Montag, 24. April 2017

"Zu Hitler fällt mir nichts ein." Karl Kraus (angeblich)

Der erste Satz des 300 Seiten langen polemischen Essays über die Herrschaft Hitlers im Jahr 1933, der 1952 unter dem Titel "Die Dritte Walpurgisnacht" veröffentlicht wurde, lautet: "Mir fällt zu Hitler nichts ein". Gemeint war: nichts, was die Macht Hitlers beschränken und nichts, was den Opfern der Gewalt wirklich helfen könnte. Darüber hinaus ist dieser prägnante Satz eine Anspielung auf ein Bekenntnis von Karl Kraus aus dem Jahr 1925: "mir fällt zu jedem Dummkopf etwas ein".

Dieser Einleitungssatz wird später in der Formulierung: "Zu Hitler fällt mir nichts ein" populär.  Diese Formulierung impliziert allerdings die  falsche Annahme, Karl Kraus sei wirklich nichts zu Hitler und der NSDAP eingefallen.

In Wahrheit war das Aufkommen des Hakenkreuzes seit 1923 ein Thema von Karl Kraus, und seine "Dritte Walpurgisnacht" ist wohl die stärkste Analyse der ersten Monate der Gewaltherrschaft Hitlers. Die Folterungen in den ersten Konzentrationslagern kommen hier ebenso zur Sprache wie die "Worthelfer der Gewalt" Gottfried Benn und Martin Heidegger, der Jargon der Nazis wird ebenso analysiert wie die Unterwerfung sämtlicher gesellschaftlicher Institutionen unter dem Willen der NSDAP-Parteiführung, die im Nazijargon "Gleichschaltung" genannt wird.


Karl Kraus

1925
  • "Produktion
    Die Fülle meines Werks ist ungemein:
    mir fällt zu jedem Dummkopf etwas ein."
    Karl Kraus: "Die Fackel" 697-705, 1925, 61
1928
  • "Ich glaube, es kommt doch in der Literatur hauptsächlich darauf an, was einem einfällt, damit es Sprache werde, von der späterhin die Menschheit etwas zur Geistesbildung abgewinnt; und mir fällt weiß Gott zu jedem Dummkopf etwas ein — ich bin schon so kleinlich —, während der Zustand, in den ich den Gegner versetzt habe, sichtlich der einer Benommenheit ist, wo die Assoziationen durcheinanderflirren, ohne für den Sprachwert mehr als ein Lallen zu ergeben, und wo also von den faden Fehden ein Faden zu jenem Fötus führt, der noch fader ist."
    Karl Kraus: "Die  Fackel" 795-799, 1928, 97f.
1935
  • "Das stolz bekannte Nichts, das mir zu Hitler einfiel, schlägt, denke ich, alles, was den aktiven Freiheitskämpfern nicht eingefallen ist." 
    Karl Kraus: "Die Fackel" 912-915, 1935, 70
Die Wendung "Zu Hitler fällt mir nichts ein" hat bald Flügel bekommen und ist in dieser Version im Zitate- DUDEN (mit einem Hinweis auf die Umformulierung) verbucht; unzählige Anspielungen auf dieses Zitat werden gedruckt. Ein Beispiel:
  • "Zu Hitler fällt mir was ein
    Teppichbeißer, Vegetarier, Unmensch, Übermensch, Abstinenzler, Monster, Nichtraucher, Diktator, Gefreiter, Hundefreund, Dämon, Österreicher, Regierungsrat, Eintopfesser, Reichskanzler, Abenteurer, Junggeselle, Antisemit, Kunstmaler, Sadist, Schriftsteller, Putschist, politischer Gefangener, Klemmi, Ehrenbürger in Frankfurt, Bochum, Wuppertal, Zülpich, Recklinghausen, Bad Honnef, Bergisch Gladbach, Berchtesgaden und weiteren 132 deutschen Gemeinden. - Was noch?"
    Henryk M. Broder,  SPIEGEL SPECIAL 2/1989
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Ernst Jünger, Hans Habe, Fritz J. Raddatz und viele andere meinten, Karl Kraus habe "Zu Hitler fällt mir nichts ein" geschrieben und ihm wäre in der Tat zu Hitler nichts eingefallen. Jochen Stremmel hat in seinem bewundernswert sorgfältigen Buch: "'Dritte Walpurgisnacht' Über einen Text von KARL KRAUS" einige der schiefen Wiedergaben und Interpretationen dieses Zitats gesammelt:



     



 Jochen Stremmel: "Dritte Walpurgisnacht" Über einen Text von Karl Kraus, 1982, S. 220-222.