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Sonntag, 12. Februar 2023

"Lieber 100 Stunden umsonst verhandeln als eine Minute schießen." Helmut Schmidt (angeblich)


1981 schrieb der britische Historiker Timothy Garton Ash, Helmut Schmidts Lieblingssatz sei: "Besser tausendmal miteinander reden als einmal aufeinander schießen".

Dass Verhandeln besser als Kriegsführen ist, ist eine alte Weisheit, es geht hier aber um die Entwicklung der Formulierung "Lieber ... verhandeln als ... schießen".

Entwicklung des Zitats: 

 

 Die Notwendigkeit zu verhandeln, statt (Atom-)Kriege zu führen, war im Kalten Krieg in den1950er Jahren ein Dauerthema, auch in West- und Ostdeutschland.

Bertolt Brecht zum Beispiel warnte 1951 in einem Offenen Brief vor der Aufrüstung beider deutschen Staaten und vor einem Krieg zwischen den Deutschen, wenn sie nicht miteinander sprächen.

Bertolt Brecht, "Offener Brief an die deutschen Künstler und Schriftsteller":

1951

"Werden wir Krieg haben? Die Antwort: Wenn wir zum Krieg rüsten, werden wir Krieg haben. Werden Deutsche auf Deutsche schießen? Die Antwort: Wenn sie nicht miteinander sprechen, werden sie aufeinander schießen."

Bertolt Brecht: Offener Brief an die deutschen Künstler und Schriftsteller (Link)

Timothy Garton Ash vermutete, Helmut Schmidts Lieblingszitat könnte als Reaktion auf diese Warnung Bertolt Brechts entstanden sein.

Auch der DDR-Autor Bruno Rothe warb am 17. Oktober 1951 darum, "sich an einen Tisch zu setzen", "um zu verhindern, daß Deutsche aufeinander schießen."

1951

"Oder aber Verständigung mit allen ehrlichen Deutschen, mit allen aufrichtigen Patrioten, um zu verhindern, daß Deutsche aufeinander schießen.

Es ist besser, sich gemeinsam an einen Tisch zu setzen und über das Zustandekommen eines einheitlichen, demokratischen und friedliebenden Deutschland zu verhandeln, als für fremde Interessen und unter Befehl faschistischer Generäle einen Bruderkrieg zu führen."
 Bruno Rothe, Freiheit, 17. Oktober 1951, S. 4 (genios.de)

Nach dem Koreakrieg plakatierte die SPD die Losung:

1953 (?)

"Aber zwei Jahre Verhandlungen sind besser als nur ein Tag Krieg!"  (Link)

Da Helmut Schmidt 1953 erstmals in den Bundestag gewählt wurde, wird er so wie die meisten anderen Abgeordneten diesen SPD-Plakat-Spruch gekannt haben.

Am 18. November 1954 wandte sich Otto Brenner, der Vorsitzende der IG Metall, im Rahmen der Wiederbewaffnungsdiskussion  vor Gewerkschaftlern gegen einen "Wehrbeitrag" Westdeutschlands.


Otto Brenner, 1954:

"Wir meinen, dass es besser ist, ein Jahr zu verhandeln als auch nur einen Tag Krieg zu führen."

Otto Brenner: "Ausgewählte Reden 1946-1971" (Link)

1955

"Die Opposition hat immer den Grundsatz vertreten: Lieber zehn Jahre verhandeln als einen Tag Krieg führen."

Bulletin des Presse- und Informationsamts der Bundesregierung, 1955, S. 1122 (Link) 

Die Formulierung "Besser zehn Jahre zu verhandeln als eine Stunde zu schießen" taucht erstmals 1955 auf, und wird dem späteren Bundespräsidenten Gustav Heinemann zugeschrieben, der in den Jahren 1949-1950 Inneminister war:

1955, Frankfurter Allgemeine Zeitung:

  • [Ein unbekannte Person zitierte zum Thema Wiederbewaffnung in einem Kölner Mittwochsgespräch] "den früheren Innenminister Dr. Heinemann, der einmal gesagt habe, es sei besser, zehn Jahre zu verhandeln als eine Stunde zu schießen."
    FAZ, 22. April 1955, S. 3 (Link)

 1955, Günther Stiff:

"Besser 50 Jahre verhandeln als einen Tag schießen! Ganz meine Meinung! Aber die Sowjets rüsten seit 35 Jahren unentwegt zur Revolution."

