Donnerstag, 13. September 2018

"In der Gefahr wächst das Rettende auch." Friedrich Hölderlin (angeblich)

Die berühmten Zeilen Hölderlins, "Wo aber Gefahr ist, wächst / Das Rettende auch", aus der ersten Strophe seiner 15strophigen Hymne "Patmos", wird von Leuten ohne Sinn für Sprachrhythmus leider oft entstellt wiedergegeben:

Beispiele für Verunstaltungen:

  • "In der Gefahr wächst das Rettende auch."
  • "Mit der Gefahr wächst das Rettende auch."
  • "Denn mit der Gefahr wächst das Rettende auch."  
  • "Da, wo die Gefahr wächst, wächst das Rettende auch".
  • "In der Not wächst das Retttende auch." 
  • "Und wo die Not am größten, wächst das Rettende doch".
  • "Aber wo die Not am größten ist, sagt Hölderlin, da wächst das Errettende auch." 

Friedrich Hölderlin,  1803/1808:

                  Patmos


  • "Nah ist
    Und schwer zu fassen der Gott.

    Wo aber Gefahr ist, wächst

    Das Rettende auch."


Friedrich Hölderlin: Patmos / Dem Landgrafen von Homburg, Manuskript 1803, Stroemfeld,  S. 427 (Link)


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Quellen:
Google
Twitter  
Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke, Frankfurter Ausgabe, hrsg. von D.E. Sattler, Band 7, Gesänge, Stroemfeld/Roter Stern, Frankfurt am Main / Basel: 2000; Patmos, Manuskript 1803,  S. 427 (Link)
Friedrich Hölderlin: Patmos zeno.org
Friedrich Hölderlin: Pathmos. Erstdruck in: Musenalmanach für das Jahr 1808. Herausgegeben von Leo Freiherrn von Seckendorf. Regensburg, in der Montag- und Weißischen Buchhandlung, S. 78-87 (hoelderlin.de)
Wikipedia

Letzte Änderung: 2/4 2020

 

Mittwoch, 12. September 2018

"Werde der, der du bist." Johann Wolfgang von Goethe (angeblich)

Diese Maxime des griechischen Dichters Pindar wird Johann Wolfgang von Goethe fälschlich zugeschrieben und ist weder in seinen digitalisierten Schriften noch in Goethe-Lexika zu finden.

Pindars Maxime stammt in diesem Wortlaut von Friedrich Nietzsche, in dessen Schriften und Briefen sie fünfmal in leicht verschiedenen Versionen vorkommt. Auch der Untertitel von Nietzsches letztem Werk, "Ecce homo. Wie man wird was man ist", spielt auf diesen Pindarschen Aphorismus an.


Friedrich Nietzsche:

Von diesem Satz Pindars gibt es viele verschiedene Übersetzungen, aber keine von Goethe.

Pindar, Zweite Pythische Ode:

  • "γένοι' οἷος ἐσσὶ μαθών"
  • "Werde welcher du bist erfahren". Übersetzt von Friedrich Hölderlin.
  • "Werde der, der du bist!" Übersetzt von Friedrich Nietzsche.
  • "Komm zur Kenntnis, von welcher Art du bist!" Übersetzt von Dieter Bremer.
  • "Beginne zu erkennen, wer du bist." Übersetzt von Eugen Dönt.
  • Become such as you are, having learned what that is.
  • Be what you know you are.
  •  Become the one thou art. 
    Become who you are!
  • Be true to thyself now that thou hast learnt what manner of man thou art.
  • Having learned, become who you are.
  • Deviens celui que tu es!
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Quellen:
"Lexikon der Goethe-Zitate". Hrsg. von Richard Dobel, Artemis Verlag, Weltbild Verlag, Augsburg: 1991
Pindar: "Siegeslieder" Griechisch - Deutsch,  Übers.: Dieter Bremer, Sammlung Tusculum, Patmos Verlag, Düsseldorf/Zürich: 2003, Zweite Pytische Ode, S. 124/72; 125 (Link)
Pindar: "Oden", übersetzt und hrsg. von Eugen Dönt, Reclam, Stuttgart: 1986, S. 99
Friedrich Hölderlin: Pindar, in: Friedrich Hölderlin: Sämmtliche Werke,  Band 15, hrsg. von D. E. Sattler, Stroemfeld/Stern, Frankfurt am Main: 1987, S. 219, Z. 131 (Link)
Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente Oktober–Dezember 1876
 Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente Frühjahr–Herbst 1881
Friedrich Nietzsche: Brief an Lou von Salomé: vermutlich 10. Juni 1882
Friedrich Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft: § 270. Erste Veröff. 1882
Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra IV: Das Honig-Opfer. 1885  
Timo Hoyer: "Nietzsche und die Pädagogik: Werk, Biografie und Rezeption", Königshausen u. Neumann, Würzburg: 2002, S. 418  (Link) 
Andreas Urs Sommer: "Kommentar zu Nietzsches "Der Antichrist", "Ecce homo", "Dionysos-Dithyramben, Nietzsche contra Wagner",  Nietzsche-Kommentar 6/2, De Gruyter, Berlin/ Boston: 2013, S.  354 (Link)

Beispiele für falsche Zuschreibung an Goethe:
1985 books.google
facebook
twitter 

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Ich danke Frank Richter für den Hinweis auf dieses Falschzitat.



