Mittwoch, 4. September 2019

"Mehr als die Vergangenheit interessiert mich die Zukunft, denn in ihr gedenke ich zu leben." Albert Einstein (angeblich)

Pseudo-Albert-Einstein-Zitat.
Dieses angebliche Albert-Einstein-Zitat ist noch kaum 20 Jahre alt und in Einsteins digitalisierten Schriften sowie in seriösen Nachschlagwerken unauffindbar. Es ist also höchstwahrscheinlich ein Kuckuckszitat, auch weil es immer ohne Quellenangabe zitiert wird.

Der Spruch wurde im 21. Jahrhundert Einstein ein paar Jahre lang nur im Internet unterschoben, inzwischen steht das Falschzitat auch in angesehenen Zeitungen auf Papier.

Entstanden ist der Spruch wahrscheinlich aus einem später oft paraphrasierten Satz des amerikanischen Erfinders Charles F. Kettering aus dem Jahr 1940:


Wikipedia

Charles F. Kettering, 1936 (?):


  • "You know, you read about the future. You can't help that. I don't look upon the future. I am not a politician. I am not worried about the future at all. I don't like to run it down. I don't like to think of it being too dark because I expect to spend all the rest of my life there and I don't want to have a nasty end to it."

    Charles F. Kettering: "Mr. Kettering's Talk", News and Views, General Motors Acceptance Corporation 1936 (?), S. 46 (vorerst zitiert nach Wikiquote)

Charles F. Kettering, 1940:

  • "Kettering says the one thing he definitely knows about the future is that 'we should all be concerned about it because we will have to spend the rest of our lives there!'"
     The Indianapolis Sunday Star, 1940 January 21  (Zitiert nach quoteinvestigator.com) 

Auch der amerikanische Zitatforscher Garson O'Toole kommt auf seiner sorgfältig erstellten Webseite Quoteinvestigator.com zu dem Schluss, dass das weit verbreitete Zitat zurecht Charles F. Kettering zugeschrieben wird.



Pseudo-Albert-Einstein-Zitat.
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Quellen:
Alice Calaprice: "The Ultimate Quotable Einstein", Foreword: Freeman Dyson, Princeton University Press, Princeton and Oxford: 2011
Garson O' Toole: "We Should All Be Concerned About the Future Because We Will Have To Spend the Rest of Our Lives There: Charles F. Kettering? Apocryphal?" 2017 (quoteinvestigator.com) 
The Indianapolis Sunday Star, 1940 January 21  (Zitiert nach Garson O'Toole quoteinvestigator.com) 
Charles F. Kettering: "Mr. Kettering's Talk", News and Views, General Motors Acceptance Corporation, General Exchange Insurance Corporation, Motors Insurance Corporation, 1936 (?), S. 46 (vorerst zitiert nach Wikiquote)
Wikiquote 
Ralf Bülow  

Beispiele für das Kuckuckszitat:

2002: tischlerforum.info
2005: fcbforum.ch
2013: Martin Wehrle: "Das Zitat... und Ihr Gewinn", 
2016: Alexander Armbruster: "Star Trek - Wo nie ein Mensch zuvor gewesen ist", Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21. Juli 2016 (faz.net)

Sonntag, 1. September 2019

"Lerne von gestern, lebe für heute, hoffe auf morgen. Das Wichtigste ist, dass man nie aufhört, Fragen zu stellen." Albert Einstein (angeblich)

Pseudo-Albert-Einstein-Zitat.


Der erste Satz dieses angeblichen Einstein-Zitats wird Albert Einstein erst im 21. Jahrhundert unterschoben, der zweite Satz ("Das Wichtigste ist ...") stammt tatsächlich aus einem Interview mit ihm.

Einige Monate vor seinem Tod empfing Albert Einstein seinen alten Bekannten William Hermanns zusammen mit dem Journalisten William Miller und dessen Sohn Pat, der gerade in Harvard zu studieren begonnen hat, in seinem kleinen Haus in Princeton zu einem Gespräch.

