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Donnerstag, 16. März 2023

"Über das Leben der meisten Menschen läßt sich nur sagen, daß sie sehr, sehr lange nicht gestorben sind.“ Karl Kraus (angeblich)

Dieser Satz wird seit über 20 Jahren in einigen Zitatlexika Karl Kraus zugeschrieben, ist aber in seinen Schriften nicht zu finden.

Wie der Germanist Andreas Weigel herausgefunden hat, stammt das Zitat aus Hans Wollschlägers 1982 erschienenem Roman "Herzgewächse oder Der Fall Adams", auf Seite 59.

Die falsche Zuschreibung von Hans Wollschlägers Satz wurde noch zu seinen Lebzeiten im Jahr 2001 begonnen und war auch in einem seiner Nachrufe am 21. Mai 2007 zu lesen: 

  • "Denn Hans Wollschläger zählt gewiss nicht zu den Meisten, so wie er Karl Kraus in »Herzgewächse« zitiert: »und über das Leben der Meisten wäre auch nach dem spätesten Ende nichts weiter auszusagen, als daß sie sehr lange nicht gestorben sind.«" 
    "Hans Wollschläger ist tot" 
    (Link)

Das Kuckuckszitat ist wahrscheinlich deswegen entstanden, weil kurz vor diesem Satz Wollschlägers in seinem Roman 'Herzgewächse'  der Aphorismus "Man lebt nicht einmal einmal" von Karl Kraus zitiert wurde.

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Quellen:

Hans Wollschläger: "Herzgewächse oder Der Fall Adams. Fragmentarische Biographik in unzufälligen Makulaturblättern", Erstes Buch, Haffmans Verlag, Zürich: 1982, S. 59

Karl Kraus: "Die Fackel" Nr. 198, 12. März 1906, S. 3 (Link)

Johannes Thiele: "Das österreichische Zitatenlexikon." Styria, Graz: 2001, S. 200 (Link)
Karl Weidinger: "Kaweis Werbegang. Die Verhaftung der Dunkelheit wegen Einbruchs", Band 1. Uhudla Edition, Wien: 2003 (Link) [Zitiert nach Andreas Weigel]
"Hans Wollschläger ist tot" 21. Mai 2007 (literaturcafe.de)

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Dank:
Ich danke Andreas Weigel für die Aufdeckung des Kuckuckszitats.

Donnerstag, 28. April 2022

51 falsche Karl-Kraus-Zitate.

 

