Dienstag, 3. März 2020

"Wer keinen Humor hat, sollte eigentlich nicht heiraten." Eduard Mörike (angeblich)

Pseudo-Eduard-Mörike-Zitat.

Dieser Aphorismus wurde Eduard Mörike mehr als 100 Jahre nach seinem Tod erstmals zugeschrieben und ist in seinen Texten nicht zu finden; der humoristische Aphorismus ist also höchstwahrscheinlich ein Kuckuckszitat, auch weil er in keinem seriösen Nachschlagwerk verzeichnet ist.

  • "Wer keinen Humor hat, sollte eigentlich nicht heiraten."
  • "Wer keinen Humor hat, sollte nicht heiraten."
Erstmals unterschoben wurde Eduard Mörike dieses Bonmot anscheinend im Jahr 1999 ohne Quellenangabe in einem Ratgeberbuch für Hochzeitsreden ("Die schönsten Reden für Hochzeit und Hochzeitstage" books.google ), das man philologisch nicht ernst nehmen kann.

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Twitter:

 

Artikel in Arbeit.
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Quellen:
Eduard Mörike: Projekt Gutenberg; Google

Beispiele für falsche Zuschreibungen:
1999: "Die schönsten Reden für Hochzeit und Hochzeitstage", herausgegeben von Yvonne Thalheim, humboldt-Taschenbuch 1143, München: (1999), 3. Auflage: Baden Baden: 2005, S. 51  books.google (Frühe, vielleicht früheste falsche Zuschreibung an Eduard Mörike; ohne Quellennachweis.)

gutezitate.com - 120304
aphorismen.de - 151992
m.gratis-spruch.de
zitate.de


"In Bibliotheken fühlt man sich wie in der Gegenwart eines großen Kapitals, das geräuschlos unberechenbare Zinsen spendet." Johann Wolfgang Goethe (angeblich)


Ungenaues Johann-Wolfgang-Goethe-Zitat.
 
 Johann Wolfgang Goethe hat diesen Gedanken nicht für alle Bibliotheken formuliert, sondern speziell für die Göttinger Universitätsbliothek, die er am 8. Juni 1801 zum ersten Mal sah. 

Unmittelbar davor besuchte Goethe mit seinem damals 11jährigen Sohn August die Göttinger Pferderennbahn:


  • "Von da [der Reitbahn] zu der allerruhigsten und unsichtbarsten Thätigkeit überzugehen, war in oberflächlicher Beschauung der Bibliothek gegönnt; man fühlt sich wie in der Gegenwart eines großen Capitals, das geräuschlos unberechenbare Zinsen spendet."
    Goethe, 1830, S. 98 (Link)

Bild von uni-goettingen.de
Die Göttinger Bibliothek gehörte um das Jahr 1800 mit 150.000 Büchern und ihrem neuartigen Katalogsystem zu den modernsten Universitätsbibliotheken der Welt (Link).

Auf der Rückreise von Bad Pyrmont nach Weimar im Sommer 1801 konnte Goethe noch vier Wochen lang die Bibliothek für seine naturwissenschaftlichen Studien benützen.

Auf alle Bibliotheken ausgeweitet wurde Goethes Lob der Göttinger Bibliothek erst mehr als 100 Jahre nach seinem Tod.

Inzwischen schmückt sich sogar die Herzogin Anna Amalia Bibliothek in Weimar mit dem verfälschten Göttinger Goethe-Zitat (klassik-stiftung).

In den digitalisierten Texten taucht das entstellte Goethe-Zitat das erste Mal im Jahr 1954 (Link) auf. 

Artikel in Arbeit.
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Quellen:
Johann Wolfgang Goethe: "Tag- und Jahres-Hefte als Ergänzung meiner sonstigen Bekenntnisse", in: Goethe's Werke: Vollständige Ausgabe letzter Hand,  31. Band, J.G. Cotta'sche Buchhandlung, Stuttgart und Tübingen: 1830, S. 98 (Link)
Horst Kliemann: Stundenbuch für Letternfreunde: Besinnliches und Spitziges über Schreiber und Schrift, Leser und Buch, Ed. Lynotype, Frankfurt am Main: 1954, S. 176 (Link)
Gerhard Hachmann: "Wie lautet Goethes bekanntes Zitat über Bibliotheken richtig?", 26. September 2013 haferklee.wordpress.com

uni-goettingen.de
google books
zeno.org/
klassik-stiftung.de/herzogin-anna-amalia-bibliothek/?L=2

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Dank:
Gerhard Hachmann hat den Ursprung des entstellten Zitats schon im Jahr 2013 dokumentiert.