Günter Stiff in: Solidarität. September 1955, S. 7 

 Auch der damalige CSU-Landesverteidigungsminister Franz Josef Strauß bekennt sich zu der Losung der Opposition: "Lieber zehn Jahre verhandeln, als einen Tag Atomkrieg führen!"

1958

Landesverteidigungsminister Franz Josef Strauß:
"Zu der Frage „verhandeln oder nicht" habe ich mich schon geäußert. Selbstverständlich verhandeln! Ich begehe keine Fahnenflucht und brauche auch nachher kein pater peccavi zu sagen, wenn ich ein Wort aufgreife, das aus Ihren Reihen kommt: Lieber zehn Jahre verhandeln, als einen Tag Atomkrieg führen! Darüber, glaube ich, gibt es gar keine Meinungsverschiedenheit."

1959

"Einem alten Sprichwort zufolge ist es besser, drei Jahre zu prozessieren und zu verhandeln, als einen Tag Krieg zu führen." (Link)

Der einflußreiche westdeutsche Gewerkschafter Otto Brenner wurde in der DDR auch mit folgenden Worten zitiert:

1963

 "Jedes begrenzte Abkommen und die schwierigsten, ja die längsten Verhandlungen sind besser als eine einzige explodierende Atombombe." (Link)

1968

"Unsere Politik war immer darauf gerichtet, den Krieg zu verhindern, heute, morgen und in alle Ewigkeit. Wir wollen lieber hundert Jahre verhandeln als einen Tag Krieg führen. Aber wenn wir verhandeln wollen, dann müssen wir so stark sein, daß wir überhaupt wirkungsvoll verhandeln können."
Bundestag

In Walter Höllerers Roman "Die Elephantenuhr" kommt in einem Selbstgespräch des Erzählers der Satz, "redet tausendmal zu einander! es ist besser als einmal geschossen" vor. 

Walter Höllerer: "Die Elephantenuhr"

1973

"Und ihr, beide Hälften des Gehirns, streckt die Fühler aus, befühlt euch, beide Hälften! redet, Hälften! und hört euch geduldig zu, und wenn ihr hundertmal dringlich und überzeugend dasselbe gesagt zu haben glaubt: sagt es zweihundertmal dringlich und überzeugend; geduldig; und wenn ihr tausendmal seufzt über Nicht-Verstehen, seufzt, und fangt wieder von vorn an: redet tausendmal zu einander! es ist besser als einmal geschossen"


Walter Höllerer: "Die Elephantenuhr", Suhrkamp, Frankfurt am Main: 1973, S. 399 (Link)

 1973 

Ein anonymer SPIEGEL-Rezensent von Walter Höllerers Roman "Die Elephantenuhr" zählt den Satz "miteinander zu reden sei besser als aufeinander zu schießen " zu den Banalitäten des Romans. Der Rezensent hat Höllerers Satz allerdings paraphrasiert.

  •  "So fällt es schwer, in dieser gedankenvollen und sprachaufwendigen Prosa -- die allerdings auch Banalitäten bietet wie die Mahnung an die »gespaltenen« Deutschen, miteinander zu reden sei besser als aufeinander zu schießen -"
     DER SPIEGEL 29/1973,
    15. Juli 1973 (spiegel.de)

 

1981 wird Helmut Schmidt im Zusammenhang mit dem Zitat das erste Mal erwähnt. Wodurch Schmidt zu dem Zitat wirklich angeregt wurde, wissen wir nicht.

