Sonntag, 12. August 2018

"Was süchtig macht, macht unglücklich." Sigmund Freud (angeblich)

Pseudo-Sigmund-Freud-Zitat; in: Evelyn Holst: "Der Liebe Last", 2012

Dieses noch nicht sehr weit verbreitete Pseudo-Sigmund-Freud-Zitat taucht  2012 als Motto in dem Krimi "Der Liebe Last" von Evelyn Holst auf und davor - um 2006 - in einem Schweizer sozialpädagogischen Fachbuch; im 20. Jahrhundert ist dieses Zitat in den digitalisierten Texten nicht zu finden.
 
Es gibt keinen guten Grund anzunehmen, dass dieses mehr als 60 Jahre nach Sigmund Freuds Tod ihm erstmals zugeschriebene Zitat jemals in einem seiner Werke oder Interviews gefunden werden wird.
Pseudo-Sigmund-Freud-Zitat; FAZ, 11. August 2018.

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Quellen:
 Zentrum Gfellergut: "Praxishandbuch für die sozialpädagogische Arbeit mit Jugendlichen im Sozialpädagogischen Zentrum Gfellergut", Suchtprävention und -arbeit, Zürich: (o.J.  2006), S. 110 (Link)
Evelyn Holst: "Der Liebe Last", Krimi, Virulent, Berlin: 2012, ebook, Motto (S. 3) (Link)
Markus M. Ronner: "Sprüche und Widersprüche. Ganz Ihrer Meinung – nur andersherum." Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11. August 2018, Feuilleton (Link)

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Dank:
Ich danke Wolfgang Gruber und Ralf Bülow für ihre Recherchen.

Korr. Fassung

Mittwoch, 8. August 2018

"Du fragst mich, was soll ich tun? Und ich sage: Lebe wild und gefährlich, Artur." Arthur Schnitzler (angeblich)

Plakat von Artur Dieckhoff, Hamburg, Anfang 1980er Jahre; Foto: copyright Artur Dieckhoff.

Die Devise "Lebe wild und gefährlich" hat nichts mit Arthur Schnitzler und Arthur Rimbaud zu tun, sondern wurde von dem Hamburger Künstler und Schriftsetzer Artur Dieckhoff Anfang der 1980er Jahre für ein Plakat geprägt, das er wild an Hamburger Hauswänden plakatierte.

Das A1 große Plakat mit der englischen Schrift "Caslon" war Teil der Aktion "Poesie im öffentlichen Raum", die Artur Dieckhoff seit den 1970er Jahren (mit Unterbrechungen) bis heute mit "Sprachfetzen" inszeniert.

Der Slogan "Lebe wild und gefährlich" wurde Ende der 1980er Jahren auch durch eine Postkarte verbreitet, die von  dem Autor und späterem Gründer der Agentur kulturrecycling, Werner Clemens-Walter, produziert wurde.
Ansichtskarte, Ende 1980er Jahre; copyright: kulturrecycling, Werner Clemens-Walter.

Der Text dieser Postkarte ist identisch mit Artur Dieckhoffs Plakat und das starke Foto von dem selbstsicher grantig blinzelnden Volksschüler in Strumpfhosen, kurzer Hose und Wollmütze ist der Ausschnitt eines Fotos,  das der Vater Clemens-Walters in den 1920er Jahren in Niedersachsen aufgenommen hat. Das Original ist im Besitz von Werner Clemens-Walter.
Clemens Walter, 1991. (Mit dem vollständigen Foto der Postkarte.)
Der Spruch wurde in den folgenden Jahren oft kopiert, variiert, übernommen, auf Transparente gemalt und Jutta Ditfurths 1991 erschienene radikalökologische Kampfschrift trägt als erstes Buch den Titel "Lebe wild und gefährlich", fünf weitere Bücher mit diesem Titel von anderen Autoren folgen in den nächsten Jahrzehnten.

Im 21. Jahrhundert wird der Text der Postkarte  und des Plakats - ohne ersichtlichen Grund - öfters Arthur Schnitzler unterschoben. Zuerst nur in Internetforen, später auch in der ZEIT, in der Süddeutschen Zeitung und in Büchern

Angeblich habe der Wiener Autor Arthur Schnitzler dem französischen Dichter Arthur Rimbaud auf die Frage, was er tun solle, geantwortet: "Lebe wild und gefährlich, Arthur."

Diese Anekdote ist um das Jahr 2004,  mehr als 100 Jahre nach Arthur Rimbauds Tod,  in Internetforen vielleicht als Scherz entstanden. Es gibt keine einzige ernstzunehmende Quelle für diese Legende, wie auch die Kenner und Herausgeber von Arthur Schnitzlers Werken, Martin Anton Müller und Peter Michael Braunwarth,  bestätigen.

