018, Faktenfinder (Link) 

Dokumentation von Buzzfeed zu Blog.Halle-Leaks.de :
Karsten Schmehl: "Diese Webseite verbreitet Fake-Zitate auf Facebook und überholt damit echte Nachrichten", 15. März 2017  (Link)
mimikama.at/allgemein/fake-merkel-tafel/

https://www.waz.de/politik/essener-tafel-fake-news-mit-merkel-bild-im-netz-verbreitet-id213586665.html

Samstag, 3. März 2018

„Je weiter sich eine Gesellschaft von der Wahrheit entfernt, desto mehr wird sie jene hassen, die sie aussprechen.“ George Orwell (angeblich)

Pseudo-George-Orwell quote.
 
Twitter; Pseudo-George-Orwell quote.
Dieses weit verbreitete angebliche George-Orwell-Zitat, das besonders gerne Personen aus dem rechten Spektrum zitieren, ist noch keine 10 Jahre alt, wie Rechercheure von Wikiquote herausgefunden haben.

Geprägt wurde das Zitat laut Wikiquote von dem Kolumnisten Selwyn Duke in einem Artikel für den "Conservativ Crusader" am 6. Mai 2009 (Link).

Zwei Jahre später wurde dieses Zitat erstmals George Orwell unterschoben und seit 2013 wird es auch auf Deutsch über Twitter etc. verbreitet.
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Varianten des Falschzitats:

  • "The further a society drifts from truth, the more it will hate those who speak it."
  • "Je weiter eine Gesellschaft von der Wahrheit wegtreibt, desto mehr wird sie diejenigen hassen, die diese aussprechen."
  • "Je weiter sich eine Gesellschaft von der Wahrheit entfernt, desto mehr wird sie jene hassen, die sie aussprechen."

 In den Schriften George Orwells ist dieses Zitat nicht zu finden.

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Quellen:
Google: "Ungefähr 3 850 Ergebnisse"
Twitter 
Wikiquote: "the earliest source citing (Orwell) as author appears to be a post from Jsnip4 on the RealistNews.net forum (15 February 2011)".
Selwyn Duke: "Stopping Truth At The Border: Banning Michael Savage From Britain", 6 Mai 2009,  (Link);  Duke zitiert in diesem Artikel übrigens dieses falsch zugeschriebene Orwell-Zitat:
"In Zeiten universeller Täuschung ist das Aussprechen von Wahrheit ein revolutionärer Akt."

Donnerstag, 1. März 2018

"Ich hab' einen Gefangenen gemacht, und er lässt mich nicht mehr los." Johann Nestroy (angeblich)

Kikeriki, 10. August 1876, S, 3 (Anno)

Dieser Witz war im 19. Jahrhundert nachweislich seit 1827 in geringfügig verschiedenen Anekdoten weit verbreitet und wurde sowohl von Heinrich Heine als auch von Johann Nestroy erzählt.

Ralf Bülow hat herausgefunden, dass schon Georg Christoph Lichtenberg die schottische Anekdote von dem Soldaten, der damit angibt, einen Gefangenen gemacht zu haben, aber selbst angekettet ist, 1775 in sein Sudelbuch notiert hatte:


1775, Lichtenberg


Georg Christoph Lichtenberg, Sudelbücher, Heft E, 92 (Link)


Nestroy legt diesen witzigen Selbstwiderspruch der Figur des "Sansquartier" in der Posse "Sechs Mädchen in Uniform" in den Mund. Die Uraufführung des Stücks "Sechs Mädchen in Uniform" von Louis Angely, in der Johann Nestroy die Hauptrolle spielte, fand am 5. Dezember 1827 in seiner Bearbeitung in Graz statt.

Die Anekdote mit den Gefangenen erschien einen Monat davor, am 9. November 1827, in dem Cotta'schen "Literatur-Blatt", kann also nicht von Johann Nestroy für dieses Stück geprägt worden sein, wenngleich sie in seiner Version Flügel bekam.

Es gibt Varianten mit ein, zwei, drei und sechs Gefangenen, aber in den mir bekannten Versionen von Johann Nestroys Bearbeitung sind es immer zwei Gefangene, die den Soldaten nicht los lassen.