Artikel in Arbeit.


(Link)



Johann Wolfgang von Goethe

  • Mephistopheles:
    "Du bist am Ende - was du bist.
    Setz dir Perücken auf von Millionen Locken,
    Setz deinen Fuß auf ellenhohe Socken,
    Du bleibst doch immer, was du bist."
    Faust I, 1806-10 (Link)

Urworte, orphisch

ΔΑΙΜΩΝ, Dämon

        Wie an dem Tag, der dich der Welt verliehen,
Die Sonne stand zum Gruße der Planeten,
Bist alsobald und fort und fort gediehen
Nach dem Gesetz, wonach du angetreten.
So mußt du sein, dir kannst du nicht entfliehen,
So sagten schon Sibyllen, so Propheten;
Und keine Zeit und keine Macht zerstückelt
Geprägte Form, die lebend sich entwickelt.

Dienstag, 11. September 2018

"Auschwitz beginnt da, wo einer im Schlachthaus steht und denkt, es sind ja nur Tiere." Theodor W. Adorno (angeblich)

Pseudo-Theodor-W.-Adorno-Zitat.

Dieses durch PETA-Kampagnen für Tierrechte inzwischen in vielen Sprachen weltweit verbreitete Zitat wurde anscheinend erstmals 1992 von der damals noch grünen Abgeordneten Vera Lengsfeld im Deutschen Bundestag dem Philosophen Theodor W. Adorno unterschoben:


Vera Wollenberger / Lengsfeld (Bündnis 90/GRÜNE), Deutscher Bundestag, 8. Mai 1992; Pseudo-Adorno-Zitat.

 

Man sucht seit mehr als 15 Jahren vergeblich nach einer seriösen Quelle für das Zitat, und Kennerinnen und Kenner der Schriften Adornos haben es weder in seinen Werken noch in seinen Briefen oder Interviews gefunden (Link).

Das Zitat ist also ein Falschzitat, aber es ist doch nicht völlig "frei erfunden" , da es als verkürzende Paraphrase einiger Gedanken Theodor W. Adornos zum Verhältnis von Tier und Mensch verstanden werden kann.

Adorno analysiert in seiner "Minima Moralia" unter dem Titel "Menschen sehen dich an" die Verwendung der Floskel, "es ist ja bloß ein Tier", mit der die Schmerzen von Tieren bagatellisiert und Tiere unter die gefühllosen Sachen eingereiht werden.

Diese Floskel wurde im Falschzitat mit dem berühmten Grundsatz der "Erziehung nach Auschwitz" Adornos, "daß Auschwitz nicht noch einmal sei", in Zusammenhang gebracht.

In den Kommentaren der "Süddeutschen Zeitung" (Link) und des "Spiegel" (Link) zum angeblichen Adorno-Zitat auf den Peta-Plakaten wurde - so wie in anderen Zeitungsberichten - nicht darauf hingewiesen, dass es Theodor W. Adorno nur unterschoben wurde.

Theodor W. Adorno

 1951
  •  "Menschen sehen dich an. Die Entrüstung über begangene Grausamkeiten wird um so geringer, je unähnlicher die Betroffenen den normalen Lesern sind, je brunetter, ‹schmutziger›, dagohafter. Das besagt über die  Greuel selbst nicht weniger als über die Betrachter. Vielleicht ist der gesellschaftliche Schematismus bei der Wahrnehmung bei den Antisemiten so geartet, daß sie die Juden überhaupt nicht als Menschen sehen. Die stets wieder begegnende Aussage, Wilde, Schwarze, Japaner glichen Tieren, etwa Affen, enthält bereits den Schlüssel zum Pogrom.

    Über dessen Möglichkeit wird entschieden  in dem Augenblick, in dem das Auge eines tödlich verwundeten Tiers den Menschen trifft. Der Trotz, mit dem er dieses Bild von sich schiebt – ‹es ist ja bloß ein Tier› –, wiederholt sich unauf­haltsam in den Grausamkeiten an Menschen, in denen die Täter das ‹Nur ein Tier› immer wieder  sich bestätigen müssen, weil sie es schon am Tier nie ganz glauben konnten.

    In der repressiven  Gesellschaft ist der Begriff des Menschen selber eine Parodie der Ebenbildlichkeit. Es liegt im Mechanismus der ‹pathischen Projektion›, daß die Gewalthaber als Menschen nur ihr eigenes  Spiegelbild wahrnehmen, anstatt das Menschliche gerade als das Verschiedene zurückzuspiegeln.

    Der Mord ist dann der Versuch, den Wahnsinn solcher falschen Wahrnehmung durch größeren Wahnsinn immer wieder in Vernunft zu verstellen: was nicht als Mensch gesehen wurde und doch  Mensch ist, wird zum Ding gemacht, damit es durch keine Regung den manischen Blick mehr widerlegen kann."