Montag, 17. Februar 2020

"Alles, was du liebst, geht sehr wahrscheinlich verloren, aber am Ende wird die Liebe auf andere Weise zurückkehren." Franz Kafka (angeblich)

Pseudo-Franz-Kafka quote.

Dieser Satz wird Franz Kafka auf Englisch seit kaum 10 Jahren unterschoben, auf Deutsch seit etwa einem Jahr und stammt aus einer erst im 21. Jahrhundert ausgeschmückten Kafka-Anekdote, die ursprünglich Dora Diamant, Kafkas letze Freundin, überliefert hat.

In Dora Diamants Erinnerungen an Franz Kafka kommt dieser Satz noch nicht vor.

Dora Diamont erzählte folgende Geschichte: 

 

  • "Als wir in Berlin waren, ging Kafka oft in den Steglitzer Park. Ich begleitete ihn manchmal. Eines Tages trafen wir ein kleines Mädchen, das weinte und ganz verzweifelt zu sein schien. Wir sprachen mit dem Mädchen. Franz fragte es nach seinem Kummer, und wir erfuhren, daß es seine Puppe verloren hatte. Sofort erfindet er eine plausible Geschichte, um dieses Verschwinden zu erklären: »Deine Puppe macht nur gerade eine Reise, ich weiß es, sie hat mir einen Brief geschickt.« Das kleine Mädchen ist etwas mißtrauisch: »Hast du ihn bei dir?« »Nein, ich habe ihn zu Haus liegen lassen, aber ich werde ihn dir morgen mitbringen.«"

    Dora Diamant, ›Mein Leben mit Franz Kafka‹, abgedruckt in: »Als Kafka mir entgegenkam ...« Erinnerungen an Franz Kafka, hrsg. von Hans-Gerd Koch, Wagenbach: Berlin 1995,  Seite 174ff. Zitiert nach franzkafka.de (Link)
In den folgenden 3 Wochen habe Franz Kafka dem Mädchen mit großem Ernst täglich aufmunternde, unterhaltsame Briefe geschrieben und sie dann im Steglitzer Park vorgelesen; im letzten Brief habe die verschwundene Puppe von ihrer Verlobungsfeier und ihrem Bräutigam erzählt.

Diese Briefe sind alle seit 1933 verschollen. Seit 1959 wurde vergeblich versucht, das unbekannte Berliner Mädchen und die Briefe zu finden, am gründlichsten vielleicht von dem Kafka-Übersetzer Mark Hamann im Jahr 2001 (Link).

Diese Anekdote hat Jahrzehnte später mehrere Autoren und Autorinnen zu kurzen und längeren Geschichten angeregt.

Im Jahr 1996 zum Beispiel veröffentlichte Guy Davenport eine Kurzgeschichte mit dem Titel "Belinda's World Tour', in der Franz Kafka dem Mädchen Postkarten aus aller Welt sendet. Das Mädchen heisst bei Davenport Lizavetta, die Puppe Belinda, und am Ende heiratet Belinda einen Mann namens Rudolph Hapspurg aus einer königlichen Familie. (Link)

Im Jahr 2008  publizierte Gerd Schneider einen Kafka-Roman für Jugendliche mit dem Titel "Kafkas Puppe". In diesem Roman heisst das Mädchen Lena und die Puppe Mira und sie heiratet keinen Habsburg.

In den sozialen Medien am öftesten zitiert wird eine Version der Geschichte, die vor etwa 10 Jahren entstanden ist und erstmals das angebliche Kafka-Zitat enthält. 

In dieser Version der Anekdote schenkt Franz Kafka dem Mädchen am Ende der Geschichte eine Puppe mit einem Zettel: "Meine Reisen haben mich verändert .." . 

Und Jahre später habe das Mädchen in der Puppe versteckt einen anderen Zettel entdeckt, mit den Worten:
  • "Alles, was du liebst, geht sehr wahrscheinlich verloren, aber am Ende wird die Liebe auf andere Weise zurückkehren."
Diese Version der Anekdote stammt von der buddhistischen Meditationslehrerin und Psychologin Tara Brach.

