Mittwoch, 1. Juli 2020

"Mailand oder Madrid – Hauptsache Italien." Andreas Möller (angeblich)


Dieser Witz wurde dem deutschen Weltklasse-Fußballer Andreas Möller erst sechs Jahre, nachdem er ihn angeblich gemacht hat, das erste Mal zugeschrieben. Das angebliche Interview mit diesem Zitat hat noch niemand entdecken können.

1992 wechselte Andreas Möller zu Juventus Turin nach Italien. Bevor der Vertrag fixiert wurde, gab es monatelang Spekulationen und Diskussionen. Bergamo wollte Möller haben, Möller wollte nicht nach Bergamo. Von Madrid war nicht die Rede. In diesen Monaten vor der Vertragsunterzeichnung soll dieser zweitberühmteste Satz Möllers gefallen sein.

Aber erst sechs Jahre danach wurde er Andreas Möller das erste Mal zugeschrieben: zuerst anscheinend in dem Essener Punkrock-Fanzine "Moloko plus" in einer humoristischen Zitaten-Collage,


Moloko Plus, Nr. 11, Sept. ´98, S. 72 (archive.org).

 

dann von Klaus Bittermann, in einem Buch, dessen Titel "Vom Feeling her ein gutes Gefühl" tatsächlich von Andreas Möller stammt.


Klaus Bittermann, Tiamat, 1999.

In einem Interview für das SZ-Magazin hat Andreas Möller einmal bestätigt, dass er den Satz "Vom Feeling her habe ich ein gutes Gefühl" wirklich einmal gesagt hat:

Andreas Möller, 2001

  •  "Gut, das gebe ich zu, das habe ich gesagt. Das ist mir mal rausgerutscht, das kann passieren, oder? Aber der Spruch 'Mailand oder Madrid - Hauptsache Italien', den hat man mir reingesungen."

    Andreas Möller, SZ Magazin, 2001 [Vorerst zitiert nach Uli Hesse, S. 35]
Nach dem Urteil von Uli Hesse, dem Redakteur des Magazins "11 Freunde", der in seinem gut recherchierten, amüsanten Artikel "Vom Feeling her ein ungutes Gefühl" im Magazin "11 Freunde" mehrere falsche Fußballer-Zitate analysiert hat, sollte man in diesem Fall Andreas Möller glauben und nicht Klaus Bittermann, der ihm den Satz ohne Belegstellen untergeschoben hat.

Wäre das Wort im Jahr 1992 wirklich gefallen, hätten sich das Klaus Hansen und Frank Langenfeld, die besten Fußballersprüche-Sammler Deutschlands, in den 1990er Jahren nicht entgehen lassen.

Warum hätte sie das Zitat ignorieren sollen, wenn sie Möllers berühmtestes Zitat  ("Vom Feeling her habe ich ein gutes Gefühl") selbstverständlich in ihre Bücher aufgenommen haben?

Aber weder in in Klaus Hansens Buch "Verkaufte Faszination - 30 Jahre Bundesliga",
Klaus Hansen, 1993.
 
noch in Frank Langefelds Sprüchesammlung: "Verlieren ist wie gewinnen. Nur umgekehrt" kommt das Andreas-Möller-Madrid-Zitat vor.
Frank Langenfeld, 1999.

Da das Zitat in den besten deutschen Fußballersprüchesammlungen der 1990er Jahre noch nicht vorkommt, stimme ich Uli Hesses Argumenten zu: Auch ich halte die Zuschreibung des Spruchs "Madrid oder Mailand - Hauptsache Italien" durch Klaus Bittermann und andere für unbegründet.

Alle späteren Zuschreibungen an Andreas Möller stützen sich anscheinend wissentlich oder unwissentlich auf eine Fußballhumorseite eines Punkrock-Fanzines.

Moloko Plus, Nr. 11, Sept. ´98, S. 72 (archive.org).
Artikel in Arbeit.