Es gab keinerlei Verbindung zwischen Arthur Schnitzler und dem um acht Jahre älteren Arthur Rimbaud, der als Dichter schon verstummt war und als Geschäftsmann in Afrika lebte, als Arthur Schnitzler im Jahr 1885 zu publizieren begann.

Beispiele für falsche Zuschreibungen an Arthur Schnitzler:


2005
  • "Diese berühmte, zum Postkartenspruch gewordene Empfehlung stammt von dem Wiener Schriftsteller Arthur Schnitzler."

2007
  • "Das Schwarzweißfoto hängt ein wenig versteckt in der Ecke und zeigt einen kleinen Jungen mit Pudelmütze. Daneben steht: 'Du fragst mich, was soll ich tun? Und ich sage: Lebe wild und gefährlich.' Vor 20 Jahren fand sich dieses Motiv mit dem Zitat des Schriftstellers Arthur Schnitzler in vielen studentischen Wohngemeinschaften."
  • Kai-Hinrich Renner: Gebührensheriff unter Beschuss, DIE ZEIT 06/2007, 1. Februar 2007 (Link)
In den folgenden Jahren wurde die Anekdote ausgeschmückt und eine Freundschaft zwischen Arthur Schnitzler und Arthur Rimbaud erfunden:

2014
  • "Arthur Rimbaud, Schriftsteller, Dichter, führte ein ausschweifendes Leben im Paris des 19. Jahrhunderts, zu einer Zeit als Zukunft noch nach Verheißung klang. Man tinderte nicht, sondern begegnete seinen zukünftigen Liebhabern auf der Straße und in kleinen verrauchten Cafés, nur um kurze Zeit später von der Syphilis dahingerafft zu werden. Die Menschen hatten Angst vorm Sterben und darum lebten sie. Als ob er es nicht gewusst hätte, fragte Rimbaud seinen Freund Arthur Schnitzler, Schriftsteller, Dandy, Erotiker („Der Reigen“): “Was soll ich tun, Arthur?” Und Schnitzler antwortete: “Du fragst mich, was soll ich tun? Und ich sage Dir, lebe wild und gefährlich Arthur.” Als wäre es die natürlichste Sache der Welt. Und wahrscheinlich ist sie das. "
    milchmaedchenmonolog.de

2018
  • „Du fragst mich was soll ich tun? Und ich sage: Lebe wild und gefährlich, Artur.“ Das antwortete der österreichische Arthur Schnitzler seinem französischen Freund und Kollegen Arthur Rimbaud auf dessen Frage „Was soll ich tun?“. Das war im 19. Jahrhundert – und tatsächlich starb der schon als Kind wild grabende Rimbaud jung. Er hatte mit seiner Frage wohl nur eine Bestätigung für sein Lebensprinzip bekommen wollen. Viel später landete die tröstliche Antwort auf einer Postkarte an vielen Kühlschränken von Studenten-WG’s und tröstete dort weiter. Auch ich tröste mich gern mit diesem Versprechen, wenn ich vor einer Entscheidung stehe, die mich zwingt, zwischen Moral und Lust zu wählen.
  • "'Lebe wild und gefährlich' – ein Zitat und ein Versprechen" - Steady News (Link)

Pseudo-Arthur-Schnitzler-Zitat.


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Die Devise "Gefährlich leben!" stammt von Friedrich Nietzsche und wurde von linken Aktivisten, Studenten und Künstlern, aber auch von Benito MussoliniSSlern und einigen Soldaten (Link) begeistert übernommen.

Friedrich Nietzsche:

  • "Denn, glaubt es mir! — das Geheimniss, um die grösste Fruchtbarkeit und den grössten Genuss vom Dasein einzuernten, heisst: gefährlich leben! Baut eure Städte an den Vesuv! Schickt eure Schiffe in unerforschte Meere! Lebt im Kriege mit Euresgleichen und mit euch selber! Seid Räuber und Eroberer, so lange ihr nicht Herrscher und Besitzer sein könnt, ihr Erkennenden! Die Zeit geht bald vorbei, wo es euch genug sein durfte, gleich scheuen Hirschen in Wäldern versteckt zu leben! Endlich wird die Erkenntniss die Hand nach dem ausstrecken, was ihr gebührt: — sie wird herrschen und besitzen wollen, und ihr mit ihr!"
  • Friedrich Nietzsche: "Die fröhliche Wissenschaft", § 283. Erste Veröffentlichung 10. September 1882 (Link)




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Quellen:

E-Mail von Werner Clemens-Walter vom 10. August 2018
E-Mail von Artur Dieckmann vom 12. August 2018
E-Mail von Martin Anton Müller vom 9. August 2018
Friedrich Nietzsche: "Die fröhliche Wissenschaft", § 283. Erste Veröffentlichung 10. September 1882. (Link) in: Nietzsche Werke, Kritische Gesamtausgabe. Herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Teil 5, 2. Band, Walter de Gruyter, Berlin: 1973, S. 206 
Clemens Walter: "Nur die Mutigen entkommen: die einzig wahre Geschichte von Artur u. Artur; Der Chronik Erster Teil. Kindheit, Aufbruch, Verwandschaft u. Verplichtung", Transit, Berlin: 1991
Clemens Walter: "Menschen wie wir werden überall gebraucht. - Die einzig wahre Geschichte von Zora, Arthur u. Artur - Der Chronik zweiter Teil. Irrungen, Wirrungen und frühes Glück", Transit, Berlin: 1991
Clemens Walter: "Mit Artur durchs Jahr. Wild und gefährlich." Transit, Berlin: 1992Jutta Ditfurth: "Lebe wild und gefährlich - Radikalökologische Perspektiven". Kiepenheuer u. Witsch. Köln: 1991
Frühe Erwähnung 1986, S. 17 (Link) Symposium TAZ (Link)
Kai-Hinrich Renner: Gebührensheriff unter Beschuss, DIE ZEIT 06/2007, 1. Februar 2007 (Link)  

Chronologie der falschen Zuschreibungen:

 
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Dank:
Ich danke Martin Anton Müller für den Hinweis auf dieses Kuckuckszitat und Peter Michael Braunwarth für seine Hilfe. Besonders danke ich Werner Clemens-Walter für seine Auskunft zur Entstehung der Postkarte und herzlich danke ich auch Artur Dieckhoff für die Geschichte des Plakats sowie Tobias Blanken für seine Recherche-Tipps und die Postkarte.


Letzte Änderung: 15/9 2022.
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Anhang

"Live Fast Die Young":


Ralf Bülow (@RalfBuelow) 9. August 2018,

Dienstag, 7. August 2018

"Die Faschisten der Zukunft werden sich Antifaschisten nennen." Winston Churchill (angeblich)

Pseudo-Winston-Churchill-Zitat.


Das Zitat wird erst im 21. Jahrhundert Churchill zugeschrieben. Noch nie hat es jemand in einer der Schriften Winston Churchills gefunden, was auch durch einen Brief der Churchill Society bestätigt wird. Dieses relativ junge Pseudo-Churchill-Zitat wird von Leuten aus dem rechten Spektrum auf der ganzen Welt gerne und oft gegen Antifaschisten verwendet.

Entstanden ist das Zitat in den USA in den 1930er Jahren. Es wird seit 1936 oft dem demokratischen Politiker Huey Long zugeschrieben, aber die Zuschreibung erfolgte erst nach seinem Tod und die Quellenlage ist nach der Einschätzung Garson O'Tooles unklar.

Nachweislich hat der Autor, Journalist und Satirker H. L. Mencken 1938 das Zitat verwendet, wenn auch vielleicht nicht geprägt. Ich zitiere nach Garson O'Toole:


H.L. Mencken, 1938

  • "My own belief, more than once set afloat from this spot, is that it will take us, soon or late, into the stormy waters of Fascism. To be sure, that Fascism is not likely to be identical with the kinds on tap in Germany, Italy and Russia; indeed, it is very apt to come in under the name of anti-Fascism. And its first Duce, whether the Hon. Mr. Roosevelt or another, will not call himself a dictator, but a scotcher of dictators."
    H. L. Mencken: "Of The People, By The People" (quoteinvestigator.com)

Pseudo-Winston-Churchill-Zitat.

Pseudo-Winston-Churchill-Zitat.



Twitter, 2018


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Quellen:
H. L. Mencken: "Of The People, By The People", The Baltimore Sun, 6. November 1938, Baltimore, Maryland, 1938, S. 8 (zitiert nach Garson O'Toole) 
Wikiquote Talk: " I actually contacted the Churchill Society and asked them if Winston Churchill had ever said "the fascists of the future will be called anti-fascists" They replied saying there was absolutely no evidence anywhere of him ever saying is and so, therefore, he didn't say it. For some reason it has been attributed to him incorrectly."
Garson O'Toole: "Sure, We’ll Have Fascism in This Country, and We’ll Call It Anti-Fascism", 2017 (Link)
Snopes Fact Check: "Did Winston Churchill Say ‘The Fascists of the Future Will Call Themselves Anti-Fascists?’", 2018 (Link) 

Früheste Zuschreibung an Winston Churchill:
2008: groups.google.com/forum (nach Garson O'Toole)

Sonntag, 5. August 2018

"Die Bürger werden eines Tages nicht nur die Worte und Taten der Politiker zu bereuen haben, sondern auch das furchtbare Schweigen der Mehrheit." Bertolt Brecht (angeblich)

Pseudo-Bertolt-Brecht-Zitat.
Dieses Zitat wird seit etwa 10 Jahren Bertolt Brecht unterschoben. Das heute bei AfD-nahen Postern und Leserbriefschreibern beliebte Zitat scheint ursprünglich eher von Antifaschisten verwendet worden zu sein.

