Samstag, 2. Dezember 2017

"Hinaus mit dem Schuft aus Wien!" Karl Kraus (angeblich)

Karl Kraus Online, Wienbibliothek, Vorlesungsprogramm 8. Oktober 1925.


Mit der Parole "Hinaus aus Wien mit dem Schuft!" vom Juni 1925, die Karl Kraus in den folgenden Monaten noch oft wiederholte und die bald ein geflügeltes Wort wurde, gelang es Karl Kraus, die Öffentlichkeit und die Justiz gegen den korrupten Zeitungsverleger Imre Békessy erfolgreich zu mobilisieren. Dieser erpresserische "Schwerverleger" musste ein Jahr später Wien verlassen und flüchtete im Juli 1926 vor einem drohenden Strafverfahren nach Paris.
  • "Die Arbeiter-Zeitung (28. Juni) brachte die folgende Zuschrift des Kartenbureaus Richard Lányi:
    ‚Die Stunde‘ stellt in einer Notiz die Behauptung auf, daß dem Vortrag, den Karl Kraus am 25. Juni unter dem Titel: »Entlarvt durch Bekessy« im mittleren Konzerthaussaal gehalten hat, im ganzen 150 Personen beigewohnt haben. Als Veranstalter des Vortrags stelle ich fest, daß der Saal 882 zum Verkauf gelangende Plätze, außer den Pflichtplätzen, enthält, welche lange vor dem Abend vollständig vergriffen waren, daß noch auf dem Podium [hinter der spanischen Wand] Stühle aufgestellt werden mußten, daß der Saal überfüllt war, daß mehr als 1000 Personen abgewiesen worden waren, so daß sich auch der große Konzerthaussaal, den ich leider nicht gemietet hatte, als zu klein erwiesen hätte. 
    Und daß die mehr als 900 Anwesenden sich dem Rufe des Redners: »Hinaus aus Wien mit dem Schuft!« angeschlossen haben."
    Die Fackel Nr. 691-696, Juni 1925, S. 36
Diese Parole von Karl Kraus gehört heute noch zu seinen bekanntesten Zitaten und wird - so wie sein missverstandener Satz aus der Dritten Walpurgisnacht, "Mir fällt zu Hitler nichts ein",  - öfters mit falscher Wortfolge wiedergegeben (Google).

Wenn unseriöse Journalisten Karl Kraus zitieren, geht die Sache nicht nur bei diesem Zitat regelmäßig schief.

Ein Beispiel:
  • "In den 20er-Jahren des vorigen Jahrhunderts gab es in Wien den berüchtigten Herausgeber Imre Békessy. Mit seinem Krawallblatt 'Die Stunde' sank der Journalismus auf eine bis dahin nicht gekannte Niveaulosigkeit. Békessys schärfster Gegner war Karl Kraus, von dem der berühmte Satz überliefert ist: 'Hinaus mit dem Schuft aus Wien!'" 
    Michael Jeannée,  Kronen Zeitung,  4. Juni 2017 ( Link)
  • "'Hinaus mit dem Schuft aus Wien!'
    Zum Schluss seiner Kolumne zitiert Jeannée dann noch einen überlieferten Satz von Karl Kraus, den dieser in den 1920er Jahren seinem schärfsten Journalisten-Gegner Imre Békessy, der in den Kraus' Augen [mhm] ebenfalls ein "Krawallblatt" produzierte, entgegen warf: 'Hinaus mit dem Schuft aus Wien!'"
    Unzensuriert.at 5. Juni 2017 (Link)
 



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Quellen:
Google
Karl Kraus: Die Fackel Nr. 691-696, Juni 1925, S. 36; Nr. 697-705, Oktober 1925, S. 145-176
Karl Kraus: Vorlesungsprogramm, 8. Oktober 1925, Karl Kraus Online, Wienbibliothek (Link)
Arbeiter-Zeitung, Wien, 16. Juli 1926, S. 4 (Link)
Michael Jeanée,  Kronen Zeitung,  4. Juni 2017 (Link)
Unzensuriert.at 5. Juni 2017 (Link)
Mit veränderter Wortfolge zitierten den Satz zum Beispiel auch Walter Jens und Jörg Haider.
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Theodor W. Adorno erinnert sich, dass Karl Kraus, "das Recht in die eigene Hand nahm und 1925 in einer Vorlesung, die keiner vergessen wird, der zugegen war, den Herrn der 'Stunde', Imre Bekessy, mit den Worten 'hinaus mit dem Schuft aus Wien' von der Stätte seines Wirkens endgültig vertrieb." Theodor W. Adorno, Sittlichkeit und Kriminalität
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Artikel in Arbeit.