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Quellen:
Google
Uli Hesse: "Vom Feeling her ein ungutes Gefühl - ... Ein Streifzug durch die Halbwelt der Kuckuckszitate." "11 Freunde." Nr. 224, Juli 2020, S. 34-36
SZ-Magazin 2001
Hamburger Morgenpost, 27. Februar 2013: "'Mailand oder Madrid...' Andi Möller bestreitet sein berühmtes Italien-Zitat" (Link)
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Fußballerssprüche-Sammlungen ohne das "Madrid-Zitat":
Klaus Hansens (Hg.): "Verkaufte Faszination - 30 Jahre Bundesliga", Klartext Verlag, Essen: 1993
Frank Langefeld: "Verlieren ist wie gewinnen. Nur umgekehrt. Freiwillige und unfreiwillige Weisheiten aus der Welt des Sports", Verlag Die Werkstadt, (Göttingen?): 1999
-
Früheste Zuschreibungen des Kuckuckszitats:

1998
Moloko Plus, Nr. 11, Sept. ´98, S. 72 (archive.org)
Deutsches Ärzteblatt, 30. Oktober 1998, VARIA: Schlußpunkt, "Sprüche von Fußballspielern: 'Von den Medien hochsterilisiert'" (genios.de)

1999
Darmstädter Echo, 8. April 1999 / FEUILLETON, "Der Wortwechsel zum Ballwechsel" (genios.de)
Rhein-Main-Zeitung, 1. Juli 1999, Ankündigung einer "Ausstellung mit dem nicht ganz geographietreuen Titel  'Mailand oder Madrid - Hauptsache Italien!'" (genios.de)
Klaus Bittermann (Hg.): "Vom Feeling her ein gutes Gefühl. Rhetorische Spitzenleistungen in der Welt des Fußballs oder Fußballdeutsch für fortgeschrittene Ausländer." Tiamat,  Berlin: 1999


(Bibliographie folgt.)

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Dank:
Ich danke Uli Hesse für seinen amüsanten Artikel zu diesem
Kuckuckszitat.

Montag, 29. Juni 2020

"Es gibt drei Dinge, die sich nicht vereinen lassen: Intelligenz, Anständigkeit und Nationalsozialismus. Man kann intelligent und Nazi sein. Dann ist man nicht anständig ..." Gerhard Bronner

Der Ursprung dieses Zitats des österreichischen Autors und Kabarettisten Gerhard Bronner ist offenbar ein Anti-Nazi-Witz aus den 1930er Jahren, der in Nazideutschland bei Hitler-Gegnern weit verbreitet war.

"Is Hitler dead? and Best Anti-Nazi Humor." Edited  by B.D. Shaw. New York: 1939, S. 18 (archive.org)
1936
  • "Als Gott die Deutschen erschuf, schenkte er ihnen drei Eigenschaften: Intelligenz, Anständigkeit und Nazismus. Aber Gott in seiner Weisheit machte auch eine Einschränkung. Ein Deutscher konnte nur zwei dieser drei Eigenschaften haben. In anderen Worten: Wenn ein Deutscher ein Nazi ist und anständig, kann er nicht intelligent sein; wenn er ein Nazi ist und intelligent, kann er nicht anständig sein; und wenn er anständig und intelligent ist, kann er kein Nazi sein."
    Magazine Digest

    "Is Hitler dead? and Best Anti-Nazi Humor." Edited with an introduction by. B.D. Shaw. Alceus House, New York: 1939, S. 18 (archive.org);  früheste Erwähnung dieses Witzes in:
    B'nai B'rith -  National Jewish Monthly,  Volume 50, Nr. 6, March 1936, S. 216 [eingeschränkte Vorschau] (Link)

Dieser Witz wurde nach dem 2. Weltkrieg unter Weglassung Gottes als Anekdote und Aperçu über den miesen Charakter der Nazis in verschiedenen Versionen weitererzählt, wohl auch, um die Legenden vom angeblich "guten Nazi" zu zerstören, die zum Beispiel im Umkreis des in entscheidenden Punkten völlig verlogenen Nazi-Rüstungsministers Albert Speer aufgekommen sind.

1948

  • "EIGENSCHAFTEN
    Ein Engländer wird nach seinem Deutschlandbesuch gefragt, wie er die Deutschen gefunden habe. Er antwortet: 'O, sie gefallen mir sehr gut, sie sind ehrlich, intelligent und nationalsozialistisch. Nur schade, daß diese drei Eigenschaften nie zusammentreffen. Ein Deutscher hat immer nur zwei davon. Entweder ist er ehrlich und intelligent, dann ist er nicht nationalsozialistisch, oder er ist intelligent und nationalsozialistisch, dann ist er nicht ehrlich, oder er ist ehrlich und nationalsozialistisch, aber dann ist er nicht intelligent."'