 Bei diesem Interview gab Albert Einstein seinem jungen Bewunderer Pat Miller folgenden Rat:


Albert Einstein zu Pat Miller, 1954/55:


  • "Das Wichtigste ist, dass man nie aufhört, Fragen zu stellen. Neugierde hat ihre eigene Existenzberechtigung. Man kann nicht anders als Ehrfurcht zu empfinden, wenn man über die Geheimnisse der Ewigkeit, des Lebens, der wunderbaren Struktur der Realität nachdenkt. Es genügt, wenn man nur versucht, jeden Tag ein wenig von diesem Geheimnis zu verstehen. Verliere nie eine heilige Neugier. Versuche nicht ein Mann des Erfolgs zu werden, sondern werde lieber ein Mann von Wert."
LIFE Magazine, 2. May 1955, S. 64 (Link)


The important thing is not to stop questioning. Curiosity has its own reason for existence. One cannot help but be in awe when he contemplates the mysteries of eternity, of life, of the marvelous structure of reality. It is enough if one tries merely to comprehend a little of this mystery each day. Never lose a holy curiosity. Try not to become a man of success but rather try to become a man of value."
William Miller: "Death of a Genius. - Old Man's Advice to Youth: 'Never Lose a Holy Curiosity'" LIFE Magazine, 2. Mai 1955, S. 64 (Link)



Twitter, 2019




 

Der Satz  "Learn from Yesterday, Live for Today, Hope for Tomorrow" war in den 1970er Jahren in Amerika verbreitet, und wurde zum Beispiel in Pennsylvania zu Silvester 1973/74 als Neuerjahrs-Wunsch zitiert (Link)

Da dieser Satzes weder in den digitalisierten Werken Albert Einsteins, noch in seriösen Nachschlagwerken zu finden ist und ihm erst ungefähr 50 Jahre nach seinem Tod erstmals zugeschrieben wurde, ist anzunehmen, dass ihm der Satz fälschlich zugeschrieben wird.


Geprägt wurde dieser Spruch wahrscheinlich 1949 von der Autorin und Mäzenatin Esther Eberstadt Brooke in ihrem Ratgeberbuch "You And Your Personality: A Guide to Effective Living" in folgender Version:

1949
  • " If you want a 'succesfull' personality, you must learn from yesterday, work for today, plan for tomorrow   — and keep on going ahead." (Link)

Diesen Fund verdanke ich Ralf Bülow, der auch einen ähnlichen Slogan in einer Publikation der Public Relations Society of America aus dem Jahr 1954 entdeckt hat:

1954
  • "Work today; Prepare for Tomorrow; Learn from Yesterday." (Link)


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Anmerkung 1:
Wenn Albert Einstein dem jungen Mann den Rat gibt, "a man of value" zu werden, so ist diese Formulierung eine Anspielung auf einen Gedanken Gotthold E. Lessings, den Albert Einstein gerne zitierte:

  • "Nicht die Wahrheit , in deren Besitz irgendein Mensch ist oder zu sein vermeinet, sondern die aufrichtige Mühe, die er angewandt hat, hinter die Wahrheit zu kommen, macht den Werth des Menschen."

    Gotthold E. Lessing: "Eine Duplik", 1778 (Link)
Anmerkung 2:
Albert Einstein gibt dem Studenten den Rat, kein Karrierist zu werden, sondern empfiehlt ihm die geduldige Suche nach kleinen und großen Wahrheiten. Dass dieser Ratschlag für ein erfülltes Leben als Wissenschaftler jenseits des Erfolgs im Falschzitat mit der Empfehlung für eine 'succesfull' personality verknüpft wird, ist unfreiwillig komisch.
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Quellen:
Alice Calaprice: "The Ultimate Quotable Einstein", Foreword: Freeman Dyson, Princeton University Press, Princeton and Oxford: 2011
Esther Eberstadt Brooke: "You And Your Personality: A Guide to Effective Living", Harper and Brothers, New York: 1949, S. 166 (Link)
The Public Relations Journal, herausgegeben von der Public Relations Society of America (PRSA), Band 10, S. 32, Snippet (Link)
William Miller: "Death of a Genius. - Old Man's Advice to Youth: 'Never Lose a Holy Curiosity'" LIFE Magazine, 2. Mai 1955, S. 64 (Link)

 
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Dank:
Ich danke Keith Flippin, dem "researcher of bogus quotes and paraphrases" und Ralf Bülow für ihre  Recherchen zum Ursprung dieses halbrichtigen Falschzitats (Link).
 