Tara Brach, nach May Benatar, 2011:

 

  • "When the meetings came to an end Kafka presented her with a doll. She obviously looked different from the original doll. An attached letter explained: “my travels have changed me... “

    Many years later, the now grown girl found a letter stuffed into an unnoticed crevice in the cherished replacement doll. In summary it said: “every thing that you love, you will eventually lose, but in the end, love will return in a different form.
    There are many versions of the story of Kafka and the doll. I heard this one from Tara Brach, psychologist and Buddhist meditation teacher in Washington D.C."

    May Benatar: "Kafka and the Doll: The Pervasiveness of Loss", 3. Oktober 2011 HuffPost, (Link)


Etwas verändert ist Tara Brachs Version der Geschichte inzwischen auf Deutsch (Facebook)  aufgetaucht:

Twitter, 2020:

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Pseudo-Franz-Kafka-Zitat.

Pseudo-Franz-Kafka-Zitat.





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ZITATFORSCHUNG unterstützen.

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Artikel in Arbeit.
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Quellen:
Google
Kathi Diamant: "Kafkas Last Love. The Mystery of Dora Diamant" Basic Books, New York: 2002, S. 52f., 138 archive.org [Dora Diamant hat die Treffen von Franz Kafka mit dem Berliner Mädchen im Steglitzer Park Kafka-Biographen und Freundinnen erzählt.]
Dora Diamant, ›Mein Leben mit Franz Kafka‹, abgedruckt in: »Als Kafka mir entgegenkam ...« Erinnerungen an Franz Kafka, hrsg. von Hans-Gerd Koch, Wagenbach: Berlin 1995,  Seite 174ff. Zitiert nach franzkafka.de (Link)
archive.org 
franzkafka.de (Link)  
Paul Auster:  "The Brooklyn Follies" faber and faber (Link)
Kathrin Helmreich: Die Puppenbriefe Franz Kafkas, 16. Januar 2020  mimikama.at
nytimes.com/timesmachine/1993/11/15/030093.html?pageNumber=49
Gerd Schneider: "Kafkas Puppe" Arena Verlag, Würzburg: (2008) 2018 books.google.
 Max Brod (Link)
May Benatar: "Kafka and the Doll: The Pervasiveness of Loss", 3. Oktober 2011 HuffPost, (Link) Mark Harman: Missing Persons: Two Little Riddles about Kafka and Berlin (Link) (Mit Hinweis auf leicht verschiedenen Versionen der Anekdote Diamants.)
Guy Davenport: "Belinda's World Tour", in Guy Davenport: A Table of Green Field: Ten Stories, New Directions, New York:1993, S. 15-21 (Link)
Facebook, 14. Januar 2020 
Facebook




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Dank:

Ich danke Eduard Habsburg für den Hinweis auf dieses Kuckuckszitat.

Donnerstag, 6. Februar 2020

"Der Verlust der Scham ist das erste Zeichen von Schwachsinn." Sigmund Freud (angeblich)

Pseudo-Sigmund-Freud-Zitat.
Diese Aussage wird Sigmund Freud seit etwa 60 Jahren unterschoben und ist in seinen digitalisierten Schriften weder so noch so ähnlich zu finden. 

Der Psychotherapeut Wolfgang Gruber hat auf Twitter eine Wette angeboten: Wer das angebliche Freud-Zitat in  einem Text Sigmund Freuds nachweisen kann, bekommt von Gruber die siebzehnbändige Ausgabe der Gesammelten Werke Sigmund Freuds (Link) geschenkt.

Die Diagnose, der Verlust des Schamgefühls sei ein Symptom des Idiotismus, war schon zu einer Zeit verbreitet, als der 1856 geborene Sigmund Freud noch kein einziges Wort publiziert hat:


 1877
  • "Hier liegt ein eclatanter Fall von Verlust des Schamgefühls vor, ein Symptom des Idiotismus."