    John Alexander Meier, Kurt Sellin: "Geflüstertes: Die Hitlerei im Volksmund." Freiheit Verlag: 1948, S. 60 (Link); kaum verändert abgedruckt auch in: Hans-Jochen Gamm: "Der Flüsterwitz im Dritten Reich." List: 1963, S. 22 (Link)(Link)
    Nachdrucke: 1964:  (Link); 1980:  (Link)

1963
  • "Ich erinnere mich, daß zur Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland ein Ausspruch zirkulierte, wonach ein Deutscher drei Eigenschaften haben könne: er könne intelligent, er könne ehrlich und er könne ein fanatischer Nazi sein, niemals ..." (Link)
1967

Vielleicht hat Gerhard Bronner auch eine Variante dieses Witzes in einem Beitrag der WDR-Sendung Panorama aus dem Jahr 1967 gesehen. Hier wird die Anekdote nicht einem unbekannten Engländer zugeschrieben, sondern einem bekannten Franzosen.

 
 (Anständige Nazis, 1967, Panorama, panorama.de Facebook Video)

In dieser Panorama-Sendung wird ein angeblicher Ausspruch des französischen Germanisten, Politikers und Diplomaten André François-Poncet zitiert. François-Poncet war in den ersten 5 Jahren der nationalsozialistischen Herrschaft bis 1938 französischer Botschafter in Berlin.

Auf die Frage, ob alle Deutschen Nazis seien, soll André François-Poncet geantwortet haben:
  • "Wenn jemand in Deutschland Nazi ist und intelligent, dann ist er bestimmt nicht anständig. Und alles andere folgt logisch daraus."
Alle logischen Konsequenzen aus dieser Prämisse werden in dem amüsanten TV-Beitrag mit Hilfe eines Computers errechnet und dargestellt.

Folgerungen des Computers:
  • 1. Wer Nazi ist und anständig, der ist nicht intelligent.
  • 2. Wer intelligent ist und anständig, kann kein Nazi sein.
Anständige Nazis, 1967, Panorama, panorama.de Facebook Video

1968

Der Schauspieler Oskar Werner lehnte es  - trotz sehr guter Gage -  ab, in einem Film einen "guten Nazi" zu spielen. 

Oskar Werner, 1968

 

  • "Wenn jemand gut ist und ein Nazi, dann ist er nicht intelligent. Wenn jemand intelligent ist und ein Nazi, dann ist er nicht gut. Und wenn jemand gut und intelligent ist, dann ist er kein Nazi."
Mit dieser 'arithmetischen Gleichung' weigerte sich (laut seinem Biographen) der durch seine Rolle als Schiffsarzt in dem Film "Das Narrenschiff" weltweit bekannt gewordene Burgschauspieler Oskar Werner in Stanley Kramers 'Das Geheimnis von Santa Vittoria'  einen "guten Nazi" zu mimen. 


1979

Aperçus unbekannten Ursprungs werden oft einer Autorität zugeschrieben, wenn sie sarkastisch sind, gerne dem schottischen Satiriker und Dramatiker Bernard Shaw

So erging es auch diesem Zitat; eine Version wird seit dem Jahr 1979 G. Bernard Shaw unterschoben.

Wahrscheinlich war der Grund für das Bernard-Shaw-Kuckuckszitat die Namensgleichheit des Herausgebers B.D. Shaw der "Best Anti-Nazi Humor"-Sammlung, die den Deutschen-Witz enthielt, mit dem Satiriker G.B. Shaw.

"Schriften: Feldpostbriefe aus dem 1. Weltkrieg, Dienststrafverfahren im NS-Deutschland, Gedichte."Erich Pöppel, ATE, Münster: 2000  Google books.


  2005

 

Gerhard Bronner, 7. Mai 2005

 

  • "Es gibt drei Dinge, die sich nicht vereinen lassen: Intelligenz, Anständigkeit und Nationalsozialismus. Man kann intelligent und Nazi sein. Dann ist man nicht anständig. Man kann anständig und Nazi sein. Dann ist man nicht intelligent. Und man kann anständig und intelligent sein. Dann ist man kein Nazi." -

    Gerhard Bronner: Rede bei der Gedenkfeier zum 60. Jahrestag der Befreiung des KZ Gunskirchen, 7. Mai 2005 (schulen.eduhi.at)


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Artikel in Arbeit.