51 Pseudo-Karl-Kraus-Zitate:

  1. "Das Niveau ist hoch, aber leider ist niemand drauf."
  2.  "Der echte Wiener ist aus Schleim gemeißelt." 
  3. "Der Österreicher blickt voller Zuversicht in die Vergangenheit."
  4.  "Der Unglückliche ist häßlich, besonders wenn er lacht."   
  5. "Die Gedankenfreiheit haben wir. Jetzt brauchen wir nur noch die Gedanken." 
  6.  "Das Gegenteil von gut ist gut gemeint".
  7.  "Die wirklich gefährlichen Heuchler heucheln Desinteresse."
  8. "Der Witz ist das Erdgeschoss des Humors, die Satire der erste Stock, die Ironie der zweite, der Sarkasmus das Mansardenstübchen.“ 
  9. "Ein Druckfehler ist wichtig, weil er den Entdecker stolz macht, dass er ihn gefunden hat."
  10. "Ein Psychiater ist ein Mann, der sich keine Sorgen zu machen braucht, solange andere Menschen sich welche machen.
  11.  "Er sprüht Leder."
  12.  "Es genügt nicht, keine Gedanken zu haben, man muss auch unfähig sein, sie auszudrücken."
  13. "Es gibt Dinge, die so falsch sind, dass nicht mal das Gegenteil wahr ist." 
  14. "Es gibt Thesen, denen man nicht widersprechen kann, ohne sich dumm zu machen." 
  15.  "Früher standen sich die Menschen näher; die Waffen trugen nicht so weit."
  16. "Für einen Mann zählt das Erreichte, einer Frau reicht das Erzählte."
  17. "Größere Gegner gesucht." Inserat von Karl Kraus in der Zeitschrift "Die Fackel"
  18. "Hätten die Salzburger von heute Salzburg erbaut, so wäre bestenfalls Linz daraus geworden."
  19. "Hinaus mit dem Schuft aus Wien!"
  20. "Hüten wir uns davor, aus Schaden dumm zu werden."
  21.   "Ich blieb stumm; und sage nicht, warum."
  22. "Ich bin kein Huhn, aber ich weiss, wann ein Ei faul ist."
  23.   "Ich kann kein Ei legen, aber ich weiß, wann eines faul ist.“ 
  24. "In Österreich ist öfters schon alles drunter und drüber und schließlich doch ins Burgtheater gegangen."
  25.   "In der großen Politik geht es genau so zu, wie es sich der kleine Moritz vorstellt."
  26.   "In zweifelhaften Fällen entscheidet man sich für das Richtige."
  27. "Jeder Roman ist zu lang." 
  28.  "Kaffeefahrten nach Verdun."
  29.  "La ley básica del capitalismo es tú o yo, no tú y yo."
  30. "Man muss nicht Ochse sein, um Rindfleisch beurteilen zu können."
  31.  "Manche Aussagen sind so falsch, dass nicht einmal das Gegenteil wahr ist."
  32.  "Mein Herr, wenn Sie nicht schweigen, werde ich Sie zitieren." 
  33. "Österreich ist das einzige Land, das aus Erfahrung dümmer wird."
  34.  "People will believe anything if you whisper it."
  35. "Psychoanalyse ist die Kunst, von einem Patienten das ganze Jahr zu leben." 
  36.  "Sah ein Knab' ein Höslein weh'n, - Höslein unter'm Kleide!"
  37.  "Sich-vorwärts-Tasten am Seil der Sprache."
  38.  "Sie haben nicht einen Gedanken, doch sie sind in der Lage, ihn zu Papier zu bringen - so wird man Journalist."
  39.  "Tapping along the guiding rope of language."
  40.  "The basic law of capitalism is ‘you or me’, not ‘you and me'."
  41.  "The trouble with Germans is not that they fire shells, but that they engrave them with quotations from Kant."
  42. "Von meiner Stadt verlange ich: Strom Wasser und Kanalisation. Was die Kultur anbelangt, die besitze ich bereits."
  43. "Wacker wacker, kleiner Kacker!"
  44.  "Was Deutschland und Österreich trennt, ist die gemeinsame Sprache."  
  45.  "Was trifft, trifft auch zu."
  46.  "Wenn die Sonne der Kultur niedrig steht, werfen selbst Zwerge lange Schatten."
  47.  "Wenn die Welt untergeht, dann gehe ich nach Wien. Dort passiert alles zehn Jahre später."
  48.  "Wer den menschen die vorstellungskraft nimmt macht sie blind."
  49.  "When the sun of culture is low, even dwarves will cast long shadows." 
  50.  "Wien bleibt Wien, das ist die fürchterlichste aller Drohungen."
  51.  "Zu Hitler fällt mir nichts ein."


Letzte Änderungen: August 2018; April 2021

Dienstag, 23. Februar 2021

"Was nicht trifft, trifft auch nicht zu." Elazar Benyoëtz (Fälschlich oft Karl Kraus zugeschrieben.)

Der Aphorismus "Was nicht trifft, trifft auch nicht zu" stammt von dem österreichisch-israelischen Lyriker und Aphoristiker Elazar Benyoëtz, wie Bernd-Christoph Kämper und M. Wollmann herausgefunden haben.

Mit der falschen Zuschreibung an Karl Kraus hat anscheinend Sozialwissenschaftler  Oskar Negt begonnendie Journalisten Henryk M. Broder und Jan Fleischhauer bevorzugen eine krassere Fassung des falschen Karl-Kraus-Zitats: "Was trifft, trifft auch zu"

Das inzwischen beliebte angebliche Karl-Kraus-Zitat ist weder so noch so ähnlich in den Schriften von Karl Kraus zu finden.