    Musikalisches Wochenblatt, 9. Februar 1877, S. 6 (Link)
1871 war in einem deutsch-nationalistischen Pamphlet zu lesen, der "Verlust des Schamgefühls" wäre typisch für die französische Nation:
  • "Wie endlich der Verlust des Schamgefühls, des Gefühls für Anstand, Zucht und Sitte, für Recht und wahre Ehre so häufig eine Folge von Geistesstörung ist, so haben wir auch dieses Symptom an der französischen Nation zu constatiren."
    (Link)
1910 wird von manchen Psychopathologen der Verlust des Schamgefühls als "sicheres Anzeichen von Schwachsinn oder Entartung" diagnostiziert, aber nicht von Sigmund Freud:

  • "Der beste Schutz vor den Gefahren der Sexualität ist die Schamhaftigkeit, und die Psychopathologie lehrt, daß der Verlust des Schamgefühls ein sicheres Anzeichen von Schwachsinn oder Entartung ist."
    "Die Deutsche Schule", Band 14, S. 796 (Link)

In den 1920er Jahren warnte der profaschistische "Ärzte- und Volksbund für Gesellschaftsethik" vor den Gefahren des Nacktbadens und moderner Theaterinszenierungen mit den Worten: "eines der frühestenen Anzeichen mancher Geisteskrankheiten" ist "der Verlust des Schamgefühls":

1927
  • "Die Gefahren der Nacktkultur.
    ... Ärzte- und Volksbund für Gesellschaftsethik .... In einer Vorstandsitzung des Bundes wurde die Nacktkultur und die Entwicklung unseres Theaterwesens erörtert und darauf hingewiesen, daß eines der frühestenen Anzeichen mancher Geisteskrankheiten der Verlust des Schamgefühls ist."

    Salzburger Volksblatt, 18. August 1927, S. 4 (Link); NWJ (Link)
 
books.google
Zwei Jahrzehnte nach dem Tod Sigmund Freuds wurde ihm anscheinend das erste Mal ein Satz über den "Verlust der Scham" zugeschrieben.

Der Technikhistoriker Ralf Bülow hat herausgefunden (Link), dass die früheste Zuschreibung dieses Zitats an Sigmund Freud aus dem 1959 erschienen Buch "Die Geister scheiden sich" des bekennenden Nationalsozialisten und Kämpfers "gegen die entartete Linke" Kurt Ziesel stammen könnte. 

Heinrich Böll erwähnte das angebliche Sigmund-Freud-Zitat aus Ziesels Buch in seiner Polemik gegen diesen inzwischen wohl zu Recht vergessenen Journalisten und Autor Kurt Ziesel am 16. März 1962 in der ZEIT (Link).

Seit damals ist das Kuckuckszitat in verschiedenen Varianten sehr weit verbreitet.
  

Varianten des Pseudo-Sigmund-Freud-Zitats:

  • "Der Verlust des Schamgefühls ist das erste Zeichen von Schwachsinn."
  • "Die Abwesenheit von Schamgefühl ist ein sicheres Kennzeichen von Schwachsinn." 
  • "Der Verlust der Scham ist der Beginn der Idiotie."
  • "Der Verlust von Scham ist das erste Zeichen des Schwachsinns."
  • "Der Verlust der Scham, ist der Beginn der Verblödung." 
  • "Der Verlust der Scham ist der Beginn der Barbarei".
  • "Der Verlust der Scham ist das sicherste Indiz der Dummheit."
  • "Der Verlust der Scham zählte nach Freud zu den sicheren Merkmalen des Wahnsinns."
  • "The first indication of stupidity is a complete lack of shame."
Pseudo-Sigmund-Freud quote.


1964
  • "'Der Verlust der Scham ist das erste Zeichen von Schwachsinn.' Sie[!]gmund Freud"

    Fritz Kempe: Fetisch des Jahrhunderts: ein Lesebuch für Fotofreunde,Econ Verlag,  Düsseldorf, Wien: 1964, S. 176
    (Link) 

Seit 1983 wird dieses Zitat besonders in rechtsextremen Kreisen oft zusammen mit einem anderen Freud-Kuckuckszitat verbreitet:

  • "Freuds sicher zutreffende Erkenntis, »die Abwesenheit von Schamgefühl ist ein sicheres Kennzeichen von Schwachsinn«, verbannte man aus seiner Lehre, wie auch seine folgende Äußerung nicht mehr beachtet wurde: »Kinder, die sexuell  stimuliert werden, sind nicht mehr erziehungsfähig. Die Zerstörung der Scham bewirkt eine Enthemmung auf allen anderen Gebieten, eine Brutalität und Missachtung der Persönlichkeit der Mitmenschen. zit. in Illies, 1983, S. 169»

    Rudolf Künast: Umweltzerstörung und Ideologie. Die Frankfurter Schule: Fakten - Fehler - Folgen. Grabert Verlag, Tübingen: 1983, S. 150 (Link)

