Sonntag, 25. Juni 2017

"In Zeiten universeller Täuschung ist das Aussprechen von Wahrheit ein revolutionärer Akt.“ George Orwell (angeblich)

Pseudo-George-Orwell-Zitat.

Pseudo-George-Orwell-Zitat.
Wie jedes Jahr wurde auch 2017 wieder dem Autor von "1984", der leidenschaftlich für sorgfältigen und wahrheitsgetreuen Journalismus warb, mit fälschlich ihm zugeschriebenen Zitaten zum Geburtstag gratuliert.

32 Jahre nach seinem Tod wird George Orwell dieses Wahrheits-Zitat erstmals unterschoben, fand Garson O'Toole, der Autor der sorgfältig gemachten Webseite Quote Investigator, heraus. Seitdem haben es schon Viele in Orwells Schriften gesucht, aber noch niemand hat es gefunden.

Es ist also nicht wahr, dass Orwell gesagt hat, das Aussprechen der Wahrheit sei ein revolutionärer Akt, auch wenn dieses Zitat unter seinem Namen auf der ganzen Welt verbreitet wird.

Dieses Zitat geht auf Ferdinand Lassalle, Rosa Luxemburg, Heinrich Mann und Antonio Gramsci zurück.  


Pseudo-Orwell-Zitat:

  • "In Zeiten, da Täuschung und Lüge allgegenwärtig sind, ist das Aussprechen der Wahrheit ein revolutionärer Akt."
  • "In Zeiten globalen Betrugs gilt es als revolutionäre Tat, wenn man die Wahrheit sagt." 
  • "In Zeiten universeller Täuschung ist das Aussprechen von Wahrheit ein revolutionärer Akt."
  • "In einer Zeit des Universalbetrugs ist die Wahrheit zu sagen eine revolutionäre Tat."
  • "In a time of universal deceit — telling the truth is a revolutionary act."
  • "During times of universal deceit, telling the truth becomes a revolutionary act."
  • "Speaking the truth in times of universal deceit is a revolutionary act."

Dass das Aussprechen der Wahrheit eine revolutionäre Tat oder ein revolutionärer Akt ist, haben Rosa Luxemburg, Heinrich Mann und Antonio Gramcsi geschrieben, aber nicht George Orwell.

Ferdinand Lassalle, Rosa Luxemburg und Antonio Gramsci

Die Erkenntnis, dass das Aussprechen der Wahrheit, also "dessen, was ist", jeder erfolgreichen Politik vorausgehen muss, geht auf den Gründer der deutschen Sozialdemokratie, Ferdinand Lassalle, zurück.

Rosa Luxemburg erinnert 1906 daran:
  • "Wie Lassalle sagte, ist und bleibt die revolutionärste Tat, immer 'das laut zu sagen, was ist'. "
    Rosa Luxemburg, 1906 (Link)

1813, Fichte
  • "Bonaparte, der es liebt, auszusprechen, was ist, hat es gethan, und würde fortgefahren haben, es zu thun."
    Johann Gottlieb Fichte: "Politische Fragmente", 1813 (Link)
1862, Lassalle
  • "Dies ist die Macht des Aussprechens dessen, was ist. Es ist das gewaltigste politische Mittel! Fichte constatirt in seinen Werken, daß »das Aussprechen dessen, was ist,« ein Lieblingsmittel des alten Napoleon gewesen, und in der That hat er ihm einen großen Theil seiner Erfolge verdankt. Alle große politische Action besteht in dem Aussprechen dessen, was ist, und beginnt damit. Alle politische Kleingeisterei besteht in dem Verschweigen und Bemänteln dessen, was ist."
    Ferdinand Lassalle: "Was nun?" Zweiter Vortrag über Verfassungswesen.  (1862) Meyer u. Zeller, Zürich: 1863, S. 35 (Link)
 1906, Luxemburg
"Wie Lassalle sagte, ist und bleibt die revolutionärste Tat, immer »das laut zu sagen, was ist«."
Rosa Luxemburg: "In revolutionärer Stunde: Was weiter?" (1906) (Link); polnische Erstausgabe: "Z doby rewolucyjnej: Co dalej?" (Link)
1919 , Gramsci