Dienstag, 27. August 2019

"Erfolgreich zu sein setzt zwei Dinge voraus: Klare Ziele und den brennenden Wunsch, sie zu erreichen.“ Johann Wolfgang Goethe (angeblich)

Pseudo-Johann-Wolfgang-von-Goethe-Zitat.
Dieses in den sozialen Medien, bei Managmentberatern und Motivationstrainerinnen beliebte Goethe-Zitat ist in Goethes Werken so wenig wie in seriösen Nachschlagwerken zu finden.

Wer diesen Motivationsspruch geprägt hat, ist unbekannt; Johann Wolfgang Goethe wird er erst im 21. Jahrhundert unterschoben.

Beispiele für falsche Zuschreibungen:
2006: forum.stuttgarter-kickers.de
2007: bidok.uibk.ac.at/library/boban-moderation.html
2013: Hans-Georg Schumacher, Dieter F. Kindermann: Strategisches und qualifiziertes Empfehlungsmanagement: Leitfaden für Verkäufer und Vertriebsführungskräfte in der Versicherungsbranche, Springer Gabler, Wiesbaden: 2013 ebook, Anhang (ohne Seitenzahlen) books.google.

 uni-stuttgart.de.pdf

Artikel in Arbeit.

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Twitter:


"Wir haben genug Zeit, wenn wir sie nur richtig verwenden." Johann Wolfgang von Goethe (angeblich)

Pseudo-Goethe-Zitat zu Goethes Geburtstag am 28. August 2019 auf Twitter.


 Dieses angebliche Goethe-Zitat gibt es auf Englisch seit etwa 60 Jahren und auf Deutsch taucht es in den digitalisierten Texten erst vor etwa 20 Jahren auf.

Ich konnte das Zitat bisher in keinem Text Goethes und in keinem seriösen Nachschlagwerk finden, habe allerdings noch nicht gründlich gesucht.



Das Zitat wurde Goethe anscheinend 1963 erstmals zugeschrieben:

  • "We always have time enough, if we but use it right." books.google

Pseudo-Goethe-Zitat?

 Artikel in Arbeit.

Montag, 26. August 2019

"Das Leben ist viel zu kurz, um schlechten Wein zu trinken." Johann Wolfgang von Goethe (angeblich)

Pseudo-Johann-Wolfgang-Goethe-Zitat.


Dieses bei Weinverkäufern und auf Twitter beliebte Pseudo-Goethe-Zitat wurde anscheinend erst im 21. Jahrhundert Johann Wolfgang Goethe unterschoben, und ist so oder so ähnlich weder in seinen digitalisierten Werken, noch in seriösen Nachschlagwerken zu finden.

Ohne Zuschreibung an Goethe ist das Zitat auf Deutsch seit den 1950er Jahren bekannt und wird zum Beispiel im Jahr 1969 als Devise bei einer Weinprobe in Baden-Württemberg verwendet (Link). 

Auf Englisch ist das Bonmot in der Variante: "Life Is Too Short To Drink Cheap Beer!" seit 1880 nachweisbar (Link).

Im Jahr 1963 wird das Zitat einmal Ilse Steinbrinck zugeschrieben (Link)


Varianten des Pseudo-Goethe-Zitats:

  • " Das Leben ist viel zu kurz, um schlechten Wein zu trinken."
  • " Das Leben ist zu kurz, um schlechten Wein zu trinken." 
  • "Das Leben ist zu kurz, um schlechte Weine zu trinken."
  • "Life is too short to drink bad wine."
  • "Life is too short to drink cheap wine."
  • "Life is too short to drink mediocre wines."  
  • "La vita è troppo breve per bere vini mediocri."
  • "La vie est trop courte pour boire du mauvais vin."  
  • "La vida es demasiado corta  para beber mal  vino."  