 

Kurze Geschichte des Kuckuckszitats:

Elazar Benyoëtz hat das Zitat in seinem Buch "Worthaltung. Sätze und Gegensätze" 1977 im Münchner Carl Hanser Verlag veröffentlicht: 

1977
  • "Was nicht trifft, trifft auch nicht zu." 
    Elazar Benyoëtz: "Worthaltung. Sätze und Gegensätze." 
    Hanser, München: 1977, S. 9 (Link)
Hans Weigel rezensierte dieses Buch Elazar Benyoëtzs in der FAZ
1977 mit einem Hinweis auf Karl Kraus:
  • "Von naheliegender Beeinflussung durch Karl Kraus (den er gewiß kennt) hält er sich weitgehend fern. Nur ganz wenige seiner Sätze könnten von Kraus sein ('Was nicht trifft, trifft auch nicht zu')." (Link)
Die Feststellung von Hans Weigel in der FAZ, der Aphorismus könnte von Karl Kraus sein, hat vielleicht dazu geführt, dass Oskar Negt und einige andere später irrtümlich meinten, der Aphorismus sei tatsächlich von Karl Kraus. 

Schon ein Jahr nach der Publikation des Aphorismus wird er fälschlich Karl Kraus zugeschrieben:

1978

  • "Karl Kraus hat einmal gesagt: 'Was nicht trifft, trifft auch nicht zu.' Die polemische Schärfe der Kritik ist es nicht, die mich bedrückt."
    "Arbeiterbildung: soziologische Phantasie u. exemplarisches Lernen in Theorie, Kritik u. Praxis." Hrsg. von Oskar Negt, Hans-Dieter Müller und Adolf Brock, Rowohlt, rororo Sachbuch, Reinbek bei Hamburg: 1978, S. 84  (Link)

1984

  • "Wenn Karl Kraus sagt: 'Was nicht trifft, trifft auch nicht zu', dann meint er genau diese durch parteilichen Eingriff in die Verhältnisse vermittelte Wahrheitsfindung."
    Oskar Negt: "Lebendige Arbeit, enteignete Zeit: politische und kulturelle Dimensionen des Kampfes um die Arbeitszeit" Campus Verlag, Frankfurt /New York: 1984, S. 14 (Link)

1987

  • "Dem Satz von Karl Kraus: 'Was nicht trifft , trifft auch nicht zu', gebe ich einen hohen Erkenntniswert."
    Das Argument, Band 29, 1987, Nr. 164-166, S. 495 (Link)

1993 behauptete Oskar Negt in einer Laudatio im SPIEGEL, Rudolf Augstein sei ein "Geistesverwandter" von Karl Kraus und beiden gemeinsam sei das von Kraus formulierte Prinzip: "Was nicht trifft, trifft auch nicht zu". (Link)

 1995

  • "Karl Krauss (!), gewiß einer der schärfsten Zuspitzer und galligsten Kritiker der bürgerlichen Gesellschaft , hat einmal gesagt: 'Was nicht trifft , trifft auch nicht zu.'" S. 134 (Link)

2007 verteidigt Henryk M. Broder mit diesem Pseudo-Karl-Kraus-Zitat die Moderatorin Eva Herman, allerdings in der Variante: "Was trifft, trifft auch zu" -, und 2010 verteidigt er damit Thilo Sarrazin im SPIEGEL gegen den Vorwurf, rassistisch zu argumentieren.

Den Angestellten des vielgerühmten SPIEGEL-Archivs fällt weder auf, dass der SPIEGEL im Abstand von 14 Jahren zwei verschiedene Versionen des angeblichen Kraus-Zitats druckte, noch, dass beide Versionen in den Schriften von Karl Kraus nicht zu finden sind.

Pseudo-Karl-Kraus-Zitat.