  • "To tell the truth, to arrive together at the truth, is a communist and revolutionary act."
    Antonio Gramsci und Palmiro Togliatti,  L’Ordine Nuovo, 21 June 1919, Vol. 1, No. 7.
--

Karl Georg von Raumer


1819
  • "Jede keimende Wahrheit ist revolutionär gegen den entgegenstehenden herrschenden Irrthum, jede keimende Tugend revolutionär gegen das im Schwange gehende, ihr widersprechende Laster."
    Karl Georg von Raumer: "Das Turnen und der Staat. Georg, Otto" in: "Vermischte Schriften." G. Reimer, Berlin: 1819, S. 102 (Link)
     
 

Heinrich Mann

1915
  • "So tat er den nächsten, - und der war revolutionär, das Aussprechen der Wahrheit, die viele kannten und die niemand zu nennen wagte, das Aussprechen mit aller Gefahr für ihn selbst und für das Land. Das Blatt hieß L'Aurore ..."
    Heinrich Mann: "
    Émile Zola" (1915), Insel Verlag, Frankfurt am Main: 1962 (Link)

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Quellen:
Johann Gottlieb Fichte: Politische Fragmente, B. "Aus dem Entwurfe einer politischen Schrift aus dem Jahre 1813", in: Johann Gottlieb Fichte's sämmtliche Werke. Band 7 Dritte Abteilung. Populärphilosophische Schriften. 2. Band: Zur Politik, Moral und Philosophie der Geschichte. Herausgegeben von J. H. Fichte, Verlag von Veith und Comp., Berlin: 1846, S. 571 (Link)
Rosa Luxemburg: "Z doby rewolucyjnej: Co dalej?", Wydawnictwo "Czerwonego Sztandaru", 1905 (Link)
Rosa Luxemburg: "In revolutionärer Stunde: Was weiter?", Übersetzung: Hildegard Bamberger, Elisabeth Piwka, Dr. R. Jeske, Gesammelte Werke. 1906 bis Juni 1911. Band 2, Dietz, Berlin: 1972, S. 38  (Link)
Ferdinand Lassale: "Was nun?" Zweiter Vortrag über Verfassungswesen. Meyer & Zeller,  Zürich: 1863, S. 35 (Link); Ferdinand Lassalle hielt diesen Vortrag erstmals am 17. November 1862 im Mundtschen Saal in der Köpenickerstraße 100 in Berlin-Kreuzberg (Link),
Garson O'Toole (Quote Investigator): "In a Time of Universal Deceit — Telling the Truth Is a Revolutionary Act. George Orwell? V. G. Venturini? David Hoffman? Charlotte Despard? Antonio Gramsci? Anonymous? Apocryphal?" 2013 (Link)
Wikiquote Talk (Mit Hinweis auf Raumer.)
Karl Georg von Raumer: "Das Turnen und der Staat. Georg, Otto" in: "Vermischte Schriften." G. Reimer, Berlin: 1819, S. 102 (Google Books) 
Heinrich Mann: "Émile Zola" (1915), Insel Verlag, Frankfurt am Main: 1962 (Link)
 Wikiquote
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Dank: 
Ich danke den Rechercheuren von Wikiquote sowie Garson O'Toole und besonders Basso Continuo für seinen Fund des Napoleon-Zitats von Johann Gottlieb Fichte.

Letzte Änderung: 26. Juni 2018

"Versuche nicht perfekt zu sein, denn du bist es schon." Immanuel Kant (angeblich)

Pseudo-Kant quote
Dieses Zitat wird seit ein paar Jahren Immanuel Kant unterschoben und hat gar nichts mit seiner Philosophie zu tun. Immanuel Kant hielt es für eine Pflicht, sich selbst vollkommener zu machen.

 Laut Google wurde dieses Pseudo-Kant-Zitat schon mehr als tausend Mal zitiert, auf Google Books oder Google News ist es noch nicht aufgetaucht; allerdings sind schon Pädagogen auf dieses Falschzitat hereingefallen.