Pseudo-Johann-Wolfgang-Goethe-Zitat.


Bei einer chronologischen Google-Suche nach diesem Zitat findet man den ersten Eintrag im Jahr 2001 im Usenet :


Entwicklung des Pseudo-Goethe-Zitats:


2001
  • "Gerade habe ich es wieder gelesen:  'Das Leben ist zu kurz, um schlechten Wein zu trinken'.  Der Spruch wurde Goethe zugeschrieben.  Sollte der das wirklich so formuliert haben?"
    de.etc.sprache.deutsch ›3. Mai 2001, Joachim Pense (Link)

 Zwei Jahre später taucht das angebliche Goethe-Zitat schon in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung auf:

2003

  • " 'Das Leben ist viel zu kurz, um schlechten Wein zu trinken', wußte schon Goethe."
    "Das große Wein-Spezial", von Ronny Porsch, F.A.Z.-Archiv, 29. Juli 2003  (faz.net/)
10 Jahre nach der ersten falschen Zuschreibung hat auch der als "Edelfeder" bezeichnete österreichische Journalist Helmut A. Gansterer das Falschzitat verbreitet:

2011
  • " ... hatte ich den Satz geschrieben: 'Das Leben ist zu kurz, um nicht die besten Weine zu trinken.' Die Tinte war noch nicht trocken, als ich in Goethes Werken heimtückisch den Satz eingeschoben fand: 'Das Leben ist zu kurz, um schlechte Weine zu trinken.' Das ist zwar blasser und wirklich nicht das Gleiche, aber ärgerlich war es doch."
    Helmut A. Gansterer: Was zuverlässig glücklich macht, Kleine Zeitung, 21. Jänner 2011 (Link)

Pseudo-Johann-Wolfgang-Goethe-Zitat.


Inzwischen wird dieses Wein-Zitat auch in vielen Online-Zitat-Sammlungen Johann Wolfgang von Goethe unterschoben (Google). Auch auf Englisch, Italienisch, Französisch und Spanisch.

Pseudo-Goethe quote.

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Quellen:
Google
Twitter
"Lexikon der Goethe-Zitate". Hrsg. von Richard Dobel, Artemis Verlag, Weltbild Verlag, Augsburg: 1991
de.etc.sprache.deutsch ›3. Mai 2001, Joachim Pense (Link)
"Das große Wein-Spezial", von Ronny Porsch, F.A.Z.-Archiv, 29. Juli 2003  (faz.net/)
Helmut A. Gansterer: Was zuverlässig glücklich macht, Kleine Zeitung, 21. Jänner 2011 (Link)
1880: "Life Is Too Short To Drink Cheap Beer !" (Link)
Englisch:
(Link)
 



In Arbeit.

Sonntag, 25. August 2019

"Sage mir nicht, was du glaubst, sage mir was sich ändert, weil Du glaubst." Bertolt Brecht (angeblich)

Dieses angebliche Bertolt-Brecht-Zitat ist erst im 21. Jahrhundert entstanden und offensichtlich die etwas verkürzte und entstellte Wiedergabe eines Satzes von Bertolt Brecht aus dessen Sammlug von Parabeln und Weisheiten mit dem Titel: "Geschichten vom Herrn Keuner".

Verfasst zwischen 1926 und 1956; vollständig publiziert erst im Jahr 2000.



Bertolt Brecht, Geschichten vom Herrn Keuner:

  • "Einer fragte Herrn K., ob es einen Gott gäbe. Herr K. sagte: 'Ich rate dir, nachzudenken, ob dein Verhalten je nach der Antwort auf diese Frage sich ändern würde. Würde es sich nicht ändern, dann können wir die Frage fallenlassen. Würde es sich ändern, dann kann ich dir wenigstens noch so weit behilflich sein, daß ich dir sage, du hast dich schon entschieden: Du brauchst einen Gott.' " (Link)
  Die Kunstfigur "Herr Keuner" redet wie ein alter chinesischer Lehrer. Bertolt Brecht hat diesem Alter Ego, das so wenig wie er selbst einen Gott braucht, nicht viele Eigenschaften verliehen. Herr Keuner ist durch und durch vernünftig, etwas kalt und - laut Walter Benjamin - ein bisschen unsympathisch.