Vor dem 21. Jahrhundert habe ich das angebliche Brecht-Zitat auf Deutsch in keinem digitalisierten Text gefunden.

Ralf Bülow verdanken wir den Hinweis, dass dieses Pseudo-Brecht-Zitat aus der Übersetzung eines Satzes Martin Luther Kings entstanden sein könnte:


Martin Luther King

  • "We will have to repent in this generation not merely for the vitriolic words and actions of the bad people but  for the appalling silence of the good people."
    (Wir werden in dieser Generation nicht nur die gehässigen Worte und Taten der Bösen zu bereuen haben, sondern auch das furchtbare Schweigen der Guten.
    )
    Martin Luther King Jr: "Letter From Birmingham  Jail", August 1963  (Link)
-

Frühe falsche Zuschreibungen:



2004: razyboard.com/Anti Nazi Sprüche Ohne Zuschreibung an Bertolt Brecht
2009: carookee.de/forum  Zuschreibung an 'Bertholt' Brecht
2012: kosova-aktuell.de Zuschreibung an  "Bertold' Brecht
2013: talk50plus.de Zuschreibung an Brecht


Twitter:


2013


2018

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Quellen:
Google
Martin Luther King Jr:  "Letter From Birmingham  Jail", August 1963  (Link)
wikiquote
2004:  razyboard.com/Anti Nazi Sprüche (Ohne Zuschreibung an Bertolt Brecht)
2009: .carookee.de/forum  (Zuschreibung an Bertholt (!) Brecht)
2012: kosova-aktuell.de (Zuschreibung an  Bertold (!) Brecht)
2013: talk50plus.de (Zuschreibung an Brecht)
afd-mühldorf.de

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Dank:
Ich bin Ralf Bülow für seinen Hinweis auf Martin Luther King Jr. sehr dankbar.

Artikel in Arbeit.

"Omne animal post coitum triste." Aristoteles (angeblich)


Das lateinische Sprichwort, "Alle Tiere sind nach dem Sex traurig", "Nach der Vereinigung sind alle Tiere unglücklich ", wird in unterschiedlichen Varianten, zum Beispiel, "Nach dem Koitus ist alle Kreatur traurig, außer dem Hahn, der kräht", oder: "Nach dem Koitus ist jedes Tier traurig, außer der Hahn und die Frau", dem Mediziner Galen sowie Cicero, Ovid, Augustinus und Aristoteles zugeschrieben.  

Wer immer dieses Sprichwort geprägt habe, müsse orgastisch impotent sein, schrieb Wilhelm Reich, der Schüler des Psychoanalytikers Sigmund Freud.

Das lateinische Sprichwort ist erst im 16. Jahrhundert nachzuweisen und in den überlieferten Texten von AristotelesGalen, Ovid, Augustinus  etc. von Experten ihrer Werke weder so noch so ähnlich gefunden worden, auch wenn in diversen Büchern und Nachschlagwerken (auch bei Wikiquote) das Gegenteil behauptet wird.

Ich folge hier hauptsächlich der Studie "'Omne animal post coitum triste' - Die Herkunft eines Sprichworts und seine Verwendung bei Freud" des Tübinger Historikers Gerhard Fichtner, der gleichzeitig mit Enrique Montero Cartelle der Evolution des Sprichworts gründlich nachgegegangen ist. Beide Forscher sind unabhängig von einander zu ähnlichen Schlüssen gekommen.

Das Sprichwort sei von ein paar Stellen einer Schrift aus der Schule von Aristoteles mit dem Titel "Problemata physica" angeregt worden, liest man öfters.

Diese Schrift ist nach dem Tod Aristoteles' im 3. Jahrhundert vor Christus enstanden, und in späteren Jahrhunderten von unbekannten Autoren ergänzt und redigiert worden. Sie enthält an die 900 Fragen für 900 Probleme (inklusive einiger Wiederholungen) und wurde im Mittelalter ins Arabische und Lateinische übersetzt.

Das Buch IV dieser pseudoaristotelischen Schrift "Problemata physica" trägt den Titel "Was den Geschlechtsverkehr betrifft" (Problems connected with the sexual intercourse) und erklärt 31 Probleme, die jeweils mit einer Warum-Frage beginnen.