1986
  • "Nach langer psychotherapeutischer Erfahrung sagte Freud, der Verlust von Scham sei das erste Zeichen von Schwachsinn. Scham konstituiert also den geistig gesunden Menschen, auf welchen Stufen sie auch praktiziert wird".
    Bruno Moser (Link)

1993
Spiegel (Link)


2015
(Link)

Artikel in Arbeit.
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Quellen:
Google: "Verlust der Scham"
Google: "Verlust von Scham" 
Heinrich Böll: Der Schriftsteller und Zeitkritiker Kurt Ziesel, DIE ZEIT, 16. März 1962 (Link)
Kurt Ziesel: Die Geister scheiden sich. Dokumente zum Echo auf das Buch 'Das verlorene Gewissen+. J.F. Lehmanns Verlag: 1959 [noch nicht kollationiert]
Sigmund Freud: Zur sexuellen Aufklärung der Kinder (Offener Brief an Dr. M. Fürst) (1907) in: Studienausgabe Band V, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main: 1982, S. 159-168; auch in: Gesammelte Werke, Band VII, Hrsg. von Anna Freud,  Imago Publishing, London: 1941,, S. 20-27
freud-online.de/Texte/PDF/freud_werke_alle_bd.pdf 
Musikalisches Wochenblatt, 9. Februar 1877, S. 6 (Link)
Salzburger Volksblatt, 18. August 1927, S. 4 (Link); NWJ (Link)
Joachim Illies: Der Jahrhundert-Irrtum. Würdigung und Kritik des Darwinismus. Umschau Verlag, Franfurt am Main: 1983, S. 169
Rudolf Künast: Umweltzerstörung und Ideologie. Die Frankfurter Schule: Fakten - Fehler - Folgen. Grabert Verlag, Tübingen: 1983, S. 150 (Link)
Wolfgang Gruber, Twitter (Link)
Ralf Bülow, Twitter (Link)
  
dpa-Faktencheck: "Experten über falsches Freud-Zitat: widerspricht seinen Positionen", 29. November 2019  presseportal.de/pm/133833/4453871 

freud-online.de/Texte/PDF/freud_werke_alle_bd.pdf

Beispiele für das Falschzitat:
Markus M. Ronner: "Die Treffende Pointe: humoristisch-satirische Geistesblitze des 20. Jahrhunderts nach Stichwörtern alphabetisch geordnet." Ott Verlag, Thun: 1974,  S. 251 (Link)
bild.de 21. April 2018
tichyseinblick.de  3. Januar 2020
zitate.eu 27735
gutezitate.com/zitat/262703



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Dank:
Ich danke Wolfgang Gruber für die Aufdeckung und Ralf Bülow für seine Recherchen zum Ursprung dieses Falschzitats.

Dienstag, 4. Februar 2020

"Kinder, die sexuell stimuliert werden, sind nicht mehr erziehungsfähig. Die Zerstörung der Scham bewirkt eine Enthemmung auf allen anderen Gebieten, eine Brutalität und Missachtung der Persönlichkeit der Mitmenschen." Sigmund Freud (angeblich)

Dieses bei Gegnern von Sexualunterricht in Schulen und in rechtsextremen Kreisen beliebte Freud-Zitat wird Sigmund Freud seit dem Jahr 1983 unterschoben. In den Schriften Sigmund Freuds hat das Zitat noch niemand gefunden, obwohl schon viele danach gesucht haben.

Alle im Internet dargebotenen Quellenangaben für dieses angebliche Freud-Zitat haben sich als falsch oder zu ungenau herausgestellt (Link).


Der Wiener Psychoanalytiker Stephan Doering wies bei einer Frage (Link) von dpa-Faktencheckern nach diesem Falschzitat auf das Paradox hin, dass Gegner der sexuellen Aufklärung sich auf Sigmund Freud berufen, obwohl Freud explizit für die sexuelle Aufklärung von Kindern plädierte, am ausführlichsten in seinem 1907 publizierten 'Offenen Brief an Dr. M. Fürst' mit dem Titel: "Zur sexuellen Aufklärung der Kinder" (Link).

Verbreitet wird dieses peinlich falsche Sigmund-Freud-Zitat von Beginn an von Rechtsextremen:
Exemplar der Wiener Universitätsbibliothek; anonymer Bleistiftkommentar: "Nazis im grünen Heimatgewand".