Ob Johann Nestroy seine Bearbeitung des Stücks "Sechs Mädchen in Uniform" in dieser Form schon 1827 oder erst später verfasst hat, weiß ich nicht. Woher die Nestroy zugeschriebene Version mit nur einem Gefangenen stammt, kann ich auch noch nicht sagen.
Johann Nestroy als Sansquartier, Urbach 1984, S. 15

1827, anonyme Anekdote 

  • "In der That, die Scottische Rede erinnert an die Gasconade eines Korporals, der seinem Hauptmann von Weitem zurief: Kapitän, ich habe sechs Gefangene gemacht. – Führe sie her, antwortet der Offizier. – Sie wollen nicht gehen. – So komme allein. – Kapitän, sie lassen mich nicht fort."
    Literatur-Blatt Nr. 90, 9. November 1827,
    (Cotta, Stuttgart: 1827), S. 357  (Link)

Johann Nestroy, 4 Versionen

  • "SANSQUARTIER (der entwaffnet wurde und von 2 Türken festgehalten wird).
    Commandant! Ich habe 2 Gefangene gemacht!

    BRIQUET. Wo sind sie?

    SANSQUARTIER. Da sein's! Aber sie lassen mich nit aus!"
    Johann Nestroy:
    "Zwölf Mädchen in Uniform", in:  Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Nachträge, Stücke - Band 39, Ausgabe 2. Herausgegeben von Friedrich Walla, W. E. Yates und  Jürgen Hein, Deuticke, Wien: 2007,  S. 37 (Link)
  • "Sansquartier: Herr Kommandant! Ich habe zwei Gefangene gemacht!
    Briquet: Bringt sie her!

    Sansquartier: Sie lassen mich nicht aus."
    Unbekannter Nestroy: Zwölf Mädchen in Uniform, Wien: 1953, S. 44 
    (Link)

Alexander Scharf, Wiener Sonn- und Montags-Zeitung, 26. Dezember 1868, S.4
  • "SANSQUARTIER:  Herr Schuverneur! Ich habe zwei Gefangene gemacht.
     GOUVERNEUR:     So bring' Er sie her.

     SANSQUARTIER:   Ja, sie lassen mich nicht los."
    Nach Alexander Scharf, Wiener Sonn- und Montags-Zeitung, 26. Dezember 1868, S. 4  (Link)
  • "Wem fällt da nicht Nestroy ein mit seinem berühmten Worte: 'Ich habe einen Gefangenen gemacht, aber er laßt mi nöt los!'"
    Landshuter Zeitung, Nr. 271,  25. November 1877, S. 1621  (Link)

 Binzer

  • 1833: Als die Alliirten "Paris erobert hatten, ging es ihnen fast wie jenem Soldaten, der den Kameraden zurief: „ich habe einen Gefangenen gemacht!" als aber dagegen der Ruf: «bringe ihn her!" erscholl, antworten mußte: „er läßt mich nicht los."
    A.T. Beer (August Daniel Freiherr von Binzer):  "Kallendorf", Morgenblatt für gebildete Leser, Nr. 52, 1. März 1833,  - Band 27 - S. 207 (Link)

Heinrich Heine

  • 1839: "Er mahnt uns ganz an den Rekruten, der, von einem Wachtposten aus, seinem Hauptmann entgegenschrie: «Ich habe einen Gefangenen gemacht.» — «So bringt ihn zu mir her,» antwortete der Hauptmann. « Ich kann nicht,» erwiederte der arme Rekrut, «denn mein Gefangener lässt mich nicht mehr los.»"
    Heinrich Heine (Link)
  • 1841: "Ein Republikaner hasst daher das Geld mit großem Recht, und wird er dieses Feindes habhaft, ach! so ist der Sieg noch schlimmer als eine Niederlage; der Republikaner, der sich des Geldes bemächtigte, hat aufgehört, ein Republikaner zu sein! Er gleicht dann jenem österreichischen Soldaten, welcher ausrief: „Herr Korporal, ich habe einen Gefangenen gemacht!" aber, als der Korporal ihn seinen Gefangenen herbeiführen hieß, die Antwort gab: „Ich kann nicht, denn er läßt mich nicht los."
    Heinrich Heine: "Lutetia" (EA: 1841), Französische Zustände, 30. Mai 1840 (Link)