  • "In Liebe, ich!‹
    Chon-Dat Nguyen, Videoclip, Deutschland 2016, 2:00 Minuten
    Basierend auf dem Kant-Zitat „Versuche nicht perfekt zu sein, denn du bist es schon“ erzählen junge Menschen in die Kamera warum es gut ist, größer, kleiner, dicker oder dünner, hell oder dunkel zu sein." In: DVD mit 7 Kurzfilmen, 107 Min., 2017 (Link)
  • "Der erstere Grundsatz der Pflicht gegen sich selbst liegt in dem Spruch: lebe der Natur gemäß (naturae convenienter vive), d. i. erhalte dich in der Vollkommenheit deiner Natur, der zweite in dem Satz: mache dich vollkommner, als die bloße Natur dich schuf (perfice te ut finem; perfice te ut medium)."
    Immanuel Kant: "Metaphysik der Sitten", 1797 (Link)
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Quellen:
Grundschule-hopsten.de
Evangelische Medienzentrale Bayern  (Link)

"Ich kann, weil ich will, was ich muss." Immanuel Kant (angeblich)


Pseudo-Immanuel-Kant-Zitat.
Diese Maxime steht in keiner Schrift von Immanuel Kant und ist inzwischen hauptsächlich deswegen weit verbreitet, weil sie seit dem Jahr 2000 in Ratgeberbüchern für Manager und Führungskräfte oft Immanuel Kant fälschlich zugeschrieben wird.

Der Spruch erinnert an die Redensart: "Wer kann, der will und wer will, der kann", aber er könnte auch als Variante des weltweit beliebten Kant-Zitats: "Du kannst, denn du sollst", entstanden sein, das (Überraschung!) allerdings auch nicht von Immanuel Kant stammt, sondern von Friedrich Schiller, der so viele deutsche Redensarten und Sprichwörter wie kaum ein anderer Autor geprägt hat.

Kant hat sein Postulat, eine moralische Norm müsse auch erreichbar sein, einmal in der ersten Person Plural formuliert: "wir müssen es auch können." Bei Fichte wurde daraus: »Ich kann, denn ich soll«, bei Hegel und Schopenhauer wurde es zu: "Du kannst, weil du sollst." Friedrich Schiller prägte die Maxime allerdings schon 1796, also Jahrzehnte vor Hegel und Schopenhauer.




Nicht nur in Zeitungen, auch in der Sekundärliteratur zu Kant wird die Kurzformel "Du kannst, weil du sollst", die einen Gedanken Kants paraphrasiert, oft Immanuel Kant irrtümlich zugeschrieben und nicht korrekter Weise Friedrich Schiller.


  • "Was ist aber von dem ruhmredigen Ausspruche der Kraftmänner [...] zu halten: »Was der Mensch will, das kann er«? Er ist nichts weiter als eine hochtönende Tautologie: was er nämlich auf den Geheiß seiner moralisch=gebietenden Vernunft will, das soll er, folglich kann er es auch thun (denn das Unmögliche wird ihm die Vernunft nicht gebieten)." - Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798), Erstes Buch, § 12. Vom Können in Ansehung des Erkenntnißvermögens überhaupt. In: Akademieausgabe Band VII, S. 14826f. --






  • "Die reine Vernunft enthält also, zwar nicht in ihrem spekulativen, aber doch in einem gewissen praktischen, nämlich dem moralischen Gebrauche, Prinzipien der Möglichkeit der Erfahrung, nämlich solcher Handlungen, die den sittlichen Vorschriften gemäß in der Geschichte des Menschen anzutreffen sein könnten. Denn, da sie gebietet, daß solche geschehen sollen, so müssen sie auch geschehen können, ..."
    Immanuel Kant: "Kritik der Reinen Vernunft", 1781(Link)
Varianten:
  • "Du kannst, denn du sollst."
  • "Du kannst, weil du sollst."
  • "Ich kann, denn ich soll." 
  • "You can, because you must!"
  • "You can because you ought."