 


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Quellen:
Elazar Benyoëtz: "Worthaltung. Sätze und Gegensätze." Hanser, München: 1977 (Link)
Markus M. Ronner: "Neue treffende Pointen. Ott Verlag, Thun: 1978, S. 272  (Link) [zitiert nach M. Wollmann]
Arbeiterbildung: soziologische Phantasie u. exemplarisches Lernen in Theorie, Kritik u. Praxis. Hrsg. von Oskar Negt, Hans-Dieter Müller und Adolf Brock, Rowohlt, rororo Sachbuch, Reinbek bei Hamburg: 1978, S. 84  (Link)
Oskar Negt: "Lebendige Arbeit, enteignete Zeit: politische und kulturelle Dimensionen des Kampfes um die Arbeitszeit" Campus Verlag, Frankfurt /New York: 1984, S. 14 (Link) 
Das Argument, Band 29, 1987, Nr. 164-166, S. 495 (Link)
Oskar Negt: "Von Menschen und Nachrichten" Der Spiegel 6/1993,  1. November 1993  (Link)
Henryk M. Broder: "Alvin Rosenfeld: Aus kritischer Distanz" 3. März 2007 (henryk-broder.com)
Henryk M. Broder: "Thilo und die Gene. Streitfall Sarrazin: Haben eigentlich alle dasselbe Zeug gekifft?" Der Spiegel, 36/2010, 6. September 2010 (SPIEGEL)
Jan Fleischhauer: "Der Schwarze Kanal: Was Sie schon immer von Linken ahnten, aber nicht zu sagen wagten." Rowohlt, Reinbek bei Hamburg: 2012, digitalbuch (Link)
Henryk M. Broder: "Nehmt Euch in Acht vor den Propagandamedien!"  4. Mai 2016  (achgut.com) 

WikiMANNia



 

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Dank:

Tobias Blanken und Michael Gunzcy verdanke ich den Twitter-Hinweis auf dieses Falschzitat, M. Wollmann und Bernd-Christoph Kämper den Hinweis auf Elazar Benyoëtz.

 

Artikel in Arbeit. Geändert:  15/3 2021; 15/12/2022 (Zusatz Benyoëtz).

Montag, 30. November 2020

"Psychoanalyse ist die Kunst, von einem Patienten das ganze Jahr zu leben." Karl Kraus (angeblich)

Pseudo-Karl-Kraus-Zitat.

Karl Kraus hat einige Aphorismen gegen die Psychoanalyse verfasst, aber dieser Witz, der laut Soma Morgenstern noch zu Lebzeiten Sigmund Freuds in Wiener Ärztekreisen gut bekannt war, stammt nicht von dem Satiriker.

Erst im 21. Jahrhundert wurde dieser von einer unbekannten Person geprägte Ärztewitz Karl Kraus untergeschoben. 

Die Online-Zitatsammlung aphorismen.de gibt als Quelle für das Kuckuckszitat Karl Kraus' 1909 erschienene Aphorismus-Sammlung "Sprüche und Widersprüche" an, aber diese Quellenangabe ist falsch, wie man leicht überprüfen kann, da dieses Buch von Karl Kraus mehrfach digitalisiert ist (textlog.de).  

Das Zitat ist weder so noch so ähnlich in einem Text von Karl Kraus zu finden.

Die falsche Zuschreibung ist vielleicht im Jahr 2009 in einem Internet-Forum enstanden, aber inzwischen wird das Zitat nicht nur in den Sozialen Medien verbreitet, sondern zum Beispiel auch von einem Schriftsteller wie Peter Schneider, obwohl er im selben Artikel die Verwendung eines falschen Karl-Kraus-Zitats kritisiert:

 2017

  • "Krausens bekanntestes Diktum lautet, dass die Psychoanalyse die Geisteskrankheit sei, für deren Therapie sie sich hält. Ein anderes: Sie sei mehr eine Leidenschaft als eine Wissenschaft. Am besten von den paar einschlägigen Äusserungen Kraus’ gefällt mir: «Psychoanalyse ist die Kunst, von einem Patienten das ganze Jahr zu leben.» "
    27. April 2017 (tagesanzeiger.ch)

 

 

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Quellen:

Google

Karl Kraus: "Die Fackel", 37 Jahrgänge, Nr. 1-917, 1899-1936, digitale Edition: Österreichische Akademie der Wissenschaften, AAC DIE FACKEL    

Karl Kraus: "Sprüche und Widerspüche", in: Karl Kraus: Schriften. Herausgegeben von Christian Wagenknecht. Band 1–20. Suhrkamp, Frankfurt: 1986–1994. Band 8, Aphorismen, Suhrkamp Verlag: 1987 (Link) (textlog.de) 