    Theodor W. Adorno: Minima Moralia, 1951, 2004 S. 118 f.

1965

1966
  • "Die Forderung, daß Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die allererste an Erziehung. Sie geht so sehr jeglicher anderen voran, daß ich weder glaube, sie begründen zu müssen noch zu sollen. Ich kann nicht verstehen, daß man mit ihr bis heute so wenig sich abgegeben hat."
     
    Theodor W. Adorno: "Erziehung nach Auschwitz", 1966, 1993 (Link)
 1967?
  • "Die ethi­sche Würde bei Kant ist eine Differenzbestimmung. Sie richtet sich gegen die Tiere. Sie nimmt tendenziell den Menschen von der Schöpfung aus und damit droht ihre Humanität un­ablässig in Inhumanität umzuschlagen.

    Fürs Mitleid läßt sie keinen Raum. Nichts ist dem Kantianer verhaßter als die Erinnerung an die Tierähnlichkeit des Menschen. Deren Tabuierung ist allemal im Spiel, wenn der Idealist auf den Materialisten schimpft. Die Tiere spielen fürs idealistische System virtuell die gleiche Rolle wie die Juden fürs faschistische."

    Theodor W. Adorno: "Ad Beethoven", 1967?, 1993, S. 123-124 (fragment 202)

 Varianten des Pseudo-Adorno-Zitats:

  • "Auschwitz beginnt, wenn wir sagen: es sind ja nur Tiere."
  • "Auschwitz fängt da an, wo einer steht und denkt, es sind ja nur Tiere.  
  • "Auschwitz beginnt da, wo einer im Schlachthaus steht und denkt, es sind ja nur Tiere."
  • "Auschwitz fängt da an, wo einer im Schlachthof steht und sagt, es sind ja nur Tiere"
  • "Auschwitz begins wherever someone looks at a slaughterhouse and thinks: they're only animals."
  • "Auschwitz begins whenever someone looks at a slaughterhouse and thinks: They are only animals."
  • « Auschwitz commence quand quelqu'un regarde un abattoir et pense : ce ne sont que des animaux. "
  • "Auschwitz comienza cuando alguien mira un matadero y piensa: son sólo animales."
  • "Auschwitz, bir insan mezbahaya bakıp "ama onlar hayvan" dediği zaman başlar." 
Pseudo-Adorno-Zitat.

Pseudo-Adorno-Zitat.
 
Pseudo-Adorno-Zitat.


 

 

 

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Quellen:

Theodor W. Adorno: "Beethoven, Philosophie der Musik, Fragmente und Texte", hrsg. von Rolf Tiedemann, Suhrkamp, Frankfurt am Main: 1993, S. 123-124 (fragment 202)
Theodor W. Adorno: Minima Moralia, 1951, 2004 S. 118 f. 
Theodor W. Adorno: Offener Geburtstagsbrief an Horkheimer, 1965 zeit.de/1965/07/offener-brief-an-max-horkheimer
Theodor W. Adorno: "Erziehung nach Auschwitz", 1966, 1993 (Link)
 Abgeordnete Vera Wollenberger (Bündnis 90/GRÜNE), Deutscher Bundestag: Plenarprotokoll - 12. Wahlperiode - 92. Sitzung, 8. Mai 1992, Bonn: 1992,  S. 7553 (Link)
Marcel Sebastian, Julia Gutjahr: "Das Mensch-Tier-Verhältnis der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule" in: Gesellschaft und Tiere: Soziologische Analysen zu einem ambivalenten Verhältnis herausgegeben von Birgit Pfau-Effinger, Sonja Buschka, S. 97ff.; S. 104 Anmerkung (Link)
Spiegelredaktion: "Kampagnen - Ein Krieg für Tiere", DER SPIEGEL 12/2004, 15. März 2004 (Link)
Gustav Seibt: "Die Holocaust-Plakate von Peta  - Vegetarische Moral", Süddeutsche Zeitung, 19. Mai 2010 (Link)
Frederik van Gelder, Institut für Sozialforschung, J.W.-Goethe-Universität, 10. Juli 2003: " I can say with certainty that there is no such quote in Adorno. Not in the Gesammelte Schriften, not in the Nachlassbaende, not in the 'Adorno-Blaetter'. What you've got here is simply apocryphal." h-net.msu.edu
Wikipedia Talk
Horkheimer: books.google

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Dank:
Ich danke Julia Gutjahr und Marcel Sebastian für ihre profunde Analyse: "Das Mensch-Tier-Verhältnis der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule".
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Artikel in Arbeit.
  • "Das Vivisektionslabor ist ein Übungsfeld für die Todeslager. Der Impuls totalitärer Sadisten, ihre künftigen Opfer als Mitglieder fremder Rassen zu etikettieren, war dadurch motiviert, daß Rasse als eine natürliche statt soziale Kategorie galt."
    Horkheimer an Red N. Healey 22. Mär
    z 1945