1794, Kant:
  • "Denn, wenn das moralische Gesetz gebietet, wir sollen jetzt bessere Menschen sein: so folgt unumgänglich, wir müssen es auch können."
    Immanuel Kant: "Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft",  1793/94, AAVI, S. 50 (Link)
1796, Schiller:
  • "Auf theoretischem Feld ist weiter nichts mehr zu finden;
    Aber der praktische Satz gilt doch: Du kannst, denn du sollst!"
    Friedrich Schiller: "Die Philosophen", 1796 (Link)(Link)
1798, Fichte:
  • "Nicht von der Möglichkeit wird auf die Wirklichkeit fortgeschlossen, sondern umgekehrt. Es heisst nicht: ich soll, denn ich kann; sondern: ich kann, denn ich soll."
    Johann Gottlieb Fichte: "Über den Grund unseres Glaubens an eine göttliche Welt-Regierung", 1798 Zur Religionsphilosophie (Link)
1816, Hegel:
  • "Du kannst, weil du sollst, dieser Ausdruck, der viel sagen sollte, liegt im Begriffe des Sollens. Denn das Sollen ist das Hinausseyn über die Schranke; die Grenze ist in demselben aufgehoben, das Ansichseyn des Sollens ist so identische Beziehung auf sich, somit die Abstraktion des Könnens. Aber umgekehrt ist es eben so richtig: Du kannst nicht, eben weil du sollst. Denn im Sollen liegt ebenso sehr die Schranke als Schranke; jener Formalismus der Möglichkeit hat an ihr eine Realität, ein qualitatives Andersseyn, sich gegenüber, und die Beziehung beider auf einander ist der Widerspruch, somit das Nicht-Können oder vielmehr die Unmöglichkeit."
    Georg Wilhelm Friedrich Hegel: "Wissenschaft der Logik", 1816, (Projekt Gutenberg)
1839, Schopenhauer:
  • "Zudem es auch wohl nicht die Absicht der Königlichen Sozietät sein kann, durch eine Hinzuziehung des Gewissens in das Selbstbewußtsein, die Frage auf den Boden der Moral hinübergespielt und nun K a n t s moralischen Beweis, oder vielmehr Postulat, der Freiheit aus dem  a  p r i o r i  bewußten Moralgesetz, vermöge des Schlusses "du kannst, weil du sollst", wiederholt zu sehen."
    Arthur Schopenhauer: "Über die Freiheit des menschlichen Willens." Preisschrift, Drontheim: 1839 (Link)


Pseudo-Immanuel-Kant-Zitat.


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Quellen:
Google-Statistik:  "Ungefähr 8 950 Ergebnisse" für "Ich kann, weil ich will, was ich muss. Kant"
Elektronische Edition von Immanuel Kants Gesammelten Werken: Universität Duisburg
(Die Suchfunktion dieser Edition ist leider fehlerhaft.)
Immanuel Kant: "Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft",  1793/94, AAVI, S. 50 (Link) 
Friedrich Schiller: "Die Philosophen", in: Musen-Almanach für das Jahr 1797, herausgegeben von Schiller, J.G. Cottaische Buchhandlung, Tübingen: (1796), S. 294 (Link)  
Friedrich Schiller Archiv: (Link) 

Karl Friedrich Wilhelm Wander: Deutsches Sprichwörter-Lexikon. 2. Bd. Gott bis Lehren, F.A. Brockhaus, Leipzig: 1870, S. 1495 (Link)
Johann Gottlieb Fichte: "Über den Grund unseres Glaubens an eine göttliche Welt-Regierung", 1798, in:  Zur Religionsphilosophie (Link)
Klaus Steigleder: "Kants Konzeption der Moralphilosophie als 'Metaphyik der Sitten'." In: "Interdisziplinäre Ethik. Festschrift für Dietmar Mieth." Hrsg. von Adrian Holderegger u. Jean-Pierre Wils, Universitätsverlag Freib. CH, Herder Verlag, Wien: 2001, S. 101ff.
(Link)
David Baumgardt: "Legendary Quotations and the Lack of References." In: Journal of the History of Ideas 7 (1946) S. 99-102 (Zitiert nach Steigleder.)
Wolfgang Mieder: "'Zitate sind des Bürgers Zierde.' Zum Weiterleben von Schiller-Zitaten." In: "Deutsche Redensarten, Sprichwörter und Zitate: Studien zu ihrer Herkunft, Überlieferung und Verwendung." Edition Praesens, Wien: 1995, S. 46 ff. 
 