7. Januar 2009 dict.leo.org/forum,  Verfasser Heinz H (243376)  Früheste falsche Zuschreibung.

27. April 2017, (tagesanzeiger.ch), auch in: Peter Schneider: "Nichts Genaues weiss man nicht: Kolumnen", Zytglogge Verlag, Basel: 2018 ebook (Link)

aphorismen.de - 175911

Soma Morgenstern: "Kritiken, Berichte, Tagebücher" zu Klampen, Lüneburg: 2001, S. 151  (books.google) 

 

 

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ANHANG


 

Mittwoch, 25. November 2020

"Für einen Mann zählt das Erreichte, einer Frau reicht das Erzählte." Karl Kraus (angeblich)

Pseudo-Karl-Kraus-Zitat.

 Dieses misogyne Bonmot wurde Karl Kraus erst im 21. Jahrhundert untergeschoben und ist weder so noch so ähnlich in seinen Schriften enthalten.


Pseudo-Karl-Kraus-Zitat.

Entstanden ist das Kuckuskzitat wahrscheinlich als Variante des Politikerwitzes "Nicht das Erzählte reicht, sondern das Erreichte zählt", den der deutsche Kabarettist Ingo Börchers seit 2003 auf dem Programm hat. 

Der Witz kommt auch in dem im Jahr 2006 entstandenen Stück "fremd" des österreichischen Kabarettisten Alfred Dorfer vor.

Bonmot, das Alfred Dorfer zitiert.

 

Artikel in Arbeit.

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Quellen:

Google

genios.de/ 

Karl Kraus: "Die Fackel" 1899-1936, Österreichische Akademie der Wissenschaften, AAC (DIE FACKEL

Dietmar Bittrich: "Böse Sprüche für Sie und ihn" Mit Illustrationen von Thomas August Günther. dtv, München: 2004, Kapitel: November, 15 ebook (Link)

 

 

 

 


Samstag, 9. Mai 2020

"Hüten wir uns davor, aus Schaden dumm zu werden." Karl Kraus (angeblich)

Pseudo-Karl-Kraus-Zitat.
Karl Kraus hat in den 36 Jahrgängen der 'Fackel' das alte Sprichwort "durch Schaden wird man klug" oft verwendet und oft variiert, aber die Maxime "Hüten wir uns, aus Schaden dumm zu werden"  stammt in diesem Wortlaut nicht von ihm, sondern aus einer Interpretation seiner Gedanken.

Entstanden ist das Falschzitat vielleicht aus folgenden Sätzen:


1998
  • "Andererseits dürfen wir nicht, wie Karl Kraus formulierte, 'aus Schaden dumm werden'."

    Herbert A. Henzler, Lothar Späth: "Die Zweite Wende: Wie Deutschland es schaffen wird."  (Link)
 2002
  • "Wir sollten uns deshalb davor hüten, 'aus Schaden dumm zu werden', wie es Karl Kraus einmal formulierte."

    Dirk Maxeiner, Michael Miersch: "Die Zukunft und ihre Feinde
    : wie Fortschrittspessimisten unsere Gesellschaft lähmen" (Link)
Die von Karl Kraus geprägte Wendung 'aus Schaden dumm zu werden'  wurde mit einem Ratschlag verknüpft, der in dieser Form nicht von Karl Kraus stammt.

Vor dem Jahr 1998 ist das angebliche Karl-Kraus-Zitat in den digitalisierten Texten von Google Books oder der Österreichischen Akademie der Wissenschaften unauffindbar.


Frühe Beispiele für das Falschzitat:


2007
  • "Hier gilt, was Karl Kraus zum Thema auf den Punkt brachte: 'Hüten wir uns davor, aus Schaden dumm zu werden.' "
    Wolf Lotter: "Fehlanzeige", brand eins, 2007 (Link)  
2007

  -

2017

  •  "Die Welt braucht gerade nicht die Verspannten, sondern die Lockeren. Dazu muss man vielleicht über seinen Schatten springen, auch wenn der rechteckig ist. Vielleicht hilft ein echter Karl Kraus dabei: 'Hüten wir uns, aus Schaden dumm zu bleiben.'"

