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Donnerstag, 25. November 2021

"Die Leute sagen immer: Die Zeiten werden schlimmer. Die Zeiten bleiben immer. Die Leute werden schlimmer." Joachim Ringelnatz (angeblich)

Pseudo-Joachim-Ringelnatz-Zitat (Facebook, SWR2, 17/11 2021).

Dieses alte Sprichwort stand schon im 18. Jahrhundert in Schulbüchern und wurde seitdem  in vielen Zeitungen und Büchern immer wieder zitiert und erst im 21. Jahrhundert wird es fälschlich Joachim Ringelnatz zugeschrieben.

 Die früheste Variante dieses Sprichworts hat Moritz Jacob in einer 1698 erschienenen Sammlung von hundert aus "welschen Lust- und Schauspielen" ausgewählten Sprichwörtern gefunden.

Diese Sprichwörtersammlung steht in einem Gedichteband des Pädagogen, Philologen und Schuldramatikers Christian Gryphius, der heute noch weniger bekannt ist als sein Vater, der Barockdichter und Dramatiker Andreas Gryphius.

 

Christian Gryphius: "Hundert aus welschen Lust- und Schauspielen genommene Sprüch-Wörter", Nr. 91:

1698

  • "Es heisset nunmehr immer/
    Die Welt wird täglich schlimmer;
    Doch nein: die Welt bleibt immer/
    Die Menschen werden schlimmer.
  • Christiani Gryphii: "Poetische Wälder" 1698, S. 833 (Link)

Im Jahr 1712 taucht eine Variante des Sprichworts in einem Poetischen Handbuch für Anfänger als Beispiel für Alexandrinische Verse auf, die als "Jambische Verse mit sechs Füssen oder Tritten" bezeichnet werden:

1712

  • "Man saget insgemein, die Welt wird täglich schlimmer:
    Ich halt es nicht davor, mich deucht die Welt bleibt immer,
    Das aber ist gewiß, die Menschen werden schlimmer."
Johann Hübners Neu-vermehrtes Poetisches Hand-Buch,1712, S. 42 (Link).

1751
  • "gemäß dem gemeinen Sprüchlein: man saget noch immer, die Zeiten werden schlimmer. Nein: nein: Die Menschen seynd schlimmer, die Zeiten bleiben immer". 1751 (Link)

1773


[Schulbuch:] "Sammlung von prosaischen und poetischen Mustern in deutscher Sprache" 1773, S. 52 (Link)

1840

Der Humorist, von M.G. Saphir, 4. Jg, Nr. 232, 19. November 1840, S. 950 (Link)


Der angebliche Spruch eines gelehrten Poeten wurde auch an der Wand eines Bauernhauses im sächsischen Erzgebirge gesehen:


1854

Ansbacher Morgenblatt, Nr. 26, 25. Juni 1854, Sonntagsbeigabe (Link)

 

In dem Standardwerk "Deutsches Sprichwörter-Lexikon" hat Karl Friedrich Wilhelm Wander das Sprichwort ohne Zuschreibung an eine Autorin in folgender Variante aufgenommen:

  • "Die Menschen denken immer, die Zeiten würden schlimmer; die Zeiten bleiben immer, die Menschen werden schlimmer."
    Wander: "Deutsches Sprichwörter-Lexikon", 1873, S. 604 (Link)

 

Der genaue Wortlaut des Spruchs, der Joachim Ringelnatz heutzutage untergeschoben wird, war schon mehr als drei  Jahrzehnte vor seiner Geburt auf deutschen Hausmauern verbreitet:

1855

  • "Die Leute sagen immer
    Die Zeiten werden schlimmer;
    Die Zeiten bleiben immer.
    Die Leute werden schlimmer."

    Ernst Meier: "Schwäbische Volkslieder ..." 1855, Kapitel: "Sprüche an Häusern", Nr. 13, S. 266f. (Link)

Kuckuckszitat:

2009 

Die falsche Zuschreibung an den 1934 verstorbenen Autor, Maler und Kabarettisten Joachim Ringelnatz taucht erstmals im Jahr 2009 in den Sozialen Medien auf und wird bald auch von Zitate-Sammlungen und Zeitungen übernommen.

Ein Beispiel:

2018

  • "Wie zeitlos die Texte von Ringelnatz sind und wie sehr sie gerade auch in unsere Zeiten passen, zeigt ein Aphorismus, mit dem Kaiser und Wegscheider den Abend beschlossen. 'Die Leute sagen, die Zeiten werden schlimmer - die Zeiten bleiben immer - die Leute werden schlimmer', heißt das Resümee des hellsichtigen Ringelnatz."
    Süddeutsche Zeitung, 6. August 2018 (Link)

Es ist bei dieser Quellenlage sehr unwahrscheinlich, dass Joachim Ringelnatz jemals das alte Sprichwort zitiert hat, geprägt hat er es sicher nicht.


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Quellen:

Christiani Gryphii: "Poetische Wälder" Verlegts Christian Bauch, Franckfurt und Leipzig: 1698, S. 833 (Link)
Johann Hübner: "Johann Hübners Neu-vermehrtes Poetisches Hand-Buch, Das ist, Eine kurtzgefaste Anleitung zur Deutschen Poesie, Nebst einem vollständigen Reim-Register, Den Anfängern zum besten zusammen getragen". Joh. Friedrich Gleditsch und Sohn, Leipzig: 1712, S. 42 (Link)
Sammlung von prosaischen und poetischen Mustern in deutscher Sprache, (Schulbuch) J.J. Stabel,  Wirzburg: 1773, S. 52 (Link) 
Der Humorist, von M.G. Saphir, 4. Jg, Nr. 232, 19. November 1840, S. 950 (Link)
Karl Friedrich Wilhelm Wander: "Deutsches Sprichwörter-Lexikon. Ein Hausschatz für das deutsche Volk." Dritter Band - Lehrer bis Satten, F. A. Brockaus, Leipzig: 1873, S. 604 (Link)  
 Schwäbische Volkslieder mit ausgewählten Melodien. Aus mündlicher Ueberlieferung gesammelt von Ernst Meier, Verlag von Georg Reimer, Berlin: 1855, Kapitel: "Sprüche an Häusern", Nr. 13, S. 266f. (Link)
Sonntags-Blatt für Gewerbe, Industrie, Handel und geselliges Leben, Nr, 2, 9. Jänner 1859 (Link)
Renate Zauscher: "Hintersinniger Ernst: Tina-Nicole Kaiser und Jürgen Wegscheider widmen sich dem oft unterschätzten Literaten Joachim Ringelnatz" Süddeutsche Zeitung, 6. August 2018 (Link)

 

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Dank:

Ich danke Moritz Jacob für die Aufdeckung dieses Kuckuckzitats und für seine Recherchen zu dessen Ursprung. 



Artikel in Arbeit.