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Quellen:
Rede von Gerhard Bronner anlässlich der Gedenkfeier zum 60. Jahrestag der Befreiung des KZ Gunskirchen , 7. Mai 2005 (Link)
"Anständige Nazis", 1967, Panorama, panorama.de Facebook Video
B'nai B'rith -  National Jewish Monthly,  Volume 50, Nr. 6, March 1936, S. 216 [eingeschränkte Vorschau] (Link)
"Is Hitler dead? and Best Anti-Nazi Humor." Edited with an introduction by. B.D. Shaw. Alceus House, New York: 1939, S. 18 (archive.org)
"Schriften: Feldpostbriefe aus dem 1. Weltkrieg, Dienststrafverfahren im NS-Deutschland, Gedichte."Erich Pöppel, ATE, Münster: 2000 (Google books).
John Alexander Meier, Kurt Sellin: "Geflüstertes: Die Hitlerei im Volksmund." Freiheit Verlag: 1948, S. 60 (Link)
Hans-Jochen Gamm: "Der Flüsterwitz im Dritten Reich." List: 1963, S. 22 (Link)


(Bibliographische Angaben folgen.)
Wikiquote

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Dank: Ich danke Xᴏᴘʜ ᴅᴀ Pʀᴏғ für seinen Hinweis auf den Panorama-Beitrag und Ralf Bülow für seine Funde zum Urspung des Zitats als Anti-Nazi-Witz.


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Anhang



Twitter, 2020

 


Der Technikhistoriker Ralf Bülow hat herausgefunden, dass die Einschätzung, ein Deutscher könne nicht gleichzeitig anständig, Nationalsozialist und intelligent sein als anonymer Witz schon vor 1945 in Deutschland verbreitet war und nicht nur dem französischen Botschafter zugeschrieben wird.

Twitter




  

 


Sonntag, 28. Juni 2020

Was sind Kuckuckszitate?


Kuckuckszitate: Was Goethe, Loriot, Nietzsche und Co. nie gesagt haben | Capriccio | BR - (5:16)

Ein Film von Laura Beck.


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Twitter, 19. März 2018




Freitag, 26. Juni 2020

"Der Klügere gibt nach! Eine traurige Wahrheit, sie begründet die Weltherrschaft der Dummheit. " Marie von Ebner-Eschenbach

Verändertes Marie-von-Ebner-Eschenbach-Zitat.
Diesen Aphorismus hat die österreichische Autorin Marie von Ebner-Eschenbach im Jahr 1876 geprägt und in späteren Editionen nicht nur die Interpunktation und die Rechtschreibung verändert.

Marie von Ebner-Eschenbach, 1876


  • " 'Der Gescheitere giebt nach!' Ein unsterbliches Wort. Es begründet die Weltherrschaft der Dummheit."

    Marie von Ebner-Eschenbach: Aphorismen, in: "Die Dioskuren." Literarisches Jahrbuch des ersten allgemeinen Beamtenvereines der österreichische-ungarischen Monarchie. Fünfter Jahrgang, k.k. Hof- und Staatsdruckerei, Wien 1876, S. 160 (Link)

Marie von Ebner-Eschenbach, 1893


Verlag von Gebrüder Paetel, 1893.
  • "21. / Der Gescheitere giebt nach! Ein unsterbliches Wort. Es begründet die Weltherrschaft der Dummheit."

    Marie von Ebner-Eschenbach: Gesammelte Schriften. Erster Band, Aphorismen, Parabeln, Märchen und Gedichte, 4. Auflage,
    Verlag von Gebrüder Paetel. Berlin: 1893, S. 6 (archive.org)

Marie von Ebner-Eschenbach, 1895


  • "Der Gescheitere giebt nach! Eine traurige Wahrheit. Sie begründet die Weltherrschaft der Dummheit."

    Marie von Ebner-Eschenbach: Aphorismen. 4. Auflage. Verlag von Gebrüder Paetel. Berlin: 1895,
    1895, S. 10 (books.google)

Im Lauf der Jahre wurde dieser Wortlaut mehrfach verändert und in manchen Publikationen (sogar im Zitatenlexikon von Daniel Sanders) wurde auch vergessen, von wem das Zitat urspünglich stammt.