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Quellen:
Bertolt Brecht: Geschichten von Herrn Keuner. In: Werke, Prosa3, Aufbau Verlag, Berlin Weimar: 1995, S. 18 und 438
Walter Benjamin über Herrn Keuner (Link)


Beispiel für das entstellte Zitat:
(Link)
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Dank:
Ich danke @Xoph für die Frage.

Freitag, 16. August 2019

"Der Balkan beginnt am Rennweg." Klemens Wenzel Fürst Metternich (angeblich)

Der österreichische Staatskanzler Metternich hat nie gesagt, hinter seinem Palais am Rennweg fange der Balkan an. In diesem Wortlaut wurde ihm das Bonmot erst im 20. Jahrhundert unterschoben.

Im 19. Jahrhundert wurde Metternichs Bonmot in den Versionen "Asien fängt auf der Landstraße an" oder "Hinter meiner Villa am Rennweg beginnt der Orient" weitererzählt.

Der österreichische Schriftsteller und Journalist Ferdinand Kürnberger gibt im Jahr 1871 - 12 Jahre nach Metternichs Tod - sogar eine Quelle für das Bonmot an: Ein Hauslehrer Metternichs habe es ihm erzählt:

Ferdinand Kürnberger, 1871:


  • "Denn als ich mein Wort [Wien ist 'eine europäisch-asiatische Grenzstadt'] eines Tages einem Manne sagte, welcher Hauslehrer beim Fürsten Metternich gewesen, antwortete derselbe: Sie geben also dem alten Herrn recht, welcher zu sagen pflegte: Asien fängt auf der Landstraße an! ('Die Landstraße' ist die östlichste, in der Richtung nach Ungarn gelegene Wiener Vorstadt.)"
    Ferdinand Kürnberger: "Asiatisch und Selbstlos", 16. November 1871 (Link)


Ferdinand Kürnberger wäre schon längst völlig vergessen, wenn er nicht von Karl Kraus empfohlen und von Ludwig Wittgenstein und Theodor W. Adorno zitiert worden wäre. Die Motti von dem  Tractatus Logico-Philosophicus  und der "Minima Moralia" stammen von Kürnberger.

Die Stereotype des Unprotestantischen, Schlampigen, Undeutschen, Korrupten, Unverlässlichen, die im 19. Jahrhundert mit den Begriffen 'Orient' und 'Asien' verbunden waren, bekamen erst im 20. Jahrhundert den Namen 'Balkan'.

Niemand will heute Balkan sein, Balkan "ist immer der Andere", schreibt Slavoj Žižek und wo der Balkan beginnt, ist umstritten: Für die einen beginnt er in Ungarn, Kroatien, Serbien, im Kosovo oder im Osten Wiens Richtung Ungarn, für manche Vorarlberger ist Wien und ganz Österreich schon Balkan und für manche Deutsche ist angeblich Alles südlich von Ulm Balkan.

 Evolution des Balkan-Zitats:


1867
  • Das Erherzogtum Österreich ist ein "Grenzland, war von jeher am Rande europäischer Gesittung gelegen und in diesem Sinne hatte der Staatskanzler Metternich recht, wenn er sagte: 'Hinter meiner Villa am Rennweg beginnt der Orient.' "
    Konstitutionelle Volkszeitung, Nr. 27, 3. Jg, 30. Juli 1867, S. 3 (Link)
1871

  • "Denn als ich mein Wort [Wien ist 'eine europäisch-asiatische Grenzstadt'] eines Tages einem Manne sagte, welcher Hauslehrer beim Fürsten Metternich gewesen, antwortete derselbe: Sie geben also dem alten Herrn recht, welcher zu sagen pflegte: Asien fängt auf der Landstraße an! ('Die Landstraße' ist die östlichste, in der Richtung nach Ungarn gelegene Wiener Vorstadt.)"