Timothy  Garton Ash:

"Bezeichnend für diese Flitterwochen in den Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten ist ein Lieblingssatz von Helmut Schmidt: 'Besser tausendmal miteinander reden als einmal aufeinander schießen.'

Er muß Brecht gelesen haben: 'Wenn sie nicht miteinander sprechen, werden sie aufeinander schießen.'" 

 Timothy  Garton Ash: "'Und willst du nicht mein Bruder sein--' Die DDR heute." Aus dem Englischen übersetzt von Yvonne Vesper-Badal. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg: 1981, S. 34f. (Link)

1983

"Lieber 1000 Stunden verhandeln, als einen Augenblick schießen."

"Sowjetische Macht und westliche Verhandlungspolitik im Wandel militärischer Kräfteverhältnisse." Uwe Nerlich (Hg.)   (Link)
 
 Auch Erich Honecker, der zur Zeit der Kanzlerschaft Helmut Schmidts führende DDR-Politiker, bekannte sich zu dem pazifistischen Grundsatz:
 

Erich Honecker:

1986

"Es bleibt bei unserem Standpunkt, daß es besser ist, zehnmal, ja hundertmal miteinander zu verhandeln, als auch nur einmal aufeinander zu schießen."

Erich Honecker, Rede des Generalsekretärs, Freiheit, 14. August 1986, S. 3 (genios.de)

Im Jahr 1994 wurde dieser "1. Hauptsatz des Pazifismus" kritisiert, weil er verhindere, dass den Leidtragenden der jugoslawischen Zerfallskriege militärisch geholfen wird und deswegen noch viel mehr sterben würden.

1994

" ... 1. Hauptsatz des Pazifismus zu demonstrieren: Lieber 1000 Stunden verhandeln als 1 Stunde schießen."

Criticon 24. Jg, Nr. 141-144, 1994, S. 6 (Link) [Autor noch unbekannt]

 Zwei Jahre vor seinem Tod wird das Zitat Helmut Schmidt in einer etwas veränderten Version zugeschrieben.

Am 30. August 2013 berufen sich die Sozialdemokraten Peer Steinbrück  und Sigmar Gabriel scheinbar unabhängig voneinander auf dieses Motto Helmut Schmidts, als sie in Interviews und auf einer Pressekonferenz vor einem militärischen Eingreifen des Westens in Syrien warnen.

Sigmar Gabriel, 30. August 2013:

"Es gilt das alte Motto von Helmut Schmidt: Hundert Stunden verhandeln ist besser als eine Minute Schießen."
Sigmar Gabriel: „Merkel versucht es nicht einmal“ Interview, TAZ, 30. August 2013 (Link)

Peer Steinbrück, 30. August 2013:

"SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück, der erst am Vortag der Hauptstadtpresse sein 100-Tage-Programm präsentiert hatte, tritt am Vormittag vor die Kameras, um einen Sechs-Punkte-Plan für Syrien zu präsentieren. Es sei falsch gewesen, beginnt Steinbrück, dass nach dem 'Zivilisationsverbrechen' des Giftgaseinsatzes in Syrien 'sehr schnell einer militärischen Logik Raum gegeben' worden sei.
 [...]

Er beruft sich vielmehr auf Altkanzler Helmut Schmidt. Er sei Anhänger von dessen Maxime: 'Hundert Stunden Verhandlungen sind besser als eine Minute Schießen.'"

" Süddeutsche Zeitung", 31. August 2013 (sueddeutsche.de)

Seit dem September 2013 wird diese Maxime mit kleinen Varianten oft zitiert, besonders oft seit dem Krieg Russlands gegen die Ukraine.

2014

  • "ganz im Sinne von Helmut Schmidt, der einst formulierte: 'Lieber hundert Stunden umsonst verhandeln, als eine Minute schießen.'"

