Mittwoch, 31. Mai 2017

"No sports." Winston Churchill (angeblich)

Pseudo-Winston-Churchill-Zitat.

Dieses im deutschen Sprachraum beliebteste Churchill-Zitat ist in England und Amerika unbekannt. Diese Maxime unsportlicher Menschen wurde wahrscheinlich in "DIE ZEIT" 1976 geprägt, 1982 begann "Der Spiegel" dieses Zitat dem Sieger des 2. Weltkriegs zu unterschieben, 1993 folgte die "Frankfurter Allgemeine Zeitung", und beide haben es in den folgenden Jahrzehnten an die vierzig Mal wiederholt.

2005 deckt Christoph Drösser in "DIE ZEIT" auf, dass Winston Churchill diese Worte nie gesagt hat, aber er verrät nicht, dass dieses Pseudo-Churchill-Zitat wahrscheinlich von einem seiner Kollegen in "DIE ZEIT" 1976 erfunden wurde. -

Winston Churchill ritt und jagte übrigens bis ins hohe Alter mit großem Vergnügen und gewann als junger Mann Polo-Turniere.

1976
  • "Als Churchill kurz vor seinem Tode – er wurde 90 Jahre alt – von einem Reporter gefragt wurde, wie er es fertig gebracht habe, trotz seines starken Rauchens so alt geworden zu sein, antwortete er: 'No Sport! No sport!'" Die Zeit, 4/1976 (Link)
1982
  • "Jene Gruppe unter den Bürgern, die wie dereinst der zählebige Britenpremier Sir Winston Churchill (Lebensdauer: 1874 bis 1965. Überlebens-Rezept: "absolutely no sports") Sport verachten und meiden ..." Der Spiegel, 30/1982 (Link)
1986
  • 'No sports', gurgelte Sir Winston Churchill den Reportern entgegen, als sie ihn am 90. Geburtstag nach seinem Rezept für ein langes Leben fragten." Der Spiegel, 14/1986 (Link)
1989
  • "'No sports, pflegte Churchill zu antworten, wenn er nach der Lebensweise, die ihn alt werden und hinreichend gesund bleiben ließ, gefragt wurde." Die Zeit, März 1989 (Link)
  1995
  • "Als Winston Churchill achtzigjährig seine außergewöhnlich gute Gesundheit mit den Worten: "Absolutely no sports!" begründete, da jubelten ihm ..." FAZ, August 1995 (Link)
  • "Tatsache ist, daß ein Winston Churchill, dessen Lebensmaxime 'No sports, just whisky and cigars' lautete, fast 90 Jahre alt wurde ..." profil, 1995 (Link)
2010 
  • "Churchill starb 1965 hochbetagt im Alter von 90 Jahren. Sein Geheimrezept für ein langes Leben, soll er einmal einem Reporter verraten haben, war ziemlich simpel - und bestand aus nur zwei Wörtern: 'No Sports!' Es wurde, obwohl nicht unumstritten ist, ob Churchill es wirklich so gesagt hat, sein berühmtestes Bonmot."
    Der Spiegel, Einestages, 16/8 2010 (Link)
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Quellen:
Gerhard Prause: "Sport war ihnen ein Greuel. Von Kant bis Churchill, von Goethe bis Einstein: Kein Spaß an Reck und Ball." Tratschkes Streifzüge durch die Geschichte. "Die Zeit", 4/1976, 16. Januar 1976 (Link)
(Das ist ein auch sonst schlecht recherchierter Artikel, der zum Beispiel auch unterschlägt, dass Immanuel Kant gerne und gut Billard spielte.)
Christoph Drösser: "Stimmt’s? Sportlicher Premier." "Die Zeit", 25/2005, 16. Juni 2005 (Link)
Wikipedia
Der Spiegel, Einestages, 16/8 2010 (Link)
profil, 1995 (Link)
FAZ, August 1995 (Link) 
Die Zeit, März 1989 (Link) 
Der Spiegel, 14/1986 (Link)
Der Spiegel, 30/1982 (Link)

Dienstag, 30. Mai 2017

"Gesetze sind Jungfrauen im Parlament, aber Huren vor Gericht." Kurt Tucholsky (angeblich)

Dieser Spruch ist vor dem 21. Jahrhundert unbekannt und wird seit etwa 10 Jahren Kurt Tucholsky unterschoben. Wer den Spruch geprägt hat, weiß man nicht.
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Quellen:
Wolfgang Prinz: "Politzirkus: Bissige Aussprüche und Zitate von Politikern und über sie."  Books on demand: 2009 (Link)
Friedhelm Greis: Sudelblog, Angebliche Tucholsky-Zitate

"Zurück zur Natur!" Jean-Jacques Rousseau (angeblich)

Pseudo-Rousseau quote.