  • "Freuds sicher zutreffende Erkenntis, »die Abwesenheit von Schamgefühl ist ein sicheres Kennzeichen von Schwachsinn«, verbannte man aus seiner Lehre, wie auch seine folgende Äußerung nicht mehr beachtet wurde: 'Kinder, die sexuell  stimuliert werden, sind nicht mehr erziehungsfähig. Die Zerstörung der Scham bewirkt eine Enthemmung auf allen anderen Gebieten, eine Brutalität und Missachtung der Persönlichkeit der Mitmenschen.' zit. in Illies, 1983, S. 169"

    Rudolf Künast: Umweltzerstörung und Ideologie. Die Frankfurter Schule: Fakten - Fehler - Folgen. Grabert Verlag, Tübingen: 1983, S. 150 (Link)
Doch geprägt hat das Zitat  nicht dieser Autor Rudolf Künast (ein Pseudonym des rechtsextremen Ideologen und Politikers Rolf Kosiek), sondern anscheinend der theologisch interessierte Biologe Joachim Illies , auf den Künast am Ende seines Falschzitats verweist.

Sein posthum 1983 herausgegebenes, Online nicht verfügbares Buch "Der Jahrhundert-Irrtum. Würdigung und Kritik des Darwinismus" habe ich durchgeblättert.  Das Zitat steht in Illies Buch auf Seite 169 genau so, wie es Rolf Kosiek zitiert hat, allerdings mit der unbrauchbaren Quellenangabe: Freud, "Gesammelte Werke, Bd. 5".

-
Entstanden ist der erste Teil des Falschzitats vielleicht aus einer Fehlerinnerung eines längeren Satzes Sigmund Freuds aus dem Jahr 1905, in dem er auf die verkehrte Annahme zeitgenössischer Erzieher hinweist, "daß die sexuelle Betätigung das Kind unerziehbar" mache (Link).

Sigmund Freud redet in dieser Studie zur infantilen Sexualität über die "sexueller Betätigung" von Kindern wie Masturbation, die von damaligen Erziehern als "Laster" verurteilt und bestraft wurden.

Im Falschzitat steht "sexuell stimuliert" und nicht "sexuelle Betätigung", also ein völlig anderer Sachverhalt.

Sigmund Freud, 1905:

  •  "Die Erzieher benehmen sich, insofern sie überhaupt der Kindersexualität Aufmerksamkeit schenken, genauso, als teilten sie unsere Ansichten über die Bildung der moralischen Abwehrmächte auf Kosten der Sexualität und als wüßten sie, daß sexuelle Betätigung das Kind unerziehbar macht, denn sie verfolgen alle sexuellen Äußerungen des Kindes als »Laster«, ohne viel gegen sie ausrichten zu können. Wir aber haben allen Grund, diesen von der Erziehung gefürchteten Phänomenen Interesse zuzuwenden, denn wir erwarten von ihnen den Aufschluß über die ursprüngliche Gestaltung des Geschlechtstriebs."

    Sigmund Freud: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. II. Die infantile Sexualität. 1905, S. 35 (Link),

 Artikel in Arbeit.
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Quellen:
Sigmund Freud: Zur sexuellen Aufklärung der Kinder (Offener Brief an Dr. M. Fürst) (1907) in: Studienausgabe Band V, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main: 1982, S. 159-168; auch in: Gesammelte Werke, Band VII, Hrsg. von Anna Freud,  Imago Publishing, London: 1941, S. 20-27 
Sigmund Freud: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. Franz Deuticke, Leipzig und Wien: 1905, S. 35 (Link), auch in:  Gesammelte Werke, Band V, Hrsg. von Anna Freud,  Imago Publishing, London: 1942, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main: 1968, S. 80
Joachim Illies: Der Jahrhundert-Irrtum. Würdigung und Kritik des Darwinismus. Umschau Verlag, Franfurt am Main: 1983, S. 169
Rudolf Künast: Umweltzerstörung und Ideologie. Die Frankfurter Schule: Fakten - Fehler - Folgen. Grabert Verlag, Tübingen: 1983, S. 150 (Link)
komm-heim-new-sturmer/295 
dpa-Faktencheck: "Experten über falsches Freud-Zitat: widerspricht seinen Positionen", 29.11.2019  presseportal.de/pm/133833/4453871 