Thomas Jurk (SPD) in: Deutscher Bundestag, Plenarprotokoll, 10. September 2014 (Link)

 

Die Verhandlungsdauer im Zitat variiert: 2 Jahre, 1 Jahr, 10 Jahre, 50 Jahre, 100 Jahre, 1000 Stunden oder 100 Stunden.

Die Dauer des zu vermeidenden Krieges / Schießens verringert sich im Lauf der Jahre von einem Tag über eine Stunde zu einer Minute.

Es könnte durchaus sein, dass auch Helmut Schmidt sich im Laufe der Jahre zu seinem  Grundsatz nicht immer im selben Wortlaut bekannte.


 

Artikel in Arbeit.

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Quellen:

Bertolt Brecht: Offener Brief an die deutschen Künstler und Schriftsteller, in: "Worte wider Waffen. Schriftsteller mahnen zum Frieden." Willi Weismann Verlag, München: [1951], S. 7f. (Link)

Bruno Rothe: "Der Frieden ist keine 'Fata Morgana'" Freiheit, 17. Oktober 1951, S. 4 (genios.de)
Otto Brenner in: Christoph Butterwegge, "Friedenspolitik in Bremen nach dem Zweiten Weltkrieg, 1989, S. 116, fn. 77

Otto Brenner: Ausgewählte Reden 1946-1971, Steidl, 2007, S. 74 und 102 (Link)

"Für und wider offizielle Gespräche. Das Thema Wiederbewaffnung im Kölner Mittwochsgespräch."  Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22. April 1955, S. 3 (Link)

Günter Stiff in: Solidarität. Monatsschrift für gewerkschaftl. Jugendarbeit - Band 5 - Nr. 9, September 1955, S. 7 

 "Sowjetische Macht und westliche Verhandlungspolitik im Wandel militärischer Kräfteverhältnisse." Uwe Nerlich (Hg.)  Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden: 1983, S. 431 (Link)

Rede des Generalsekretärs des Zentralkomitees der SED und Vorsitzenden des Staatsrates der DDR Erich Honecker, auf dem Kampfappell der Kampfgruppen der Arbeiterklasse am 13. August 1986, in: Freiheit, 14. August 1986, S. 3 (genios.de)
"Texte zur Deutschlandpolitik. Reihe III / B and 4 - 9. Januar 1986 - 31. Dezember 1986. Bundesministerium Für Innerdeutsche Beziehungen (Hrsg.) Bonn: 1987, S. 369 
(Link)

"Ticken zu hören. Der Lyriker und Literaturprofessor Walter Höllerer, 50, hat seinen ersten Roman veröffentlicht -- über 20 Jahre nachdem er ihn begonnen hatte." DER SPIEGEL 29/1973, 15. Juli 1973 (spiegel.de)

Criticon 24. Jg, Nr. 141-144, 1994, S. 6 (Link) [Autor noch unbekannt]

Sigmar Gabriel: „Merkel versucht es nicht einmal“ Interview, TAZ, 30. August 2013 (Link)  
Daniel Brössler: "Deutsche Haltung zu Syrien: Wenn 24 Stunden alles verändern." Süddeutsche Zeitung, 31. August 2013 (sueddeutsche.de)
Thomas Jurk (SPD) in: Plenarprotokoll 18/50 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 50. Sitzung Berlin, Mittwoch, den 10. September 2014 (Link)

Die Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-Stiftung (@BKHS_Stiftung) schrieb zu dem Fall am 16. Februar 2023 auf Twitter:

  • "Wir konnten das Zitat anhand von Quellen bisher nicht belegen. Es gibt zwar Hinweise von Ohrenzeugen, die Schmidt in Besprechungen diese Worte sagen hörten, einen schriftlichen Nachweis kennen wir jedoch noch nicht." (twitter)
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Dank:

Ich danke Armin Wolf für die Frage nach Belegen für das Zitat und bin Arno Tator, Bernd-Christoph Kämper und Ralf Bülow fü
r ihre Recherchen und vielen Funde zu großem Dank verpflichtet.


Letzte Änderung: 17/2 2023.