Dieses populäre Rousseau-Zitat ist in seinen Werken so wenig zu finden wie der Terminus vom "Edlen Wilden" (bon sauvage, noble savage), der Jean-Jacques Rousseau fast ebenso oft fälschlich zugeschrieben wird. Rousseaus Gedanken werden durch diese unterschobenen Zitate verfälscht. Immanuel Kant verehrte Rousseau, dessen Porträt als einziges Bild in seinem Arbeitszimmer hing, aus ganz anderen Gründen:
Immanuel Kant:
  • "Ich bin selbst aus Neigung ein Forscher. Ich fühle den gantzen Durst nach Erkentnis u. die begierige Unruhe darin weiter zu kommen oder auch die Zufriedenheit bey jedem Erwerb. Es war eine Zeit da ich glaubte dieses allein könnte die Ehre der Menschheit machen u. ich  verachtete den Pöbel der von nichts weis. Rousseau hat mich zurecht gebracht. Dieser verblendende Vorzug verschwindet, ich lerne die Menschen ehren u. ich würde mich unnützer finden wie den gemeinen Arbeiter wenn ich nicht glaubete daß die Betrachtung allen übrigen einen Werth ertheilen könne, die rechte der Menschheit herzustellen".                               
Varianten:
  • „Retour à la nature!“
  • "Zurück zur Natur!"
Brief von Voltaire an Jean-Jacques Rousseau, 30. August 1755:
  • "Man hat noch nie so viel Geist aufgewendet, um uns zurück zu den Tieren zu schicken, man bekommt Lust, auf vier Pfoten zu laufen, wenn man Ihr Werk liest." 
    "On n’a jamais employé tant d’esprit à vouloir nous rendre bêtes; il prend envie de marcher à quatre pattes, quand on lit votre ouvrage."  (Link)

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Quellen:
Lutz Röhrich: "Das große Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten." Herder, Freiburg / Basel / Wien: 1994, Bd 3 S. 1085f.
Antwort auf die Preisfrage (von "Der Sprachdienst", 1989, Heft 5) nach frühen deutschen Belegen von: "Zurück zur Natur!" von Ralf Bülow in: "Der Sprachdienst", Jg. XXXIV, 1990, Heft 2 (Link)
Gutezitate.com
Gerd Irrlitz: "Kant-Handbuch. Leben und Werk." Verlag J.B. Metzler, Stuttgart / Weimar: 2002 (Link) 
Brief von Voltaire, Les Délices bei Genf, an Jean-Jacques Rousseau, 30. August 1755 (Link)
Auszug aus Will Durant: "Kulturgeschichte der Menschheit", Bd. 15, I,  (Link)

 
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Ich danke Ralf Bülow für den Hinweis auf dieses Falschzitat.

Sonntag, 28. Mai 2017

"Ich kann nicht so viel fressen, wie ich kotzen möchte." Max Liebermann

Der Maler Max Liebermann hat angeblich mit diesen Worten am 30. Januar 1933 seinen Ekel vor dem Sieges-Fackelzug von Nationalsozialisten in Berlin ausgedrückt (Link)
Die Anekdote wird in verschiedenen Versionen  seit dem Jahr 1934 weitererzählt. 
 Max Liebermann war nicht nur als Maler berühmt, sondern auch wegen seiner "Berliner Schnauze", seinen "lapidaren Aussprüchen", die "oft und oft durch die Welt" gegangen seien, wie in einem Nachruf der Wiener Tageszeitung "Die Stunde" am 13. Februar 1935 zu lesen war (Link).
 Bei einer frühen Erwähnung der Anekdote im Jahr 1934 wurde der Name des berühmten Malers noch verschwiegen, wohl um ihn vor Verfolgung durch Nazi-Behörden zu schützen:
1934
  • "Man erzählt in Berlin:
  • Professor...., der berühmte Maler, wird von einem seiner Schüler gefragt, wie er sich mit den Zuständen im Dritten Reiche abgefunden habe.

  • 'Ach Jott', erwidert der Meister, 'man kann nich halb so viel essen, wie man kotzen möchte.'"