    Ferdinand Kürnberger: "Asiatisch und Selbstlos", 16. November 1871, in: Werke, Band I, Siegelringe. Eine Sammlung politischer und kirchlicher Feuilletons. Herausgegeben von O. E. Deutsch,  Georg Müller, München / Leipzig: 1910, S. 196 (Link)
1880
  • "—  und der Orient beginnt ja, nach Metternich, bei der Wiener St. Marxerlinie —" (anno)


1881
  • "Metternich hat schon gesagt, daß auf der Landstraße Asien beginnt, und heute noch ist dieser Ausspruch theilweise wahr ..." (anno)

1887
  • "Schon in vormärzlicher Zeit war der große ungarische Gänsemarkt die magyarische Straßenherberge auf der Landstraße, daher das seinerzeitige wohlfeile Bonmot Metternich's: 'Asien fängt auf der Landstraße an.' "
    B. Reiner: "Der Martinstag in Ungarn", Neue Freie Presse, 11. November 1887, S. 1 (anno)

1888
  • "Metternich sagte, der Orient beginne bei der St.Marxer Linie, später hieß es, der Orient fange in Pest oder Belgrad an, jetzt ist die Grenze wieder hinausgerückt: der Orient beginnt thatsächlich in Nisch." (Link)
1899


  • "Der alte Metternich sagte einst — und das Wort war damals nur zu wahr — daß eine Stunde hinter der St. Marxer Linie Asien anfange" (Link)


1913:
  • "Nach einem bekannten Spruche beginnt der Balkan schon in Wien .."
    Plein air, Wiener Sonn- und Montags-Zeitung, 27. Januar 1913, S. 2 (Link)
1914
  • "Der Balkan beginnt bereits in Ostgalizien."  (Link)
1918

  • "Die Ungarn scheinen jetzt nur noch das Bestreben zu haben, jenen berühmten Ausspruch des Fürsten Metternich zu rechtfertigen, der bekanntlich mit Hinweis auf sein am Rennweg gelegenes Palais zu sagen pflegte: 'Hinter meinem Palais beginnt der Balkan'". 
    Anonym: "Das ist Ungarn!" Leitartikel, Neues 8 Uhr Blatt, 19. Dezember 1918, S. 1 (Link)
1925
  • "In Passau beginnt der Balkan." (Link)
1929
  • "Schon Metternich pflegte zu sagen, dass der Balkan in der Taborstraße beginnt."  (Link)
1944
  • " 'Hinter meinem Hause beginnt der Balkan', pflegte Metternich zu sagen .." (anno) 
1955
  • "In Vorarlberg – dem völlig zu Recht sogenannten Musterländle – gibt es einen Spruch: 'Hinterm Arlberg, da fängt der Balkan an.'  (Link)

1979
  • "Der vielzitierte Ausspruch des Fürsten Metternich, wonach östlich des Wiener Rennweges der Balkan beginnt, muß revidiert werden. Der Balkan beginnt ab nun bereits in Bregenz und Salzburg!"    (Link)
  • " 'Der Balkan beginnt hinter Ulm' sagt ein böses Sprichwort in Württemberg." (Google) 
1982
  • "Ich muß das überstrapazierte Wort Metternichs auch zitieren (Bei meinem Wiener Palais auf der Landstraße beginnt der Balkan), aber nur um hinzuzufügen: und er erstreckt sich von hier in alle Richtungen."  (Link)
1993
  • "Aus Wien stammt ein böser Satz: Der Balkan beginnt gleich hinter dem Rennweg (eine Straße, die den dritten Wiener Gemeindebezirk durchquert). Mitunter schreibt man diese Worte Fürst Metternich zu, dem 'Kutscher Europas' ." (Google)
 2011

  • "Wer wissen will, warum die Beobachtung des Staatsmannes Metternich, wonach der Balkan in Wien beginnt, 200 Jahre nach dessen Wirken noch immer stimmt, sollte dieses Buch lesen." (Link) 
  •  
2016
  • " 'Der Balkan beginnt am Rennweg': Kaum ein Wiener kennt diese Redewendung nicht, die dem einstigen Staatskanzler Metternich zugeschrieben wird."
    Nedad Memić: "Beč, das Herz des Balkans", Der Standard, 19. Oktober 2016 (Link)