Freitag, 1. Dezember 2017

"Gute Künstler kopieren, große Künstler stehlen." Pablo Picasso (angeblich)

Pseudo-Pablo-Picasso-Zitat.
 Das Problem bei diesem berühmten Picasso-Zitat ist, dass es noch niemand in einem Text oder Interview Pablo Picassos gefunden hat. Populär wurde diese falsche Zuschreibung durch Steve Jobs, der sich mehrfach auf diese angebliche Picasso-Maxime, "Good artists copy. Great artists steal", bei der Entwicklung seines Macintosh Computers berufen hat.

Inzwischen wird dieser Aphorismus, über dessen Interpretation viel gestritten wird (Link), manchmal Steve Jobs selbst zugeschrieben.

Pseudo-Steve-Jobs-Zitat.
Garson O’Toole (Quoteinvestigator) ist der Evolution des Zitats nachgegangen. Am Anfang der Reihe stand ein Satz, der ungefähr das Gegenteil des späteren Pseudo-Picasso-Zitats behauptete:

1892
  • "Die großen Dichter ahmen nach und verbessern, während die kleinen stehlen und verschlechtern."
    W. H. Davenport Adams, 1892 (Quoteinvestigator)
1920
  • "Unreife Dichter imitieren; reife Dichter stehlen."
    T. S. Eliot:
    "Philip Massinger"  (Link) 
 1959
  • "Unreife Künstler entlehnen, reife Künstler stehlen."
    Marvin Magalaner paraphrasiert T.S. Eliot (Quoteinvestigator)
In den folgenden Jahrzehnten wurden Varianten dieses T.S.-Eliot-Aphorismus auch William Faulkner und Igor Strawinsky zugeschrieben und 1988 erstmals - von Steve Jobs - Pablo Picasso.

1996, Steve Jobs:
  • I mean Picasso had a saying he said good artists copy great artists steal. And we have always been shameless about stealing great ideas ehm and I think part of what made the Macintosh great was that the people working on it were musicians and poets and artists and zoologists and historians who also happened to be the best computer scientists in the world.
    Steve Jobs, June 1996, PBS TV special, Transcript (Link)

Ich empfehle dazu den ausführlicheren Artikel von Garson O’Toole, dem wir viele Entdeckungen zur Entwicklung dieses Spruchs verdanken.
 
2015
  • "Good artists copy; great artists steal; and most marketers misattribute."
    Jeremy Arnold  Quora.com
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Quellen:
Google
Garson O'Toole: "Hemingway Didn't Say That: The Truth Behind Familiar Quotations." Little A, New York: 2017, S. 17-23
Garson O’Toole, Quoteinvestigator:  "Good Artists Copy; Great Artists Steal. Steve Jobs? Pablo Picasso? T. S. Eliot? W. H. Davenport Adams? Lionel Trilling? Igor Stravinsky? William Faulkner? Apocryphal?" 2013 (Link)
T. S. Eliot: "Philip Massinger" in: The Sacred Wood. Essays On Poetry and Criticism. Methuen and Co., London: 1920, p. 114 Archive.org, (Link)
Steve Jobs, 1996: "Triumph of the Nerds: The Rise of Accidental Empires", PBS TV special,  June 1996, Transcript Part III (Link) (1. Dez. 2017)

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Dank:
Ich danke, wie so oft, Garson O'Toole.

Donnerstag, 30. November 2017

"Wer Sicherheit der Freiheit vorzieht, ist zu Recht ein Sklave." Aristoteles (angeblich)

Pseudo-Aristoteles quote.
Der Autor oder die Autorin dieses bei der Piratenpartei beliebten Aphorismus ist unbekannt. Erst  im 21. Jahrhundert wird er Aristoteles unterschoben und ist in dessen Werken unauffindbar.