1910

  • " 'Der Klügere gibt nach!' Ein unheilvoll Wort. Drum dauert auch die Weltherrschaft der D u m m h e i t noch fort. Fliegende Blätter Nr. 2327 S. 76"

    Daniel Sanders: Zitatenlexikon: Eine Sammlung von über zwölftausend Zitaten, Sprichwörten, sprichwörtlichen Redensarten und Sentenzen, 2. Auflage, J.H. Weber, Leipzig: 1910(?) S. 472 (Link)
Marie von Ebner-Eschenbach starb im Jahr 1916. 


1919 zum Beispiel wurde aus dem "unsterblichen Wort" Marie von Ebner-Eschenbachs ein "unsterblicher Grundsatz":

  • "Ebner-Eschenbach sagt einmal in ihren beherzigenswerten Aphorismen: 'Der Klügere gibt nach — ein unsterblicher Grundsatz ! Er bedeutet die Weltherrschaft der Dummheit.'"

    Deutsche Revue
    : eine Monatschrift, 44. Jahrgang,Teile 1-2, 1919, S. 38 (Link)

Marie von Ebner-Eschenbach, 1920

  • "21. / Der Gescheitere gibt nach! Eine traurige Wahrheit; sie begründet die Weltherrschaft der Dummheit."

    Marie von Ebner-Eschenbach: Sämtliche Werke. Band 1, 1.-20. Tausend,
    Verlag von Gebrüder Paetel und Herm. Klemm A.G, Berlin: (o.J.) 1920, S. 582 (archive.org)

Marie von Ebner-Eschenbach, 1939

Insel-Bücherei Nr. 543, 1939.
  • "Der Gescheitere gibt nach! Eine traurige Wahrheit; sie begründet die Weltherrschaft der Dummheit."

    Marie von Ebner-Eschenbach: Aphorismen. Insel-Bücherei Nr. 543, Insel Verlag, Leipzig: 1939, S. 6

1990
  • "Die Pseudoweisheit 'Der Klügere gibt nach' ist ein unsterbliches Sprichwort geworden. Es begründet die Weltherrschaft der Dummheit. (Verfasser nicht bekannt)"  2013 (Link)
  • "Der Klügere gibt nach! Eine traurige Wahrheit; sie begründet die Weltherrschaft der Dummheit. Marie von Ebner-Eschenbach"  
    Hans Werner Wüst: "Zitate u. Sprichwörter", Bassermann, München: 2010, "Nachgeben" ebook (Link)

Da der Aphorismus heute in unterschiedlichen Versionen verbreitet wird, hatte ich anfänglich den Verdacht, die Version mit dem Satz, "Eine traurige Wahrheit", stamme nicht von Ebner-Eschenbach. Das war ein Irrtum.



Artikel in Arbeit.
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Quellen:
Marie von Ebner-Eschenbach: Aphorismen, in: "Die Dioskuren." Literarisches Jahrbuch des ersten allgemeinen Beamtenvereines der österreichische-ungarischen Monarchie. Fünfter Jahrgang, k.k. Hof- und Staatsdruckerei, Wien 1876, S. 160 (Link)

Marie von Ebner-Eschenbach: Gesammelte Schriften. Erster Band, Aphorismen, Parabeln, Märchen und Gedichte, 4. Auflage,  Verlag von Gebrüder Paetel. Berlin: 1893, S. 6 (archive.org)
Marie von Ebner-Eschenbach: Aphorismen. 4. Auflage. Verlag von Gebrüder Paetel. Berlin: 1895, S. 10 (books.google)
Marie von Ebner-Eschenbach: Sämtliche Werke. Band 1, 1.-20. Tausend, Verlag von Gebrüder Paetel und Herm. Klemm A.G, Berlin: (o.J.) 1920, S. 582 (archive.org)
Marie von Ebner-Eschenbach: Aphorismen. Insel-Bücherei Nr. 543, Insel Verlag, Leipzig: 1939, S. 6 
 Daniel Sanders: Zitatenlexikon: Eine Sammlung von über zwölftausend Zitaten, Sprichwörten, sprichwörtlichen Redensarten und Sentenzen, 2. Auflage, J.H. Weber, Leipzig: 1910(?) S. 472 (Link)
Hans Werner Wüst: "Zitate u. Sprichwörter", Bassermann, München: 2010, "Nachgeben" ebook (Link)
Deutsche Revue: eine Monatschrift, 44. Jahrgang,Teile 1-2, 1919, S. 38 (Link)
Hans Werner Wüst: "Zitate u. Sprichwörter", Bassermann, München: 2010, "Nachgeben" ebook (Link)

Versionen im 20. Jh.:
2003 (Link)
2004 (Link)

2006 (Link)

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Dank:
Ich danke Zitante Christa  sehr für den Hinweis auf die Ausgabe des Insel Verlags und für ihre Recherchen.

"Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan, der Mohr kann gehen.“ Friedrich Schiller (angeblich)

In Friedrich Schillers Drama "Die Verschwörung des Fiesco zu Genua" sagt der "Mohr" Muley Hassan nach einem Streit mit seinem Auftraggeber zu sich selber, er habe seine "Arbeit" getan (nicht: seine "Schuldigkeit").

Muley Hassan ("ein konfiszierter Mohrenkopf, die Physiognomie eine originelle Mischung von Spitzbüberei und Laune") verlangt die Auszahlung seines Honorars für seine Arbeit als Spitzel am Rande der Legalität.

Sein Auftraggeber Fiesco, Graf von Lavagna ("Haupt der Verschwörung, junger, schlanker, blühend-schöner Mann von 23 Jahren – stolz mit Anstand – freundlich mit Majestät – höflich-geschmeidig und eben so tückisch" ) schickt ihn nach der Honorarforderung ins Vorzimmer. Er möge dort warten. 

Daraufhin murmelt Muley Hassan beim Hinausgehen:

Schon Georg Büchmann wies in der Ausgabe von 1877 seiner "Geflügelten Worte" darauf hin, dass "dieses Citat erst richtig wird, wenn man 'Arbeit' statt 'Schuldigkeit' setzt".


Georg Büchmann:

  • "Ein untrügliches Kennzeichen eines allgemein gewordenen Citats ist die Veränderung seiner ursprünglichen Form [..]", die "gewöhnlich hartnäckig als die allein richtige verteidigt wird". (archive.org)

Seitdem wurde noch oft von Philologen erklärt, warum "Schuldigkeit" die falsche Bezeichnung für die Arbeit ist, die Muley Hassan für seinen Auftraggeber geleistet hat.

Zuletzt verfluchte der Theaterkritiker Gerhard Stadelmaier in einem amüsanten Kommentar in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung alle, die das Zitat in seiner populären Form verwenden:


Gerhard Stadelmaier, 2012:



  • "Leser! Bürger! Abonnenten! Nicht beweinen will ich diese Zitatleiche - ich will sie verfluchen: 'Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan, der Mohr kann gehen.' Denn sie ist der pure Blödsinn. Doch weniger eine Zitatleiche. Mehr eine Zitat-Untote. Der allerunsterblichsten Sorte. Das hartnäckigste Sprichwortgespenst überhaupt. Es spukt: unausrottbar.
  • "Denn Schillers Mohr trägt zwar einen orientalischen Namen, ist aber, wie alle seine Mitfiguren auch, von durch und durch schwäbischem Geblüt. Schillers Figuren (nicht nur sein Mohr) sind keine griesgrämigen, bittertöpfigen Schuldigkeittuer, die irgendjemandem zu Gefallen etwas anstellen. Sie tun, was sie tun, auf eigene, tolle, gefährliche, manchmal sogar weltstürzende Rechnung. Ihre Arbeit belohnt sich selbst - und sei’s mit dem Tod.

    Wer also aus des Mohren harter, freier Arbeit in bequemer biedermännischer Laune eine kleinbürgerliche, womöglich rundum sozialversicherte 'Schuldigkeit' macht, der verdummt und verharmlost nicht nur ein Zitat. Der kann gehen. Und zwar dorthin, wo der Sprichwortpfeffer wächst."


    Gerhard Stadelmaier: "Sprichwortgespenst: Schiller schafft", FAZ, 3. April 2012 (faz.net)
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Artikel in Arbeit.
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Quellen:
Georg Büchman: "Geflügelte Worte. Der Citatenschatz des Deutschen Volkes." Zehnte verbesserte und vermehrte Auflage. Haude und Spener'sche Buchhandlung, Berlin: 1877, S. 3f.
Gerhard Stadelmaier: "Sprichwortgespenst: Schiller schafft", Frankfurter Allgmeine Zeitung, 3. April 2012 (aktualisiert, faz.net)

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Dank an Gerhard Stadelmaier, und an Michael Kanthak für eine Korrektur.


Letzte Änderung: 12/12 2022.