(Link)

Einige Beispiele für das Falschzitat:
Thorsten Hadeler: "Zitate für Manager: Für Reden, Diskussionen und Papers immer das treffende Zitat." Gabler, Wiesbaden: 2000, S. 84 (Link)
Ingo Reichardt, Anne Reichardt: "Treffende Worte: 3000 Zitate für Führungskräfte." Linde Verlag, Wien: 2003, S. 23 (Link)
Krawiez Consulting: "69 Zitate für die Persönlichkeitsentwicklung." Ohne Datum. (Das ist eine Sammlung von vielen falschen Zitaten.)  (Link)
Zitate-Online.de
EAG-FPI.com
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"Ich kann besser werden; .... Ich kann es, wenn ich muß."
Christian Erhard Schmid: "Versuch einer Moralphilosophie". 1790
(Link)
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 Artikel in Arbeit
"Ich kann weil ich muss und will. "1911 (Link)


Wolle nur, so kannst du (Link)


Zizek: (Link)


 




Samstag, 24. Juni 2017

"Heimat ist da, wo man sich aufhängt." Thomas Bernhard (angeblich)

Dieses Zitat stammt aus Franz Doblers im Jahr 1994 publizierter Kurzgeschichte "Bierherz", und wird Thomas Bernhard und anderen fälschlich zugeschrieben.

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Quellen:
Franz Dobler: "Heimat ist da wo man sich aufhängt." Blog-Eintrag: 2016 (Link)
Franz Dobler: "Bierherz. Flüssige Prosa." Edition Nautilus, Hamburg: 1994 (Link)
Cornelia Travnicek: "Fütter mich. Erzählungen." Haymon Verlag, Innsbruck: 2017 (Link)

Falsch zugeschrieben wird dieses Zitat zum Beispiel in:
"Heimat – Heimatland – Heimatliteratur." Zusammengestellt und herausgegeben von Johann Georg Lughofer. Goethe Institut, Ljubljana: 2011 (pdf)
Matto Kämpf:  "Heimat ist dort, wo man sich aufhängt." 2016 (Link), 2017 (Link) 

Mittwoch, 21. Juni 2017

"Die Ungleichheit ist die Dienerin des Fortschritts.“ Angus Deaton (angeblich)

Dieses Zitat hat Angus Deaton nie geschrieben, auch wenn er in Zeitungen manchmal so (Link) zitiert wird. Deaton hat die Metapher von der "Dienerin des Fortschritts" in einem Satz verwendet, in dem er vor dem großen Fehler warnt, bei Fortschritt nur an den Fortschritt der Erfolgreichsten zu denken. 
Nur durch ein arg entstelltes Zitat kann man mit Angus Deaton seine Verachtung für den Sozialstaat Ausdruck verleihen und von "Almosen" reden, wenn es um Sozialleistungen geht, wie es zum Beispiel in "Die Presse" vom 20. Juni 2017 geschieht. (Link) 
Diese Art der unseriösen Argumentation nennt der amerikanische Philosoph Harry Frankfurt "Bullshitting".
  • "When inequality is the handmaiden of progress, we make a serious mistake if we look only at average progress or, worse still, at progress only among the successes." (Link)
    Angus Deaton, 2013
  • "Die Geschichte des Fortschritts ist daher auch die Geschichte der Ungleichheit. Dies gilt ganz besonders heute, wo der Wohlstand etwa in den Vereinigten Staaten alles andere als gleich verteilt ist. Einigen wenigen geht es unbeschreiblich gut. Aber viele rackern sich ab.
  • Dieses Buch befasst sich mit dem ewigen Spannungsverhältnis zwischen Fortschritt und Ungleichheit. Es beschreibt, wie der Fortschritt Ungleichheit erzeugt und wieso Ungleichheit manchmal nützlich sein kann (indem sie anderen den Weg weist oder Anreize dafür schafft, sich anzustrengen, um den Rückstand aufzuholen) und manchmal schädlich (wenn diejenigen, denen der Ausbruch gelungen ist, ihre Positionen dadurch schützen, dass sie die Fluchtwege hinter sich versperren).
  • Wenn Ungleichheit die Dienerin des Fortschritts ist, dann machen wir einen großen Fehler, wenn wir nur den durchschnittlichen Fortschritt oder, schlimmer noch, nur den Fortschritt der Erfolgreichsten betrachten."
    Angus Deaton (Link)
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Quellen:
Angus Deaton: "The Great Escape: Health, Wealth, and the Origins of Inequality." Princeton University Press, New Jersey: 2013 (Link)
Angus Deaton: "Der große Ausbruch. Von Armut und Wohlstand der Nationen." Klett-Cotta Verlag, Stuttgart: 2017 (Link)
Gerhard Hofer: "Für Eigenverantwortung ist kein Platz im rot-weiß-roten Sozialstaat. Nicht die Ungleichheit ist unser größtes soziales Problem, sondern die zunehmende Entmündigung des Bürgers durch den Staat." "Die Presse", 20. Juni 2017 (Link)
 Harry Frankfurt: "On Bullshit. The Importance of What We Care About: Philosophical Essays." Cambridge University Press, Cambridge: 1988

