Dienstag, 9. Oktober 2018

"Gib dem Menschen einen Hund und seine Seele wird gesund!" Hildegard von Bingen (angeblich)

Pseudo-Hildegard-von-Bingen-Zitat.
 Dieser Reim wird der im Jahr 1098 geborenen Kirchenlehrerin Hildegard von Bingen erst im 21. Jahrhundert unterschoben und ist meines Wissens weder in ihren lateinischen Schriften noch in den deutschen Übersetzungen ihrer Texte oder in seriösen Nachschlagwerken so oder so ähnlich zu finden.

Tatsächlich überliefert ist ein lateinischer Text Hildegard von Bingens über Hunde. Darin beschreibt sie die Liebe und Treue von Hunden, ihr menschenänliches Wesen sowie die Heilkraft ihrer warmen Zungen, wenn sie menschliche Geschwüre ablecken:


Hildegard von Bingen: "De Cane", "Über den Hund"



  • "Der Hund ist recht warm und hat in seinem Wesen und seinen Gewohnheiten etwas vom Menschen und deshalb fühlt und kennt er den Menschen und liebt ihn und hält sich gern bei ihm auf und ist ihm treu. Der Teufel haßt den Hund und schreckt vor ihm zurück wegen der Treue, die er zum Menschen empfindet. Der Hund erkennt Feindseligkeit, Zorn und Unredlichkeit am Menschen und knurrt oft deswegen. Und wenn er weiß, daß in einem Hause Feindse­ligkeit oder Zorn herrscht, knirscht er, mit den Zähnen und murrt. Auch wenn ein Mensch einen Verrat plant, knurrt er ihn an, und «zanckelt» ...

    Auch Freude und Trauer des Menschen fühlt er vorher. Wenn Freudiges bevorsteht, bewegt er fröhlich den Schwanz, wenn Trauriges bevorsteht, heult er traurig.

    Die Wärme seiner Zunge bringt Wunden und Geschwüren Heilung, wenn er sie mit seiner warmen Zunge leckt. Schuhe aus seinem Fell schwächen wegen dessen Unreinheit, denn es ist oft durch den unreinen Schweiß des Fleisches getränkt.

    Sein Fleisch ist für den Menschen nicht zu benutzen. Seine Leber und seine Eingeweide sind giftig. Etwas, wovon der Hund gegessen hat, soll der Mensch nicht mehr genießen, weil er sonst von dem Gift des Hundes etwas, das der Hund in die Überreste speit, mit aufnähme." 


    Übersetzt nach: Hildegard von Bingen, Alle Werke. Patrol. Lat. 197, Sp. 1327f.; hier zitiert nach mediaevistik.com


Aus diesen Zeilen kann man nicht den gereimten Aphorismus ableiten, ein Hund könne die kranken Seelen der Menschen heilen.

 In der katholischen Messe spricht man vor der Kommunion in der Kirche:
  • "Herr, ich bin nicht würdig, dass du eingehst unter mein Dach, aber sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund." (Dómine, non sum dignus, ut intres sub tectum meum: sed tantum dic verbo, et sanábitur ánima mea.) (Link)

 Dieses Gebet ist aus einer Erzählung aus dem Neuen Testament abgeleitet, in der der heidnische Hauptmann von Kafarnaum Jesus um die Heilung seines Dieners bittet. Als Jesus sein Kommen ankündigt, sagt der Hauptmann von Kafarnaum:
  • "Herr, ich bin es nicht wert, dass du mein Haus betrittst; sprich nur ein Wort, dann wird mein Diener gesund."
    Evangelium nach Matthäus 8,5–13 EU
Mit dem Spruch, "Gib dem Menschen einen Hund, so wird seine Seele gesund", wird dem Hund eine Fähigkeit unterstellt, die nach dem katholischen Glauben nur Jesus Christus auszeichnet: "Sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund."
 
Pseudo-Hildegard-von-Bingen-Zitat.


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Quellen:

Wikipedia: Hauptmann von Kafarnaum 
Evangelium nach Matthäus 8,5–13 EU 
Hildegard von Bingen, Alle Werke. Patrol. Lat. 197, Sp. 1327f.; hier vorerst zitiert nach mediaevistik.com
(Vor dem 21. Jahrhundert ist dieses angebliche Hildegard-von-Bingen-Zitat in keinem digitalisierten Text zu finden.)
Beispiele für falsche Zuschreibung an Hildegard von Bingen:
2007: dogforum.de/ (frühe Zuschreibung)
https://www.aphorismen.de/zitat/79231 
gloria.tv, 17. September 2017
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Artikel in Arbeit.