    Wolf Lotter, Wiener Zeitung, 2017 (Link)

Artikel in Arbeit.

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Quellen:

Google
fackel.oeaw.ac.at
Wolf Lotter: "Fehlanzeige", brand eins, 2007 (Link)
Wolf Lotter: "Die Zweifelsfreien", Wiener Zeitung, 21. September 2017 (Link)
derstandard.at/  13/09 2007 
yearofplanetearth.org . Pressrelease , rondo 14/09 2007, S. 6
Dirk Maxeiner, Michael Miersch: "Die Zukunft und ihre Feinde: wie Fortschrittspessimisten unsere Gesellschaft lähmen", Eichborn: Frankfurt: 2002, S. 189  (Link)
Herbert A. Henzler, Lothar Späth: "Die Zweite Wende: Wie Deutschland es schaffen wird." Beltz Quadriga, Weinheim und Berlin: 1998, S. 75 (Link)
G.K.: "Österreich ist das einzige Land, das aus Erfahrung dümmer wird." 



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 Dank:

Ich danke Georg Koder für seine Frage zu diesem Falschzitat.



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Anhang

Karl Kraus, "Die Fackel", 1901-1936


  • 1901
    "dass Herr Salten selbst durch Schaden nicht klug geworden ist."
    fackel.oeaw.ac.at/F/086,020
  • 1908
    "Der Klügere gibt nach, aber nur einer von jenen, die durch Schaden klug geworden sind."
    https://fackel.oeaw.ac.at/index.html?q=267,043
  • 1919
    "Die einzige Konsequenz, deren der hiesige Menschenschlag, geschaffen, durch Schaden dumm zu werden, doch fähig ist, ist die, ihn noch einmal zu erfahren. Hat er stets über dem Heute das Morgen vergessen, so vergißt er nun das Gestern fürs Vorgestern." https://fackel.oeaw.ac.at/F/514,023
  • 1919 
    "Aber die uns in den Abgrund geführt haben, sind uns dennoch zu früh entrückt: sie hätten uns, als die unverkennbaren Exponenten des Jammers, noch ein Weilchen, noch bis in die unterste Tiefe begleitenund dann erst verlassen sollen, damit eine Welt, die durch Schaden dumm wird, ohne Sehnsucht nach ihnen hinsterbe und ohne den Drang, sie noch einmal zu erleben."     https://fackel.oeaw.ac.at/F/519,031  
  • 1920
    "Es ist wohl ein physikalisches Gesetz dieser unrettbaren, durch Schaden noch verdummenden Menschheit, daß, wer jeweils obenauf ist, den jeweils Unterlegenen treten muß. Optimisten mögen es Übergangserscheinung nennen — ein Nörgler erkennt es als die des Untergangs. Nur Österreich erscheint ihm nach manchem, was er in acht hiesigen Tagen erfahren hat, nicht untergegangen und er fühlt sich wie einst, wie den ganzen Krieg hindurch, in Österreich als lästigen Ausländer. Er fürchtet vor allem, die Welt werde bald in allen Sprachen deutsch gelernt haben. Nein, preußisch."
     https://fackel.oeaw.ac.at/F/546,022 
  • 1920
    "Ist es nicht die hoffnungsloseste und toteste aller Gewißheiten, unter einer Nation zu leben, die durch Schaden dümmer wird?"
      https://fackel.oeaw.ac.at/F/554,002