Samstag, 10. Juni 2017

"Tradition ist die Weitergabe des Feuers und nicht die Anbetung der Asche.“ Gustav Mahler (angeblich)

Dieses Zitat stammt nicht von Gustav Mahler, obwohl es millionenfach so von fast allen Zeitungen der Welt verbreitet wird: "Irrwege einer Metapher", Wiener Zeitung, 10. Juni 2017 (Link).

Geboren wurde diese schöne Metapher am 21. Januar 1910 im französischen Parlament. Der Sozialist Jean Jaurès antwortet konservativen Abgeordneten mit dieser beeindruckenden Rede:

  •  "Herr Barrès fordert uns öfter auf, in die Vergangenheit zurückzugehen; für die, die nicht mehr sind und die, die zur Unbeweglichkeit erstarrt, gleichsam heilig geworden sind, hegt er eine Art pietätvolle Verehrung. Nun, meine Herren, auch wir verehren die Vergangenheit. Aber man ehrt und achtet sie nicht wirklich, indem man sich zu den verloschenen Jahrhunderten zurückwendet und eine lange Kette von Phantomen betrachtet: die richtige Art, die Vergangenheit zu betrachten, ist, das Werk der lebendigen Kräfte, die in der Vergangenheit gewirkt haben, in die Zukunft weiterzuführen.

    Alle, die in den entschwundenen Jahrhunderten gekämpft haben, welcher Partei, welcher Richtung sie auch angehört haben mögen, waren durch die unbesiegbare Macht des Lebens Kräfte der Bewegung, des Antriebes, der Verwandlung; sie waren es schon allein dadurch, dass sie Menschen waren, die dachten, wünschten, litten - und einen Ausweg suchten: alle waren es, selbst die, die in den damaligen Kämpfen als konservativ erscheinen mochten.
    Und wir nehmen dieses Beben, diese Schauern, diese Bewegung in uns auf, wir tragen die Vergangenheit treu in uns, so wie der Fluß die Quelle treu in sich trägt, indem er zum Meere strömt.

    Jawohl, meine Herren, auch wir verehren die Vergangenheit. Nicht vergeblich hat die Flamme im Herd so vieler menschlicher Generationen gebrannt und gefunkelt; aber wir, die wir nicht stillstehen, die wir für ein neues Ideal kämpfen, wir sind die wahren Erben der Herde unserer Vorfahren: wir haben daraus ihre Flamme geholt, ihr habt nur die Asche bewahrt."
    Jean Jaurès, 21. Januar 1910, Paris, Parlament; nach einer Übersetzung von

    Grete Helfgott.
 Diese Metapher wird später in diversen Variationen Thomas Morus, Benjamin Franklin, einem "alten griechischen Philosophen", Friedrich dem Großen, Johannes XXIII., Ricarda Huch, Jean Juares und auf der ganzen Welt am erfolgreichsten Gustav Mahler zugeschrieben. Die Metapher von Asche und Feuer ist aber weder in den Schriften von Thomas Morus noch in denen von Gustav Mahler und all den anderen zu finden. Diese Zuschreibungen sind also alles Falschzitate, solange keine seriöse Quelle für eine dieser Zuschreibungen bekannt gemacht wird.