  • Das Neue Tage-Buch, 2. Jahrgang, Nr. 40, Paris-Amsterdam, 6. Oktober 1934, S. 959 (Link)
1935
  • "Gefragt wie ihm Deutschland unter Hitler gefalle, sagte der greise Meister: 'Soviel kann man gar nicht fressen, als man kotzen möchte!'"
  • Hendric: "Totenklänge um einen Künstler", "Die Stunde", 13. Februar 1935, S. 3 (Link).
 Eine Version des Ausspruchs stammt von der Malerin Käthe Kollwitz.
 1947
  • "Mit Max Liebermann verband Käthe Kollwitz eine enge Freundschaft. Auch nach der Machtergreifung der Nazis ging sie oft zum Tee zu ihm. ... Einmal sagte er höhnisch und drastisch über die Zustände im Nazireich: "Ick kann janich so viel fressen, wie ick kotzen möchte!"
  • Katharina Laessig: "Mit den Augen der Freundin. Zum 80. Geburtstag von Käthe Kollwitz." (Link)

1954
  • "Harrass: (rülpst genüßlich) Verzeihung. Der geradezu nicht-arische Kunstmaler Max Liebermann, 'n juter oller Berliner, der gar betreffenden Witzes in großem Maße teilhaftig, hat einmal den schlichten Satz jeprägt: Kann jar nich soviel essen, wie ich kotzen möchte."
  • "Des Teufels General", Film, 1955 (Link)

Jahrzehnte später wird der Spruch Max Liebermanns manchmal fälschlich Kurt Tucholsky oder Bertolt Brecht zugeschrieben, und kommt ohne Hinweis auf Liebermann wie eine sprichwörtliche Redensart zum Beispiel auch in Max Frischs Drama  "Biedermann und die Brandstifter - Ein Lehrstück ohne Lehre" vor.
Varianten:
  • "Ick kann janich so viel fressen, wie ick kotzen möchte!"
  • "Kann jar nich soviel essen, wie ich kotzen möchte." 
  • "So ville kann ick gar nich essen, wie ick kotzen möchte."
  • "Ich kann nicht so viel fressen, wie ich kotzen möchte." 
  • "Man kann gar nicht so viel fressen, wie man kotzen möchte."
  • "Man kann gar nicht so viel essen, wie man kotzen möchte."
  • "Ach Jott, man kann nich halb so viel essen, wie man kotzen möchte." 
  • "Soviel kann man gar nicht fressen, als man kotzen möchte!" 
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Quellen:
Das Neue Tage-Buch, 2. Jahrgang, Nr. 40, Paris-Amsterdam, 6. Oktober 1934, S. 959 (Link) 
Hendric: "Totenklänge um einen Künstler", "Die Stunde", 13. Februar 1935, S. 3 (Link).
Katharina Laessig: "Mit den Augen der Freundin. Zum 80. Geburtstag von Käthe Kollwitz." in: "Aufbau,  Band 3, Aufbau Verlag, Berlin: 1947, S. 63 (Link) 
"Des Teufels General". Film 1955, Drehbuch: George Hurdalek, Helmut Käutner und Gyula Trebitsch; Regie: Helmut Käutner (nach dem Drama Carl Zuckmayers) Transkription einer Szene von Wolfgang Näser: (Link)
Carl Zuckmayer: "Des Teufels General." Drama in drei Akten, verfasst: 1945; Uraufführung 14. Dezember 1946,  in: Carl Zuckmayer: Gesammelte Werke, Die Deutschen Dramen, Bermann-Fischer Verlag, Stockholm: 1947 (In dieser Ausabe scheint die Liebermann-Anekdote nicht enthalten zu sein.)
"Max Liebermann: Poesie des einfachen Lebens",  Ausstellungskatalog, hrsg. von  Nicole Bröhan und  C. Sylvia Weber,  Swiridoff:  2003,  S. 192  (Link)
Johannes John: "Reclams Zitaten-Lexikon." Philipp Reclam jun., Stuttgart: 1992 (Link)
Bernd Küster: "Max Liebermann – ein Malerleben."  Ellert und Richter, Hamburg: 1988, S. 216 (zitiert nach Wikiquote)
Friedhelm Greis: Sudelblog, Angebliche Tucholsky-Zitate
Kurt Tucholsky-Gesellschaft, Angebliche Tucholsky-Zitate (Link)
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Dank:
Ich danke den Leuten von Wikiquote, Friedhelm Greis und Herbert Gnauer und besonders auch Garson O' Toole für ihre Recherchen. Dank auch an Klaus Allwicher für eine Korrektur.
 
Letzte Änderungen: 5/7 2021 (Belege 1930er Jahre) ; 7/7 2021; 12/9 2023.
 

Samstag, 27. Mai 2017

"Der Vorteil der Klugheit liegt darin, dass man sich dumm stellen kann. Das Gegenteil ist schon schwieriger." Kurt Tucholsky (angeblich)

Pseudo-Kurt-Tucholsky-Zitat.

Dieser beliebte Aphorismus wird seit etwa 50 Jahren in vielen Sprachen fäschlich Kurt Tucholsky zugeschrieben, und ist inzwischen auf Spanisch noch mehr verbreitet als auf Deutsch oder auf Englisch.

Pseudo-Kurt-Tucholsky-Zitat.