Karl Kraus

    • "Und mein unerschrockener Bekämpfer (den ich eines Rückfalls, wie ihn der Tricot-Artikel bedeuten würde, nicht für fähig halte) mag, meinen Einfluß dankbar erkennend, mit Nestroy ausrufen: »Ich habe einen Gefangenen gemacht, und er lässt mich nicht mehr los!«"
      Karl Kraus, Die Fackel, 1902  Nr. 121, 2
    • "Vom Künstler und dem Gedanken gelte das Nestroy’sche Wort: Ich hab’ einen Gefangenen gemacht und er läßt mich nicht mehr los." 
      Karl Kraus, Die Fackel, 1910,  Nr. 300, 23 
    • "Herr Friedjung hat, um mit Nestroy zu sprechen, einen Gefangenen gemacht, und der läßt ihn nicht mehr los."
      Karl Kraus, Die Fackel, 1912, Nr. 345, 43
    • "Hier ist er eine mit »nämlich«, »übrigens«, »notabene« koordinierte, beigesellte oder gleichgesetzte, Ausführung; dort ist er subordiniert, aber das Verhältnis ist so fest, daß der Hauptsatz in ihm einen Gefangenen gemacht hat, der ihn nicht mehr losläßt."
      Karl Kraus, Die Fackel, 1921, Nr.572, 17
    • "Es wird zwischen dem koordinierten Relativsatz unterschieden und dem subordinierten, bei dem aber das Verhältnis so fest sei, »daß der Hauptsatz in ihm einen Gefangenen gemacht hat, der ihn nicht mehr losläßt«."
      Karl Kraus, Die Fackel, 1927, Nr. 751, 47
    Welche Quelle Karl Kraus für seine Version des Nestroy-Zitats verwandte, kann ich noch nicht sagen.
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    Quellen:
    Johann Nestroy: "Zwölf Mädchen in Uniform", in: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Nachträge, Stücke, Band 39, Ausgabe 2. Herausgegeben von Friedrich Walla, W. E. Yates und  Jürgen Hein, Deuticke, Wien: 2007,  S. 37 (Link)
    "Unbekannter Nestroy": Zwölf Mädchen in Uniform; Ein gebildeter Hausknecht; Friedrich, Prinz von Korsika. Aus den Handschriften herausgegeben von Gustav Pichler, W. Frick, Wien: 1953, S. 44  (Link)
     J.N. Nestroy, Stich- u. Schlagworte. Zusammengestellt von Reinhard Urbach, Verlag Christian Brandstätter, Wien: 1984, S. 15
    Alexander Scharf, Wiener Sonn- und Montags-Zeitung, 26. Dezember 1868, S. 4 (Link)  
    Internationales Nestroy Zentrum Schwechat: Informationen zu "Sieben Mädchen in Uniform", auch:  "Zwölf Mädchen in Uniform",  Posse in einem Akt von Louis Angely in der Bearbeitung von Johann Nestroy: (Nestroy.at)
    Anonym, Literatur-Blatt Nr. 90, 9. November 1827, (Cotta, Stuttgart: 1827), S. 357  (Link)
    A.T. Beer (August Daniel Freiherr von Binzer): "Kallendorf", Morgenblatt für gebildete Leser, Nr. 52, 1. März 1833,  - Band 27 - S. 207 (Link)
    Louis Angely, Sieben Mädchen in Uniform, 1825
    Meidlinger Witz (Link) 
    Kikeriki, 10. August 1876, S, 3  (Anno)
    Heinrich Heine: "Lutetia" (EA: 1841), Französische Zustände, 30. Mai 1840, Sämtliche Werke: Sechster Band, Nachdruck 2017, S. 173 (Link)
    Landshuter Zeitung, Nr. 271,  25. November 1877, S. 1621 (Link) 
    Karl Kraus, Die Fackel, 1910,  Nr. 300, 23
    Georg Christoph Lichtenberg: Sudelbücher, Heft E, 92 (Link) (Die Erstveröffentlichung dieser Lichtenberg-Notiz habe ich noch nicht herausgefunden.)
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    Dank:

    Ich bin Wolfgang Gruber für seine Hinweise und Recherchen sehr dankbar und danke auch Ralf Bülow für seinen Hinweis auf Lichtenbergs Sudelbücher sehr.

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    Artikel in Arbeit
    Arbeiter Zeitung 1891   (Link), 1894 (Link)

    Schlechte Kritik 1861 einer Nestroy-Aufführung (Link), 
    alte Meidlinger Witz (Link), alte Anekdote (Link), 
    Parlament (Link)
    drei Gefangene (Link)
    Victor Adler (Link)

    14 Mädchen (Link)