Zum Beispiel (Link):
  • 31. Warum sind sowohl die Vögel als auch die Menschen mit dichtem Haarwuchs wollüstig? (880a 35)
  • 30. Warum sind die Melancholiker zum Geschlechtsverkehr geneigt? (880a 30)
  • 28. Warum drängen die Männer im Winter, die Frauen stärker im Sommer zum Geschlechtsverkehr? (880a 11)
  • 23 Warum tritt die Erektion ... ein? (879a 15)
  • 14. Warum können die Menschen im Wasser weniger den Geschlechtsakt ausüben? (878a 35)
  • 11. Warum neigen die, die beständig reiten, mehr zu Geschlechtsverkehr? (877b 14)
  • 7. Warum ist das Barfußgehen für den Geschlechtsverkehr nicht zuträglich? (877a 5)
Ohne Kenntnis der Viersäftelehre klingen die Erklärungen dieser Probleme unsinnig. Das Sprichwort, "Omne animal post coitum triste", wurde wahscheinlich durch Stellen aus diesem IV. Buch und vor allem von einem Satz aus dem XXX. Buch mit der Überschrift "Was Klugheit, Verstand und Weisheit betrifft" (Problems connected with prudence, intelligence and wisdom) angeregt:

  • "10. Warum hassen junge Menschen, wenn sie das erste Mal mit dem Geschlechtsakt beginnen, nach dem Akt diejenigen, mit denen sie verkehrt haben?"
    Pseudo-Aristoteles: Poblemata Physica, übersetzt von Hellmut Flashar, IV. Buch 877b 9ff. (Link)
  • "21. Warum wird man durch den Geschlechtsverkehr meistens erschöpft und kraftloser?"  Pseudo-Aristoteles: Poblemata Physica, übersetzt von Hellmut Flashar, IV. Buch 879a 4ff (Link)
  • "Auch nach dem Geschlechtsverkehr werden die meisten Menschen stärker depressiv;"
    "Also after sexual intercourse most people tend to be despondent;"
    Pseudo-Aristoteles: Poblemata Physica, XXX. Buch, übersetzt von Hellmut Flashar 955a 22 (Link)
    Griechisch: (in dieser Ausgabe) 955 50 (Link) 
Die falsche Verallgemeinerung des Sprichworts, "alle Tiere", ist in diesem Text aus der Schule des Aristoteles allerdings so wenig enthalten wie der Hahn, der in späteren Fassungen des Sprichworts auftaucht. Eine lateinische Übersetzung aus dem 15. Jahrhundert des Satzes lautet:
  • "Et post coitum uenereum animo plerique omnes succumbunt, reddunturque tristiores."
    Poblemata Physica, XXX. Buch 955a 22 (Zitiert nach Gerhard Fichtner, S. 163)
Gerhard Fichtner und der spanische Forscher Enrique Montero Cartelle sind in ihren Recherchen unabhängig von einander zu dem Schluss gekommen, dass der Wortlaut des lateinischern Sprichwortes das erste Mal im Jahr 1514 in einem Kommentar des deutschen Humanisten Johannes Murmellius zu einem Text von Boethius auftaucht:


1514
  • "nam, teste, philosopho, omne animal a coitu triste est"
    "denn nach dem Zeugnis des Philosophen ist jedes Lebewesen nach dem Verkehr traurig"
    Johannes Murmellius Zitiert nach Gerhard Fichtner, S. 163, der auch erklärt, dass man unter dem "philosophus" Aristoteles verstand.

Schon im 17. Jahrhundert wird das Sprichwort humoristisch variiert.

1692
  • "Et Omne Animal post Coitum fieri triste, Praeter Gallum didicit."
    "Man hat gelernt, dass jedes Tier nach dem Koitus traurig werde – außer dem Hahn."  (Link)


Im 18. Jahrhundert war das lateinische Sprichwort schon weit vebreitet, und kommt zum Beispiel auf dem Kupferstich William Hogarths "After" vor. Am Boden des Kupferstichs Nr 2. "After" liegt ein Buch mit dem Titel: "Omne Animal Post Coitum Triste. ARISTOTLE"

 1736
Vergößerung aus: Gerhard Fichtner; S.



Weiter verbreitet wurde das Sprichwort im 18. Jahrhundert auch durch den Roman "Tristram Shandy"von Laurence Sterne, der es ebenfalls Aristoteles zuschreibt sowie zum Beispiel durch das Buch "La Philosophie de Monsieur Nicolas" von Restif de La Bretonne, in dem folgende Variante erzählt wird:

1797
  • "Jedes Thier ist nach der Begattung niedergeschlagen, der Hühnerhahn und der den Beischlaf ohne Bezahlung genießende Schulknabe ausgenommen." (Link)

 

Varianten, die fäschlich Aristoteles, Galen etc zugeschrieben werden: 