Dienstag, 16. Juni 2020

"Nichts ist geregelt, was nicht gerecht geregelt ist." Abraham Lincoln (angeblich)


Pseudo-Abraham-Lincoln-Zitat.

Der Aphorismus "Nothing is ever settled until it is settled right" wurde 1891 dem britischen Premierminister William Ewart Gladstone zugeschrieben, zwei Jahre später Benjamin Disraeli und seit 1895 dem 16. Präsident der Vereinigten Staaten Abraham Lincoln, dem das Zitat bis beute am häufigsten zugeschrieben wird.

Bei keinem dieser drei Politiker lässt sich meines Wissens aber nachweisen, dass sie das Zitat  wirklich verwendet haben.

Moritz Jacob hat herausgefunden, dass dieser Aphorismus anscheinend im Jahr 1850 von dem amerikanischen Autor und Prediger Henry Ward Beecher geprägt wurde.

Beecher engagierte sich wie seine berühmtere Schwester Harriet Beecher Stowe für die Abschaffung der Sklaverei und trat schon Mitte des 19. Jahrhunderts gemeinsam mit Suffragetten für die Gleichberechtigung von Frauen ein.

1850
  • "But no moral question, practical or theortic, is finally settled until it is settled right."

    Henry Ward Beecher: "Politicians Short-sighted", in: "The Anti-Slavery Bugle." Vol. 5, No. 35, May 11, 1850, S. 1, Spalte 7 (Link); (Link)
Dieser Aphorismus ist bald zum anonymen Sprichwort geworden und wurde in den folgenden  Jahrzehnten oft variiert und verschiedenen Männern zugeschrieben.

1864
  • "The question between the nation an the insurgents will never be settled until it is settled right".
    S. 11 (Link)

1880
  • "Its nature is to make trouble until it is settled, and it will not be settled until it is settled right".  S. 102 (Link)
1881


1888 erschien das vierstrophige Gedicht "An Inspiration" der amerikanischen Autorin Ella Wheeler Wilcox mit dem Refrain: 
  • "No question is ever settled / Until it is settled right." (books.google)



1891
  • "I believe it was Gladstone who said that no question is ever settled until it is settled right." 
1893
  • "'A question is never settled until it is settled right,' said Mr. Disraeli, and we propose to keep this question before the people until it is settled, and, as we believe, settled right."
1895
  • "Great LINCOLN, with his sane and seer-like sense of the ultimate might of morals, laid his eye, as if to the sights of a long rifle, and said, 'Nothing is ever settled until it is settled right.' [Applause.]"

    Melancthon Woolsley Stryker: "Ethics in Politics", speech, N.Y., 19. November 1895, in: Melancthon Woolsley Stryker: "Hamilton, Lincoln a. other addresses", William T. Smith a. Company, Atica, N.Y.: 1896, S. 105 (Link)

1896
  • "And as Ella Wheeler Wilcox says, 'No question is ever settled until it's settled right' ." (Link)
1915
  • "'A question is never settled until it is settled right,' is one of the wisest of Lincoln's wise sayings. This question of religious education will never be settled "right," until religion is taught in the school." (Link)
Auf Deutsch wird das Zitat seit den 1960er Jahren (Google) Abraham Lincoln zugeschrieben, obwohl es anscheinend von dem in Europa völlig unbekannten Aktivisten und Autor Henry Ward Beecher geprägt wurde und in den Schriften Abraham Lincolns bislang nicht nachgewiesen werden konnte.

Zukünftige Recherchen könnten zu anderen Ergebnissen kommen.

Artikel in Arbeit.






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Quellen:
Henry Ward Beecher: "Politicians Short-sighted", in: "The Anti-Slavery Bugle." Vol. 5, No. 35, May 11, 1850, S. 1, Spalte 7 (Link); (Link)
Melancthon Woolsley Stryker: "Ethics in Politics", speech, N.Y., 19. November 1895, in: Melancthon Woolsley Stryker: "Hamilton, Lincoln a. other addresses", William T. Smith a. Company, Atica, N.Y.: 1896, S. 105 (Link)
 Ella Wheeler Wilcox :  "An Inspiration",  in: Ella Wheeler Wilcox: "Poems of Power" (1888), Gay and Hancock, London: 1912, S. 128f.  (archive.org) [Die Datierung der Erstausgabe 1888 habe ich vorerst von Fred R. Shapiro übernommen.]
 "The Yale Book of Quotations". Edited by Fred R. Shapiro. Foreword by Joseph Epstein, Yale University Press, New Haven and London: 2006, S. 817, Wilcox
"The Dictionary of Modern Proverbs". Zusammengestellt von Charles Clay Doyle, Wolfgang Mieder und Fred R. Shapiro, Yale University Press, New Haven: 2012
Wolfgang Mieder: The Prentice-Hall Encyclopedia of World Proverbs. MJF Books, New York: 1986
[Vollständige Bibliographie folgt.]