Ein Beispiel für die vielen falschen Zuschreibungen ist auf der rechtsextremen Seite "Metapedia" zu bestaunen. Man gibt sich auf dieser Seite besonders traditionsbewusst, aber unter ihrem Stichwort "Tradition" stehen fast ausschließlich erfundene Zitate: das ist unfreiwillig komisch.
Pseudo-Mahler, Pseudo-Franklin, Pseudo-Huch, and Pseudo-Johannes XXIII. quotes.


Erstmals Gustav Mahler zugeschrieben wurde dieses Zitat anscheinend im Jahr 1992, ungefähr 80 Jahre nach seinem Tod, als der Burgtheater-Direktor Klaus Bachler in einem Interview (Link) meinte, Gustav Mahler habe gesagt: "Tradition ist Weitergabe des Feuers ohne Anbetung der Asche."
  
Variationen
  • Gustav Mahler:  "Tradition ist Weitergabe des Feuers ohne Anbetung der Asche."
  • Gustav Mahler: "Tradition ist die Weitergabe des Feuers und nicht die Anbetung der Asche."
  •  Gustav Mahler: "Tradition ist nicht die Anbetung der Asche, sondern die Weitergabe des Feuers." (Abiturrahmenthema 2011)
  • Gustav Mahler: "Tradition ist Bewahrung des Feuers, nicht Anbetung der Asche."
  • Gustav Mahler: "Tradition heißt nicht, Asche verwahren, sondern eine Flamme am Brennen halten."
  • Gustav Mahler: "Tradition is the spreading of fire and not the veneration of ashes." 
  • Gustav Mahler : "Tradition is not the worship of ashes, but the preservation of fire."
  • Gustav Mahler: "Non ricordare le ceneri, ma tenere acceso il fuoco."


In folgenden Variationen wird dieses Zitat Jean Jaurès zugeschrieben: 
  • 1) "nous en avons pris la flamme, vous n'en avez gardé que la cendre."
    2) "wir haben daraus die Flamme geholt, ihr habt nur die Asche behalten." 
    3) "wir haben dem Herd die Flamme entnommen, ihr habt nur seine Asche aufbewahrt."
    4) "Tradition heißt nicht, die Asche zu verwahren, sondern die Glut wieder zum Lodern zu bringen."
    5) "Tradition is not guarding the ashes, but stirring up the flames."
    6) "Take from the altar of the past the fire, not the ashes.”  
    7) "Wir wollen aus der Vergangenheit das Feuer übernehmen, nicht die Asche."
    8) "Tradition ist nicht das Bewahren der Asche, sondern das Schüren der Flamme."
      (DUDEN)
    9) "Tradition heißt nicht, die Asche bewahren; Tradition heißt, die Flamme weitergeben." 
    10) "Tradition heißt nicht, Asche verwahren, sondern eine Flamme am Brennen erhalten."