  • Jedes Tier wird nach dem Koitus traurig
    - außer die Frau und der Hahn
    - außer dem Hahn, der kräht
    - außer der Hahn und der Schüler ....
  • Omne animal post coitum triste.
  • Quod omne animal post coitum est triste 
  • Omne animal post coitum triste: excepto gallo gallinaceo et studioso gratis admisso.
  • Omne Animal post coitum triste, exeepto Gallogallinacaeo, et Scholastico futuente gratis . . . .
  • omne animale post coitum triste est 
  • Post coïtum omnia animalia tristia sunt. 
  • Après l'amour, tous les animaux sont triste 
  • Jedes Thier ist nach dem Beischlaf traurig, lässig 
Das lateinische Sprichwort wurde also anscheinend 1514 von Johannes Murmellius erstmals aufgezeichnet und vielleicht auch geprägt, längere Fassungen davon entstanden im Mittelalter und wurden von der pseudo-aristotelischen Schrift "Problemata Physica" angeregt.
 
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Quellen:

"The works of Aristotle." Translated into English under the editorship of W.D. Ross, Volume VII, "Poblemata" by E.S. Forster, Clarendon Press, Oxford: 1927 (Link)
"Aristoteles Werke" in deutscher Übersetzung, begründet von Ernst Grumach, Band 19, "Problemata Physica", herausgegeben von Hellmut Flashar, Akademie Verlag (EA: 1962), 4. Auflage, Berlin: 1991, Buch IV, S. 48-58 (Link); Buch XXX 955a Zeile 22
 
Enrique Montero Cartelle: "Omne animal post coitum triste: de Aristóteles a S. Freud", "Revista de Estudios Latinos" (RELat) 1, 2001, S. 107-119 (Link):   pdf
Gerhard Fichtner: "'Omne animal post coitum triste' - Die Herkunft eines Sprichworts und seine Verwendung bei Freud", Jahrbuch der Psychoanalyse: Beiheft, Band 45 2002, S. 151-171 (Link)


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Dank:

Ich danke Christian Seidl für die Übersetzungshilfe.


Artikel in Arbeit.


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Letzte Änderung: 16/5 2022; Korrektur von Tippfehlern in Murmellius-Zitat. (Dank an Wikipedia-Mitarbeiter:in.)








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ANHANG

Problematische Zuschreibungen:
Triste est omne animale post coitum, praeter mulierem gallumque.
  • Every animal is sad after coitus except the human female and the rooster.
  • Galen (30-200 A.D.), in: Medical Aspects of Human Sexuality, (1973), p. 19.

Omne animal post coitum triste [praeter gallum, qui cantat].
„Nach der Vereinigung sind alle Lebewesen unglücklich [außer dem Hahn, der singt (kräht)].“ – Pseudo-Aristoteles, „Problemata physica“, XXX, 1

 Post coitum omne animalium triste est - After sex, all animals are sad. This is a shortened version of a Latin phrase, post coitum omne animal triste est sive gallus et mulier, which means 'After sex all animals are sad except for roosters and women'. It is attributed to the Greek doctor and philosopher, Galen. 


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Pseudo-Aristoteles (Link);  (Link)

Poblemata English: (Link)

Falsches? Zitat Pseudo-Aristoteles (Link)

Zitat Pseudo-Aristoteles (Link) 


  • daher auch die Bemerkung des Aristoteles: quod omne animal post coitum est triste
    Tristram Shandy, Laurence Sterne (Link) 

    the tallow or fat of animals, but an oily and balsamous substance: for the fat and tallow, as also the phlegm or watry parts, are of a lively heat and spirit, which accounts for the observation of Aristotle, “Quod omne animal “ post coitum off triste.
    Tristram Shandy, Laurence Sterne 

    Whoever  coined  the  expression  “Post coitum omnia animalia tristia sunt”   must have been orgastically impotent Wilhelm Reich


    Wander (Link) ; 1736 (Link)


    1901 
     Triste est omne animal post coitum praetcr mulierem gallumque, is, I believe, one of Galen's sayings, and this axiom is essentially true with respect to the ... (Link)
  •  
  • (Link); Yale (Link)(Link); Mittelalter (Link); Anton Kuh Altenberg (Link)

Donnerstag, 2. August 2018

"Manchmal ist eine Zigarre eben nur eine Zigarre". Sigmund Freud (angeblich)


Pseudo-Sigmund-Freud-Zitat.
Schon viele haben es versucht, aber noch niemandem ist es gelungen, diesen beliebten, psychoanalysekritischen Witz in einem Text oder in einem Interview Sigmund Freuds oder wenigstens in einem zeitgenössischen Artikel über ihn zu finden.

Eines der populärsten Sigmund-Freud-Zitate stammt nicht von ihm, sondern wurde dem Begründer der Psychoanalyse zwanzig Jahre nach seinem Tod erstmals in der Fußnote einer psychiatrischen Zeitschrift unterschoben, wie Garson O'Toole herausgefunden und lesenswert dokumentiert hat (Link).