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Slavoj Žižek, 1999:

  

  • "Der Balkan ist also immer der Andere, er liegt irgendwo anders, immer ein wenig weiter im Südosten, und in diesen Zusammenhang gehört auch das Paradox, dass wir am unteren Ende der Balkanhalbinsel dem Balkan wieder auf wundersame Weise entkommen sind (da Griechenland eigentlich nicht mehr richtig dazugehört, sondern die Wiege unserer westlichen Zivilisation darstellt)."
    Slavoj Žižek: "Liebe deinen Nächsten? Nein, Danke! Die Sackgasse des Sozialen in der Postmoderne. Aus dem Englischen von Nikolaus Schneider. Berlin: Verlag Volk u. Welt, 1999,  voererst zititert nach kosova-aktuell.de.
  • "This very alibi confronts us with the first of many paradoxes concerning Balkan: its geographic delimitation was never precise. It is as if one can never receive a definitive answer to the question, "Where does it begin?" For Serbs, it begins down there in Kosovo or Bosnia, and they defend the Christian civilization against this Europe's Other. For Croats, it begins with the Orthodox, despotic, Byzantine Serbia, against which Croatia defends the values of democratic Western civilization. For Slovenes, it begins with Croatia, and we Slovenes are the last outpost of the peaceful Mitteleuropa. For Italians and Austrians, it begins with Slovenia, where the reign of the Slavic hordes starts. For Germans, Austria itself, on account of its historic connections, is already tainted by the Balkanic corruption and inefficiency. For some arrogant Frenchmen, Germany is associated with the Balkanian Eastern savagery — up to the extreme case of some conservative anti-European-Union Englishmen for whom, in an implicit way, it is ultimately the whole of continental Europe itself that functions as a kind of Balkan Turkish global empire with Brussels as the new Constantinople, the capricious despotic center threatening English freedom and sovereignty. So Balkan is always the Other: it lies somewhere else, always a little bit more to the southeast, with the paradox that, when we reach the very bottom of the Balkan peninsula, we again magically escape Balkan. Greece is no longer Balkan proper, but the cradle of our Western civilization." 
  • "And insofar as the name "Balkan" figures in the Western political fantasy space as the main embodiment of this inherent transgression, I am tempted to rephrase Lacan's well-known dictum that the Unconscious is structured like a language. In our century, at least, the European political Unconscious is definitely structured like Balkan." 
    Slavoj Žižek: "The Spectre of Balkan",  The Journal of the International Institute, Volume 6, Issue 2, Winter 1999    (Link)

     

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Quellen: 
Ferdinand Kürnberger: "Asiatisch und Selbstlos", 16. November 1871, in: Werke, Band I, Siegelringe. Eine Sammlung politischer und kirchlicher Feuilletons. Herausgegeben von O. E. Deutsch,  Georg Müller, München / Leipzig: 1910, S. 196 (Link)
Konstitutionelle Volkszeitung, Nr. 27, 3. Jg, 30. Juli 1867, S. 3 (Link) 
B. Reiner: "Der Martinstag in Ungarn", Neue Freie Presse, 11. November 1887, S. 1 (anno) 
Plein air, Wiener Sonn- und Montags-Zeitung, 27. Januar 1913, S. 2 (Link)
Anonym: "Das ist Ungarn!" Leitartikel, Neues 8 Uhr Blatt, 19. Dezember 1918, S. 1 (Link) 
Slavoj Žižek: "Liebe deinen Nächsten? Nein, Danke! Die Sackgasse des Sozialen in der Postmoderne. Aus dem Englischen von Nikolaus Schneider. Berlin: Verlag Volk u. Welt, 1999,  voererst zititert nach kosova-aktuell.de. 
 Slavoj Žižek: "The Spectre of Balkan",  The Journal of the International Institute, Volume 6, Issue 2, Winter 1999    (Link)
Nedad Memić: "Beč, das Herz des Balkans", Der Standard, 19. Oktober 2016 (Link)



Artikel in Arbeit.