         (Maucher und Malik, deutsch) 
    11) "Being conservative doesn't mean keeping the ashes but preserving the flame."
         (Maucher und Malik, englisch) (Link)
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Anmerkung
 (Artikel in Arbeit.)
Der sozialdemokratische Politiker Jean Jaurès (*1859 +1914) hat als junger Mann mit der Dissertation: "Über die Realität der Sinnenwelt", die er 1902 neu auflegen ließ, promoviert und philosophische Fragen fesseln ihn sein Leben lang; er nimmt Religionen so ernst wie Atheisten und Agnostiker: Er hat Ehrfurcht vor dem Lebendigen und den Naturkräften, liebt viele ihrer Erscheinungen und der Wunsch nach Gerechtigkeit gehört zum Fundament seiner Politik; wer will, kann ihn mit guten Gründen in die philosophiegeschichtliche Schublade zu den Pantheisten einsortieren. Jean Jaurès' philosophische Absicht: Synthesen von entgegengesetzten philosophischen Positionen zu bilden, setzt er in seiner politischen Arbeit fort. Wie Victor Adler in Österreich gelingt es ihm in Frankreich, unterschiedliche linke Strömungen zu vereinen und eine sozialdemokratische Partei zu bilden. Auch als Historiker versucht er marxistischen Determinismus mit idealistischen Positionen zu versöhnen.
Am 30. Juli 1914 wird der Kriegsgegner Jean Jaurès, der im Ruf steht, ein Freund Deutschlands zu sein, von einem 29-jährigen Rechtsextremen in dem Pariser Café du Croissant ermordet. Der Mörder wird nach fünf Jahren Untersuchungshaft wegen Unzurechnungsfähigkeit mit fadenscheinigen Argumenten freigesprochen.
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Quellen:
"Jean Jaurès. Aus seinen Reden und Schriften." Große Gestalten des Sozialismus. II. Band.  Eingeleitet und ausgewählt von Louis Lévy. Übersetzt von Grete Helfgott. Verlag der Wiener Volksbuchhandlung, Wien: (1949)
Jean Jaurès: "Discours et conférences." Flammarion, Paris: 2014:
"Oui, nous avons, nous aussi, le culte du passé. Ce n'est pas en vain que tous les foyers des générations humaines ont flambé, ont rayonné ; mais c'est nous, parce que nous marchons, parce que nous luttons pour un idéal nouveau, c'est nous qui sommes les vrais héritiers du foyer des aïeux ; nous en avons pris la flamme, vous n'en avez gardé que la cendre."
Jean Jaurès, 21. Januar 1910, Paris, Chambre des députés (Link) 
J. Hampden Jackson: "Jean Jaurès. Sein Leben und Werk." Übersetzt von Bruno Schönlank. Europäische Verlagsanstalt, Hamburg: 1949"Jean Jaurès. Seiner Ermordung vor dem Schwurgericht in Paris." Mit einer Einleitung von Dr. Arthur Dieseldorff und einem Geleitwort von Hellm. von Gerlach. Verlag "Friede durch Recht", Ludwigsburg: 1922
Heinz Abosch: "Jean Jaurès. Die vergebliche Hoffnung." Piper, München / Zürich: 1986
Helmut Maucher, Fredmund Malik und Farsam Farschtschian. "Maucher and Malik on Management: Maxims of Corporate Management - Best of Helmut Maucher´s Speeches, Essays and Interviews." Übersetzt von  Myrna Lesniak. Campus Verlag, Frankfurt / New York: 2013 (Link) 
Urs Brand: "Jean Jaurès. Internationalist und Patriot." Musterschmidt, Göttingen / Zürich / Frankfurt: 1973


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Ich danke Lisi Moosmann, Renate Stark-Voit und Lucile Dreidemy für ihre Anworten und Hinweise.

Freitag, 9. Juni 2017

"Der Mensch ist so glücklich, wie er es beschließt zu sein." Abraham Lincoln (angeblich)

Pseudo-Abraham-Lincoln quote, 2017.
Dieses Zitat wurde - wie der Quote Investigator herausgefunden hat - Abraham Lincoln erst 50 Jahre nach seinem Tod (von einem amerikanischen Prediger und Autor) unterschoben. Es ist in keiner seiner Varianten in einer Schrift Lincolns oder in einem zeitgenössischen Text des 19. Jahrhunderts zu finden.

  • "Most folks are about as happy as they make up their minds to be."
  • “I have noticed that most people in this world are about as happy as they have made up their minds to be.”

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Anmerkung
Das ist nicht das einzige Falschzitat in diesem Abschiedsbrief der Schuldirektorin an Maturantinnen und Maturanten aus dem Jahr 2017.
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Quelle
Quote Investigator: "Folks Are Usually About as Happy as They Make Up Their Minds To Be  Abraham Lincoln? Frank Crane? Orison Swett Marden? Dale Carnegie? Anonymous?" 2012
(Link)