freud-online.de/Texte/PDF/freud_werke_alle_bd.pdf

Beispiele für falsche Zuschreibungen mit erfundenen Seitenangaben:

sexualerziehung.at (angebliche Quelle in Freuds Werken: "Gesamtwerke Bd. 5, S. 159")
aktion-kig.eu  (angebliche Quelle in Freuds Werken: "Gesamtwerke Bd. 5, S. 159")
katholisches.info/2017/03/25  (angebliche Quelle in Freuds Werken: "Gesammelt Werke, Bd. 7, S. 149")
PEGIDA Nürnberg facebook.com (angebliche Quelle in Freuds Werken: "Sigmund Freud (1905) Ges. Werke VII, S. 149") 
[Weder in der zehnbändigen Frankfurter Studienausgabe, noch in der siebzehnbändigen Londoner Ausgabe von Freuds Werken ist in den Bänden V und VII das Zitat auf Seite 159 oder Seite 149 enthalten. Ich habe nicht nur die angegebenen Seiten durchsucht, sondern auch Digitalisate der Gesammelten Werke. Auch ich habe das Zitat weder so noch so ähnlich in einem Text Sigmund Freuds gefunden. GK]
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  • Prof. Dr. Hans Schieser, 2011:
    "Sigmund Freud, auf den man sich ja immer wieder beruft, hat immer wieder ausdrücklich betont, daß man diese Latenz nicht verfrüht „wecken“ darf, weil es sonst zu negativen Verhaltensstörungen (nicht im Bereich der Sexualität, sondern im allgemeinen Verhalten) führt: „Der Verlust des Schamgefühls ist das erste Zeichen von Schwachsinn… Kinder, die sexuell stimuliert werden, sind nicht mehr erziehungsfähig; die Zerstörung der Scham bewirkt eine Enthemmung auf allen anderen Gebieten, eine Brutalität und Mißachtung der Persönlichkeit des Mitmenschen“."
    familien-schutz.de/2011/08/23/
 science-blog.at/2019/06/
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Dank:
 
Ich danke Wofgang Gruber sehr für seinen Hinweis auf dieses Kuckuckszitat auf und Lucia Gerber für den Hinweis auf Freuds Studie zur infantilen Sexualität.

Korrigierte Fassung: 6/3 2020

Montag, 3. Februar 2020

"Mut steht am Anfang des Handelns, Glück am Ende." Demokrit (angeblich)

Das ist ein verkürztes Zitat aus einem Fragment des Philosophen Demokrit von Abdera, das in dieser missverständlichen Version seit ein paar Jahrzehnten nur außerhalb der philosophischen Fachliteratur kursiert.


Demokrit, Fragment B269, D275  (Link)

  • τόλμα πρήξιος ἀρχή, τύχη δὲ τέλεος κυρίη.
  • tólma príxios archí, týchi dé téleos kyríi.

 

Übersetzungsvarianten:

  • "Mut ist der Tat Anfang, doch das Glück entscheidet über das Ende."
  • "Mut ist Handelns Anfang, Glück [τύχη im Original; P. V.] aber Endes Herrin."
  • "Kühnheit ist des Handelns Anfang, Glück (tyche, Zufall) aber Endes Herrin."
  • "Wagemut ist Handelns Anfang, aber Tyche bestimmt den Ausgang."
  • "Audacity begins an action, but fortune is in charge of its end."
  • "Boldness begins a deed; but chance governs its completion."
  • "Courage initiates action, but fortune is mistress of the end."
  • "Risk is the commencement of action, Destiny, however, mistress of the end."  

Artikel in Arbeit.
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Quellen:
Google books
Google 












(Link)

Sonntag, 2. Februar 2020

"Ein Optimist ist ein Mensch, der ein Dutzend Austern bestellt, in der Hoffnung, sie mit der Perle, die er darin findet, bezahlen zu können." Theodor Fontane (angeblich)

Dieses weit verbreitete Bonmot ist über 100 Jahre alt, anonymen Ursprungs und wird - immer ohne Quellenangabe - in verschiedenen Varianten Ugo Tognazzi, Theodor Fontane, Paul Getty und Jean Paul zugeschrieben.

In den digitalisierten Werken Jean Pauls und Theodor Fontanes ist das Zitat so oder so ähnlich so wenig zu finden wie in seriösen Nachschlagwerken.
Pseudo-Theodor-Fontane-Zitat.