Der Spruch könnte aus dem lateinischen Sprichwort, "Lieber gefahrvolle Freiheit, als ruhige Sklaverei", entstanden sein: "Malo periculosam libertatem, quam quietum servitium", war das Motto von Rafał Leszczyński, das sein Sohn, der polnische König Stanisław Leszczyński, überliefert hat und von Jean Jacques Rousseau in seinem "Du Contrat Social" und später von vielen anderen zitiert wird.


Varianten, die fälschlich Aristoteles zugeschrieben werden:
  • "Wer Freiheit aufgibt um Sicherheit zu gewinnen, ist zu Recht ein Sklave.“
  • "Wer Freiheit für Sicherheit aufgibt ist zurecht ein Sklave."
  • "Wer Sicherheit der Freiheit vorzieht, ist zu Recht ein Sklave." 

Auch Benjamin Franklin könnte den Spruch angeregt haben:

  • "Wer bereit ist, eine fundamentale Freiheit aufzugeben, um eine kurzfristige kleine Sicherheit zu erlangen, verdient weder Freiheit noch Sicherheit."
  • "Those who would give up essential Liberty, to purchase a little temporary Safety, deserve neither Liberty nor Safety."
    Benjamin Franklin, 1755 (Link)
Dieses Franklin-Zitat wird meistens verkürzt wiedergegeben:
  • "Der Mensch, der bereit ist, seine Freiheit aufzugeben, um Sicherheit zu gewinnen, wird beides verlieren."  
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Quellen:
Um 2002 erstmals Aristoteles zugeschrieben: Google
J.J. Rousseau: "Du Contrat Social" (Link); (Link)
Benjamin Franklin, 1755 (Link)  
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Artikel in Arbeit. Letzte Änderung 28/8 2019

Mittwoch, 29. November 2017

"Freiheit stirbt mit Sicherheit." Kurt Tucholsky (angeblich)

Pseudo-Tucholsky quote.


"Freiheit stirbt mit Sicherheit" war 1988 der Titel eines Kongresses gegen den Überwachungsstaat  und später der Titel eines Films von Horst Herbst (Link). Dieser Slogan einer unbekannten Autorin wird durch Graffiti und auf Transparenten verbreitet und seit kurzem auch manchmal fälschlich Kurt Tucholsky zugeschrieben (Link).
  
Autor: unbekannt.
Film von Horst Herbst, 1991, Youtube:


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Quellen:
Google
Horst Herbst: "Freiheit stirbt mit Sicherheit". Film, WDR, Köln: 1991 (Link)
Friedhelm Greis: Sudelblog, Angebliche Tucholsky-Zitate

Dienstag, 28. November 2017

"Einen Fehler durch eine Lüge zu verdecken heißt, einen Flecken durch ein Loch zu ersetzen." Aristoteles (angeblich)

Pseudo-Aristotle quote.

Dieser Spruch wird Aristoteles erst im 21. Jahrhundert zugeschrieben. Auf Englisch, Griechisch oder Französisch habe ich ihn sowenig gefunden wie eine Stelle in einem Werk von Aristoteles, die so ähnlich wie das Zitat klingt. Es ist also wahrscheinlich ein Falschzitat.  

Wer es geprägt hat, wissen wir nicht. Es könnte aus Sprichwörtern wie, "Wer seinen Fehler durch eine Lüge entschuldigt, der macht das Uibel noch ärger", entstanden sein (Link).

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Quellen:
Google
Erstmals zugeschrieben 2002:
Universitas, Band 57, Ausgaben 673-678, Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Stuttgart: 2002, S. 880 (Link)

Montag, 20. November 2017

"... nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch ..." Theodor W. Adorno

Dieses umstrittene, wahrscheinlich meistizitierte, provokative Adorno-Zitat ist das zentrale Element eines Satzes von ingesamt 37 Wörtern, die bei der Interpretation des Zitats mitgedacht gehören.