  • 1921
    "Verflucht, durch Schaden dumm zu werden, / büßt er nun erst die alten Sünden./ Das dümmste aber ist auf Erden:/ Mit Trotteln Republiken gründen." (Die Republik ist schuld) 
    https://fackel.oeaw.ac.at/F/557,026
  •  1921
    "Kann ihr Geschäft nicht mehr die Einfalt der Untertanen sein, so machts eben die Phantasiearmut, der eine Erfahrung zwar im Augenblick des Erleidens eingeht, die sie aber, durch Schaden verdummend, zweimal zu machen begehrt, um sie auch zu behalten."
    https://fackel.oeaw.ac.at/F/568,006
  • 1924
    "Denn ihre [der Menschheit] Verdummung durch Schaden, die in dem Riesenmaß der Entfernung technischer Errungenschaften von den Ornamenten zunimmt, ist eine so sinnfällige Tatsache, daß es geradezu rätselhaft scheint, wie diese Erfahrung noch kein Sprichwort absetzen mochte; und die gebrannten Kinder stürzen sich in das Feuer nicht anders, als vor dem Automobil die Hühner, in die Gefahr flüchtend, vom sichern Port noch rasch hinüberzukommen suchen."
    https://fackel.oeaw.ac.at/F/657,003
  • 1925
    "Durch Schaden werd’n s’ dumm, können vom Krieg nicht g’nugkriegen; / Und das Volk, sagt der Nestroy, is ein Ries’ in der Wieg’n. / Und der braucht einen Knirps halt zu seinem Herrn. / Mit Gewalt muß der Mensch melancholisch da wer’n!"
    https://fackel.oeaw.ac.at/F/679,044
  • 1930
    "Nun ist es ja schon eine alte Erfahrung, daß überall dort, wo sich die Betriebswelt der schönen Künste, durch Schaden unbelehrt, irgendwie mit mir einlassen will, unfehlbar entweder eine Schweinerei oder eine Dummheit herauskommt."
    https://fackel.oeaw.ac.at/F/827,080
  • 1932
    "Während hüben ein gutartiges Volk das Übermaß der Buße trägt für die Ergebung, mit der es sich von den verbrecherischen Halbkretins einer Doppelmonarchie auf den Kriegspfad führen ließ, hat man drüben — wo man im Stechschritt durchs Leben geht und lieber tot ist als nicht Sklave! — nichts und alles vergessen, verlangt man die Legionen zurück, um sie noch einmal zu verlieren, schwoll der Drang, durch Schaden dümmer zu werden, empor zu der größten nationalen Bewegung, die diese blutige Erde erlebt hat. "
    https://fackel.oeaw.ac.at/F/876,021
  • 1934
    "Denn dieser au fond harmlose, aber eben einer Partei hörige Jahrgang, die durch Schaden frech wird, ..."
    https://fackel.oeaw.ac.at/F/890,286
  • 1936
    "Größer als der Schmerz, den Anhang verloren zu haben, ist die Scham, ihn besessen zu haben! Nicht weil sie frecher geworden sind als sie von Natur waren, sondern weil sie durch Schaden dümmer geworden sind, als von linkswegen erlaubt ist."
    : https://fackel.oeaw.ac.at/F/917,096


(Noch unkorrigiert)

Donnerstag, 30. April 2020

"Der Österreicher blickt voller Zuversicht in die Vergangenheit." Karl Kraus (angeblich)

Seit den 1970er Jahren wird Österreichern nachgesagt, sie blickten 'voller Zuversicht', 'vertrauensvoll', mit 'Optimismus' und 'hoffnungsvoll' in die Vergangenheit. Der Ursprung dieser Redensart ist ungewiss.

Die Variante, "Wir Wiener blicken vertrauensvoll - in unsere Vergangenheit!", hat wahrscheinlich der Wiener Kabarettist Karl Farkas geprägt. Sie wurde 1983 in der Karl-Farkas-Biographie von Georg Markus publiziert, allerdings ohne genaue Quellen- und Datumsangabe. 

Erstmals zugeschrieben wurde das Bonmot Karl Farkas 1974 von Markus M. Ronner in seiner Anthologie: "Die Treffende Pointe: humoristisch-satirische Geistesblitze des 20. Jahrhunderts" (Link), leider auch ohne Quellenangabe.

 Eine Version dieses Bonmots wird seit 30 Jahren Karl Kraus unterschoben, eine andere Version seit 20 Jahren Alfred Polgar. 

Den digitalisierten Texten nach zu schließen wird das Bonmot Alfred Polgar und Karl Kraus immer nur untergeschoben, aber von Karl Farkas könnten meiner Meinung nach noch eine seriöse Quelle dieser fast schon sprichwörtlich gewordenen satirischen Charakterisierung der österreichischen Mentalität gefunden werden.