In den digitalisierten deutschsprachigen Texten taucht der anonyme Witz meines Wissens erstmals im Jahr 1931 in einer deutschsprachigen Tageszeitung aus Pilsen (Tschechoslowakei) auf:

1931
  • "Definition. 'Können Sie mir erklären, was ein Optimist ist?'  'Ein völlig mittelloser Mann, der sich in einem Restaurant erster Klasse Austern bestellt, in der Hoffnung, daß er das Diner mit einer Perle bezahlt, die er in einer Auster finden wird.'"

    Westböhmische Tageszeitung, XXXII. Jg., Nr. 189, 15. Juli 1931, S. 5, anonym (Link)

Bis 1974 wird der Witz immer ohne Zuschreibung an einen Autor zitiert (Link), in diesem Jahr wird er in einer Zitatesammlung dem italienischen Schauspieler und Regisseur Ugo Tognazzi zugeschrieben.

1974
  • "Ein Optimist ist ein Mensch, der ohne Geld in der Tasche Austern bestellt - in der Hoffnung, von den gefundenen Perlen die Zeche bezahlen zu können. Ugo Tognazzi"

    Markus M. Ronner: "Die Treffende Pointe: humoristisch-satirische Geistesblitze des 20. Jahrhunderts nach Stichwörtern alphabetisch geordnet." Ott Verlag, Thun: 1974, S. 325 (Link)

Ugo Tognazzi hat den Witz vielleicht einmal erzählt, aber geprägt kann er ihn nicht haben, da er im Jahr 1931 erst 9 Jahre alt war.

Die erstmalige Zuschreibung an Theodor Fontane wurde in der Zeitschrift "Westermanns Monatshefte"  im Jahr 1986 ohne Quellenangabe publiziert (Link):

  • "Optimist? Ein Mensch, der ein Dutzend Austern bestellt, in der Hoffnung, sie mit der Perle, die er darin findet, bezahlen zu können.

    Theodor Fontane"
    Westermanns Monatshefte (Westermann's), 1986, Ausgaben 9-12, S. 161 (Link)

Ein paar Jahre später wird der alte Witz etwas verändert dem amerikanischen Milliardär Paul Getty unterschoben:


1992
  • "Ein Spekulant ist ein Mann, der ohne einen Pfennig in der Tasche Austern bestellt, in der Hoffnung,  mit einer Perle bezahlen zu können. Paul Getty"

    Albert H. Savelberg: "Währungsoptionsscheine: Grundlagen, Preisbildung, Strategien", Springer Fachmedien, Wiesbaden: 1992, S. V (Link)
Und im 21. Jahrhundert wird das Zitat erstmals auch Jean Paul zugeschrieben:

2011
  • "Ein Optimist ist ein Mann, der – ohne einen Pfennig Geld in der Tasche – Austern bestellt in der Hoffnung, mit der Perle bezahlen zu können. Jean Paul"Roland Leonhardt: Weltklassezitate für Hochstapler. rowohlt:  2011 (Link) 
Auf Grund der Geschichte dieses Zitats ist es sehr unwahrscheinlich, dass es so oder so ähnlich jemals in einem Text Jean Pauls oder Theodor Fontanes gefunden werden wird. Weitere Funde vor dem Jahr 1931 sind aber nicht auszuschließen.

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Nachtrag 12. Februar 2020

Der Witz ist anscheinend in Amerika entstanden:

1914
  •  "An Optimist is a penniless chap who will go into an oyster house and order 'a dozen on the half-shell' in the hope of finding a pearl wherewith to pay the charges."

Twitter:




Artikel in Arbeit.
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 Quellen:
Google
Westböhmische Tageszeitung, XXXII. Jg., Nr. 189, 15. Juli 1931, S. 5, anonym (Link)
Markus M. Ronner: "Die Treffende Pointe: humoristisch-satirische Geistesblitze des 20. Jahrhunderts nach Stichwörtern alphabetisch geordnet." Ott Verlag, Thun: 1974, S. 325 (Link) 
Westermanns Monatshefte (Westermann's), 1986, Ausgaben 9-12, S. 161 (Link)
Albert H. Savelberg: "Währungsoptionsscheine: Grundlagen, Preisbildung, Strategien", Springer Fachmedien, Wiesbaden: 1992, S. V (Link)
Roland Leonhardt: Weltklassezitate für Hochstapler. rowohlt:  2011 (Link) 

books.google