Theodor W. Adorno:


1949/1951
  • "Noch das  äußerste Bewusstsein vom Verhängnis droht zum Geschwätz zu entarten. Kulturkritik findet sich der letzten Stufe der Dialektik von Kultur und Barbarei gegenüber: nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch, und das frisst auch die Erkenntnis an, die ausspricht, warum es unmöglich ward, heute Gedichte zu schreiben." 
    Theodor W. Adorno: Kulturkritik und Gesellschaft
1962

  • "Den Satz, nach Auschwitz noch Lyrik zu schreiben, sei barbarisch, möchte ich nicht mildern; negativ ist darin der Impuls ausgesprochen, der die engagierte Dichtung beseelt."
    Theodor W. Adorno: Engagement 

1966
  • "Das perennierende Leiden hat soviel Recht auf Ausdruck wie der Gemarterte zu brüllen; darum mag falsch gewesen sein, nach Auschwitz ließe sich kein Gedicht mehr schreiben. Nicht falsch aber ist die minder kulturelle Frage, ob nach Auschwitz noch sich leben lasse, ob vollends es dürfe, wer zufällig entrann und rechtens hätte umgebracht werden müssen. Sein Weiterleben bedarf schon der Kälte, des Grundprinzips der bürgerlichen Subjektivität, ohne das Auschwitz nicht möglich gewesen wäre: drastische Schuld des Verschonten. Zur Vergeltung suchen ihn Träume heim wie der, daß er gar nicht mehr lebte, sondern 1944 vergast worden wäre, und seine ganze Existenz danach lediglich in der Einbildung führte, Emanation des irren Wunsches eines vor zwanzig Jahren Umgebrachten."
    Theodor W. Adorno: Negative Dialektik, Meditationen zur Metaphysik
Über dieses Zitat wurde jahrzehntelang schon viel Falsches und Richtiges geschrieben. Einen kurzen Überblick dazu findet man auf Wikipedia, lesenswert ist auch Burkhardt Lindners Artikel: "Was heißt: Nach Auschwitz? Adornos Datum" (Link).
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Quellen:
Burkhardt Lindner: "Was heißt: Nach Auschwitz? Adornos Datum", in: Stephan Braese ua. (Hg.): Deutsche Nachkriegsliteratur und der Holocaust. Campus Verlag, Frankfurt / New York: 1998, S. 283ff. (Link)
Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften, Band  10.1. Hrsg. von Rolf Tiedemann. Suhrkamp, Frankfurt: 1977, S. 30. 
Theodor W. Adorno: Negative Dialektik. Suhrkamp, Frankfurt: 1973, S. 355
Theodor W. Adorno: Engagement (Vorerst zitiert nach Wikipedia) 
Wikipedia

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Artikel in Arbeit. Zitate noch nicht überprüft.

Donnerstag, 16. November 2017

"Wenn ein Mann über eine Frau nachzudenken beginnt, gehört er ihr schon halb." Marcel Proust (angeblich)


Pseudo-Marcel-Proust quote.
Dieser Spruch wird seit 1974 dem französischen Autor und Regisseur Marcel Pagnol zugeschrieben und erst seit 2007 Marcel Proust unterschoben.

Da das Zitat erst im 21. Jahrhundert Marcel Proust zugeschrieben wurde und da ich es weder auf Französisch noch auf Deutsch oder Englisch in einem digitalisierten Text von oder über Marcel Proust gefunden habe, ist es höchstwahrscheinlich irrtümlich Marcel Proust unterschoben worden. Solche Verwechslungen bei ähnlichen Autorennamen kommen ja öfters vor.

Ein französische Quelle für die Zuschreibung an Marcel Pagnol kenne ich noch nicht.

Varianten:
  • "Wenn ein Mann über eine Frau nachzudenken beginnt, gehört er ihr schon halb."
  • "Wenn ein Mann über eine Frau nachzudenken beginnt, hat sie ihn schon halb gewonnen."
  • "Wenn ein Mann anfängt über eine Frau nachzudenken, dann hat sie gewonnen."
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Quellen:
Eine der ersten Zuschreibungen an Marcel Proust: 2007: (Link)
Google
Erste Zuschreibung an Marcel Pagnol: 1974:
Markus R. Ronner: "Die Treffende Pointe: humoristisch-satirische Geistesblitze des 20. Jahrhunderts nach Stichwörtern alphabetisch geordnet." Ott Verlag, Thun: 1974, S. 216 (Link)