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Dank:
Ich danke Cranky Philosopher für die Frage nach dem Zitat und Moritz Jacob und Ralf Bülow sehr für ihre Recherchen.





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Nicht in Wilcox Poems 1889 enthalten

Samstag, 13. Juni 2020

"Vergebung ist der einzige Weg, um den irreversiblen Fluss der Geschichte umzukehren." Hannah Arendt (angeblich)

Pseudo-Hannah-Arendt-Zitat; Facebook 12/6 2020.

Dieses angebliche Hannah-Arendt-Zitat gibt es auf Deutsch erst seit ein paar Jahren.

Einen irreversiblen, das heisst: einen nicht umkehrbaren Fluss umzukehren, ergibt auch als Metapher keinen Sinn. Wer einen Fluss umkehren will, möchte ihn zur Quelle zurückfließen lassen.

Von der rationalen Politik- und Moral-Analytikerin Hannah Arendt sind keine schiefen Metaphern überliefert und auch dieses Zitat ist in ihren Schriften nicht zu finden.


Entstanden ist das populäre Kuckuckszitat in Amerika. Der anglikanische Theologe und Priester J. Barrie Shepherd schrieb in einem 1995 erschienen Buch, er habe Hannah Arendt sagen gehört: "Forgiveness is the only way to reverse the irreversible flow of history."


1995
  • "I once heard Hannah Arendt, a Jew who had to flee for life from the Nazis, say, 'Forgiveness is the only way to reverse the irreversible flow of history'."

    J. Barrie Shepherd: "Aspects of Love: An Exploration of 1 Corinthians 13", Wipf and Stock, Eugene /Oregon: (Erstausgabe: 1995, Upper Room Books) 2010: S. 76 (Link)
Pseudo-Hannah-Arendt-Zitat.

Zitate ohne genaue Quellenangaben sowie Zitate vom Hörensagen können philologisch nicht ernst genommen werden, und schiefe Metaphern sollten einer vernünftigen Person schon gar nicht unterschoben werden.

Hannah Arendt hat den Wert von Vergebung und Verzeihung für ein gesellschaftliches Miteinander in ihrem 1958 publizierten Werk "The Human Condition" ("Vita activa oder Vom tätigen Leben") in dem Kapitel  "Die Unwiderruflichkeit des Getanen und die Macht zu verzeihen" hervorgehoben.

Sie hat auf den Unterschied zwischen dem christlichen Vergebungs-Gebot aus Liebe und dem Verzeihen aus Respekt hingewiesen und erwähnte auch die unverzeihlichen Verbrechen, die nicht vergeben werden können.

Man kann sich auf Hannah Arendt berufen, wenn man jemandem eine Dummheit oder ein Vergehen verzeiht, aber nicht mit diesem Zitat.

Der Terminus "irreversibler Fluss der Geschichte" kommt meinen Recherchen nach in Arendts Schriften und Interviews nicht vor, und ich wette um ein Exemplar ihres Buchs "Vita activa oder Vom tätigen Leben",  dass er auch nie gefunden werden wird.

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Quellen:
Google
Hannah Arendt: "The Human Condition", (Erstausgabe: 1958) Second Edition, University of Chicago Press, Chicago: 2013
Hannah Arendt:  "Die Unwiderruflichkeit des Getanen und die Macht zu verzeihen", in : Hannah Arendt: "Vita activa oder Vom tätigen Leben", (erste deutsche Übersetzung: 1958, Kohlhammer Verlag, Stuttgart) Taschenbuchausgabe Piper Verlag, 3. Auflage, München: 1983, S.  300-311
J. Barrie Shepherd: "Aspects of Love: An Exploration of 1 Corinthians 13", Wipf and Stock, Eugene /Oregon: (Erstausgabe: 1995, Upper Room Books) 2010: S. 76 (Link)

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Dank:
Ich danke Tobias Blanken sehr für seine Recherchen und seine Einschätzung des Kuckuckzitats.