  • "This is still an occupational hazard of psychoanalysis—thirty years after Freud’s famous remark that 'a cigar is sometimes just a cigar.'"
    Allen Wheelis: “The Place of Action in Personality Change”, "Psychiatry", 1950 (Link)
Dieser angeblich um 1950 schon berühmte Sigmund-Freud-Witz, der darauf anspielt, dass in der Psychoanalyse eine Zigarre einen Penis symbolisieren kann, wurde in späteren Jahrzehnten durch Anekdoten ausgeschmückt, die alle so wenig belegt sind wie das Zitat selbst.

Sigmund Freud habe den Satz "milde lächelnd" in einer Abendgesellschaft ausgesprochen, meinte einer, während ein ZEIT-Herausgeber in einem Artikel versicherte, Freud habe den Satz zu einer jungen Frau gesagt, die er mit "gnädiges Fräulein" angeredet hat.



 Beispiele für Sigmund-Freud-Legenden


  • "Die monotone Anwendung desselben Interpretations-Schemas erinnert mich an eine Geschichte, die mir ein Kollege von Sigmund Freud erzählte: auf einer Abendgesellschaft zündete sich Freud arglos eine Zigarre an. Alle Anwesenden starrten fasziniert auf diese nach Freuds Lehre mit einer eindeutig sexuellen Symbolik geladene Handlung. Freud bemerkte die allgemeine Aufmerksamkeit, die sein Tun erregte, und sagte milde lächelnd: 'Manchmal ist eine Zigarre nur eine Zigarre'."
    Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte, Band 24, 1972, S. 80 (Link)
  • "Uns fällt dazu nur der berühmte Zigarrenraucher S. Freud ein, der von einer Zuhörerin neckisch befragt wurde, warum gerade er, der doch so viel über die Symbolik länglicher Objekte doziere, den puros so zugeneigt sei. Seine Antwort wärmt noch heute das Herz eines jeden aficionado: "Manchmal, gnädiges Fräulein, ist eine Zigarre nur eine Zigarre."
    Josef Joffe: "Konterbande", DIE ZEIT, 24/2000, 8. Juni 2000 (Link) 
  • "Manchmal, so beschied Sigmund Freund einer jungen Frau, die einen kecken psychoanalytischen Blick auf seine Rauchgewohnheiten werfen wollte, manchmal sei eine Zigarre einfach nur eine Zigarre."
    Glosse von Thomas E. Schmidt, DIE ZEIT, 25/2001, 13. Juni 2001 (Link) 
  • "Die einfache Handlung, einen Witz zu erzählen oder einem anderen beim Witzeerzählen zuzuhören, sagt viel über das Unbewusste aus; deshalb tat Freud einmal den Ausspruch 'Eine Zigarre ist manchmal nur eine Zigarre, aber ein Witz ist niemals nur ein Witz'."
    Richard Wiseman, 2015 (Link)
Es gibt, wie gesagt, keinerlei seriöse Quellen für diese Freud-Legenden.


 Varianten des Pseudo-Sigmund-Freud-Zitats:

  • "Manchmal ist eine Zigarre nur eine Zigarre."
  • "Manchmal ist eine Zigarre eben nur eine Zigarre."
  • "Eine Zigarre ist manchmal nur eine Zigarre, aber ein Witz ist niemals nur ein Witz."
  • "Manchmal ist eine Zigarre eine Zigarre".
  • "Sometimes a cigar is just a cigar."

Inzwischen kann man sogar eine Sigmund-Freud-Anthologie eines unseriösen Verlages mit dem Pseudo-Freud-Zitat als Titel kaufen:



Pseudo-Sigmund-Freud-Zitat.



    Seriöse Foscher wie Alan C. Elms (University of California), der Freud-Biograph Peter Gay, Ralph Keyes, Fred R. Shapiro,  Garson O'Toole sowie die Experten vom Londoner und Wiener Sigmund Freud Museum kamen am Ende von jahrelangen Recherchen zu dem Schluß, dass dieses Zitat Sigmund Freud fälschlich zugeschrieben wird.