Bei einer chronologischen Durchsuchung deutschsprachiger Zeitungen taucht das Zitat erstmals am 11. Oktober 1971 als "Spruch des Tages" in der Oldenburger Ausgabe der Nordwest Zeitung auf:

 
Nordwest Zeitung, 11. Oktober 1971, S. 4.

Das von einer unbekannten Person geprägte Kuckuckszitat steht seit dem Jahr 1974 auch in  diversen Zitatesammlungen, zum Beispiel in Harenbergs "Lexikon der Sprichwörter und Zitate" sowie im Band "Zitate und Aussprüche" des DUDEN Verlags.

Dass dieser Aphorismus in den Briefen und Schriften des 1935 verstorbenen Satirikers Kurt Tucholsky nicht zu finden ist, hat Friedhelm Greis auf seinem amüsanten und informativen Sudelblog aufgedeckt.


Varianten des Pseudo-Kurt-Tucholsky-Zitats:


  • "Der Vorteil der Klugheit besteht darin, dass man sich dumm stellen kann. Das Gegenteil ist schon schwieriger."
  • "Der Vorteil der Klugheit liegt darin, dass man sich dumm stellen kann. Das Gegenteil ist schon schwieriger." 
  • "La ventaja de ser inteligente es que así resulta más fácil pasar por tonto. Lo contrario es mucho más difícil." 
  • "The advantage of being intelligent is that you can pretend to be stupid. The opposite is rather difficult."
  • "The advantage of wisdom is that you can play dumb. The opposite is more difficult."


Pseudo-Kurt-Tucholsky-Zitat.

 
Pseudo-Woody-Allen-Zitat:
 
 
In Frankreich und in Italien wird dieser vor 50 Jahren in Deutschland entstandene Aphorismus im 21. Jahrhundert dem amerikanischen Regisseur Woody Allen untergeschoben.
 
Auf Französisch ist dieses angebliche Woody-Allen-Zitat seit dem Jahr 2007 auf Twitter zu finden, auf Italienisch seit 2008 und die englische Version erst seit dem Jahr 2009.
  • "The advantage of being smart is that you can always act like an idiot, but the opposite is completely impossible."  (twitter)
  •  "The advantage of being intelligent, is that we can always play stupid, however being the opposite is completely impossible"


  • "L'avantage d'être intelligent, c'est qu'on peut toujours faire l'imbécile, alors que l'inverse est totalement impossible." (twitter)
Pseudo-Woody-Allen-Zitat.
 
  • "Il vantaggio di essere intelligente è che si può sempre fare l'imbecille, mentre il contrario è del tutto impossibile." (twitter.)
Pseudo-Woody-Allen-Zitat.
 
Aber in Woody Allens Texten kommt dieses Zitat meines Wissens so wenig vor wie in den Texten Kurt Tucholskys. 
 

 
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Quellen:
Google Books; Suche ohne "Tucholsky": Google Books
Google-Statistik, Spanisch: "Ungefähr 3 050 Ergebnisse"
Google-Statistik, Deutsch: "Ungefähr 2 480 Ergebnisse"
Friedhelm Greis: Sudelblog, Angebliche Tucholsky-Zitate

Beispiele für falsche Zuschreibungen:
Nordwest Zeitung, Ausgabe Oldenburger Nachrichten, Nr. 236, 11. Oktober 1971, S. 4 
Nordwest Zeitung, Nr. 105, 7. Mai 1974 [ohne Seitenangabe] "Spruch des Tages"
Markus M. Ronner: "Die Treffende Pointe: humoristisch-satirische Geistesblitze des 20. Jahrhunderts nach Stichwörtern alphabetisch geordnet." Ott Verlag, Thun: 1974, S. 52 (archive.org)
Dudenredaktion: Duden - Zitate und Ausspüche, Band 12, Duden Verlag, Mannheim: 1993, S. 650
"Harenberg Lexikon der Sprichwörter u. Zitate: mit 50000 Einträgen das umfassendste Werk in deutscher Sprache." (1997) 3. Auflage 2002, Harenberg Verlag, Dortmund: 2002, S. 653
"Die Weltbühne", Hrsg. von  Hermann Budzislawski, Band 36, Ausgaben 1-26, Verlag der Weltbühne, Ost-Berlin: 1981, S. 352 (Link)
Humberto Herrera Carles: "1500 Frases, pensamientos para la vida." Verlag: unbekannt, Kindle Edition: 2011 (Link)
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Dank:
Ich danke Friedhelm Greis für seine Liste angeblicher Tucholsky-Zitate auf seinem  informativen Sudelblog zu Kurt Tucholsky.

Letzte Änderung: 29/11 2021; 9/1 2023 (Zusatz Ronner, dank Friedhelm Greis; Woody Allen.)