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    Quellen:
    J. Sadger: "Zur Rauchlust", Kleine Mitteilungen aus der psychoanalytischen Praxis, Internationale Zeitschrift für ärztliche Psychoanalyse, IV 1916, Heft 1, S. 48ff. (Link)
    Allen Wheelis: “The Place of Action in Personality Change”, "Psychiatry", 1950, S, 139 (Link) Zitiert nach Garson O' Toole,

    Alan C. Elms: "Apocryphal Freud: "Sigmund Freud's Most Famous 'Quotations' and Their Actual Sources"  Annual of Psychoanalysis, 29:83-104, 2001 (Link)
    Peter Gay: "Reading Freud: Explorations and Entertainments", Yale University Press, New Haven and London: 1990, S. 69 (Link)
    Ralph Keyes: "The Quote Verifier", St Martin’s Griffin, New York: 2006, S. 29f. (Link)
    "The Yale Book of Quotations", Edited by Fred R. Shapiro, Yale University Press, New Haven, CT: 2006, S. 292 (Link)
    Fred R. Shapiro: "The Cigar Quote Primer", cigar aficionado, 2007 (Link) 
    Garson O'Toole (Quote Investigator):  "Sometimes a Cigar Is Just a Cigar - Sigmund Freud? Apocryphal?", 2011 (Link)

    Beispiele für falsche Zuschreibungen:
    S. F.: "Manchmal ist eine Zigarre nur eine Zigarre: Eine Anthologie" (Klassiker der Weltliteratur) marix Verlag: 2016 (Link)
    Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte, Band 24, 1972, S. 80 (Link)
    Glosse von Thomas E. Schmidt, DIE ZEIT, 25/2001, 13. Juni 2001 (Link)  
    Josef Joffe: "Konterbande", DIE ZEIT, 24/2000, 8. Juni 2000 (Link) 
     
    _________
    Dank:
    Ich bin allen zu Dank verpflichtet, die das Zitat vergeblich gesucht haben, besonders Alan C. Elms und Garson O'Toole.

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    Anhang

    • "Sigmund Freud wielded a mighty pen. His many books and essays transformed our ways of thinking about ourselves and others. His technical terminology has become a part of our everyday language. Yet his most often quoted sentences were not written down by Freud and may not even have come from his tongue."
      Alan C. Elms, 2001
      (Link)
    Artikel in Arbeit.

    Letzte Änderungen: 30/9 2022.

    Montag, 30. Juli 2018

    "Verbringe nicht die Zeit mit der Suche nach einem Hindernis, vielleicht ist keines da." Franz Kafka (angeblich)

     


    Dieser Ratschlag für übervorsichtige Menschen wird Franz Kafka in diesem Wortlaut seit 1974 auf Deutsch zugeschrieben.

    Ich dachte zuerst, dieser Satz passe nicht zu Franz Kafka und sei ziemlich sicher ein Kuckuckszitat, aber Basso Continuo verdanke ich die Korrektur meiner falschen Annahme, weil Franz Kafka in der Tat einen ähnlichen Satz in seinem Tagebuch notiert hat.


    Franz Kafka, 16. September 1920


    • "Manchmal scheint es so: Du hast die Aufgabe, hast zu ihrer Ausführung so viel Kräfte als nötig sind (nicht zu viel, nicht zu wenig, du mußt sie zwar zusammenhalten, aber nicht ängstlich sein), Zeit ist dir genügend frei gelassen, den guten Willen zur Arbeit hast du auch. Wo ist das Hindernis für das Gelingen der ungeheuren Aufgabe? Verbringe nicht die Zeit mit dem Suchen des Hindernisses, vielleicht ist keines da."  B09 321 (Link)

    Varianten des Franz-Kafka-Zitats:

    • "Do not waste your time looking for an obstacle – maybe there is none."
    • "Don't waste your time looking for an obstacle. Maybe there is none."
    • "Verbringe die Zeit nicht mit der Suche nach einem Hindernis, vielleicht ist keines da."
    • "Verbringe nicht die Zeit mit der Suche nach einem Hindernis, vielleicht ist keines da." 
    • "Verbringe Deine Zeit nicht mit der Suche nach Hindernissen, vielleicht sind keine da."  


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    Quellen:
    Franz Kafka: Gesammelte Werke (Link) (Bibliographische Angaben folgen.)
    Synoptische Konkordanz zu Franz Kafkas nachgelassenen Schriften und Fragmenten. Bearbeitet von Ralf Becker, Heinrich P. Delfosse und Tina Koch. Max Niemeyer Verlag, Tübingen: 2003, S. 682 (Link) Registereintrag "Hindernis" (Zitiert nach Basso Continuo)

    Markus M. Ronner: "Die Treffende Pointe: humoristisch-satirische Geistesblitze des 20. Jahrhunderts nach Stichwörtern alphabetisch geordnet." Ott Verlag, Thun: 1974, S. 136; 326 (Link)
    Markus  M. Ronner: "Die Treffende Pointe: humoristisch-satirische Geistesblitze des 20. Jahrhunderts nach Stichwörtern alphabetisch geordnet." Ott, Thun: 1974, S. 66  (Link)
    Wikiquote: Als Quelle wird "Kalenderblatt" angegeben.
    aphorismen.de/zitat/5306
    gutzitiert.de
    Google books


    Artikel in Arbeit.