Doron Rabinovici, SPIEGEL-Gespräch, 5. Mai 2014:


  • "Nach 1945 haben die Österreicher die Vergangenheit nach Deutschland exportiert. Man hat es sich in einem Opfermythos bequem gemacht. Die Erinnerung daran, dass auch Österreicher Täter waren, hat erst 1986 in der Auseinandersetzung um den damaligen Bundespräsidenten Kurt Waldheim und dessen NS-Vergangenheit begonnen. Überspitzt formuliert: Was ist der Unterschied zwischen Deutschland und Österreich? Die Deutschen blicken voller Pessimismus in die Zukunft und die Österreicher voller Optimismus in die Vergangenheit." (Link)



Chronologie der Zuschreibungen:

1974 - Farkas

  • "Wir Wiener blicken vertrauensvoll in unsere Vergangenheit!"
    Früheste Zuschreibung an Karl Farkas. Von Markus M. Ronner
    (books.google)



1978 - Unbekannt

  •  "Denn zusehr ist der Österreicher — und da zitiere ich einen großen Landsmann — 'zusehr ist er ein Mensch, der voll hoffnungsfrohem Optimismus in seine glorreiche Vergangenheit blickt' ". (Link)

1983 - Farkas

  • "Oder - wie es etwas später der Kabarettist Karl Farkas ausdrückte: Wir Wiener blicken vertrauensvoll - in unsere Vergangenheit!"

    Georg Markus: "Karl Farkas", Amalthea, Wien München: 1983, S. 43 archive.org; (books.google)

1991 - Kraus
  • "zur nostalgischen 'Flucht aus der Gegenwart', einem Denken, das bloß 'vertrauensvoll in die Vergangenheit schaut' (Karl Kraus), als Legitimation und damit Stabilisierung von Herrschaft verwendet zu werden.  (Link)


2000 - Polgar

  • "Denn schon der Polgar hat gesagt: Die Österreicher sind ein Volk, das mit Zuversicht in die Vergangenheit blickt". (Link)
2012 - Farkas
  • "Der Österreicher als 'ein Mensch, der voller Optimismus – in die Vergangenheit blickt'". (Farkas).  (Link)

2018 - Kraus

  • In anderen Worten, er will, wie Karl Kraus sagen würde, »hoffnungsvoll in die Vergangenheit schauen« (das sagte der österreichische Satiriker über seine Landsleute, so am Rande bemerkt)"  (Link)
2018  - Polgar
  • " 'Die Österreicher', so hat es der begnadete Aphoristiker Alfred Polgar einst gesagt, 'sind ein Volk, das mit Zuversicht in die Vergangenheit blickt.'" (SZ)

Postkarte mit Kuckuckszitat?


Artikel in Arbeit.
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 Quellen:

Markus M. Ronner: "Die Treffende Pointe: humoristisch-satirische Geistesblitze des 20. Jahrhunderts nach Stichwörtern alphabetisch geordnet." Ott Verlag, Thun: 1974, S. 319 (books.google)
Georg Markus: "Karl Farkas", Amalthea, Wien München: 1983, S. 43 (archive.org)

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Dank:
Ich danke Wolfgang Gruber für seine Recherchen.

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 Anhang

In der Satire "Kraliktag" zu dem christlichsozialen Philosophen  Richard Kralik kommt in der 'Fackel' von Karl Kraus einmal die Wendung mit "Zuversicht in die Vergangenheit blicken" vor, da auch einer österreichischen Generation um die Jahrhundertwende nachgesagt wurde, sie blickten "vertrauensvoll in die Vergangenheit".

"Kraliks 'Oesterreichische Geschichte' ", Grazer Volksblatt, 2. Dezember 1913, S. 1 (Link)

Karl Kraus, Kralikstag, 1922


  • " Wenn wir trotzdem mit jener Zuversicht, die nach ihm ihren Namen führt, in die Vergangenheit blicken können, so tun wir dies im Vertrauen auf eine Jugend, die, wenn sie dereinst ausziehen sollte, um dem Kaiser zu geben, was des Kaisers ist und was ihm die Republik genommen hat, entschlossen ist, nicht heimzukehren, ohne vorher im Zeichen Kraliks gesiegt zu haben, und die schon heute so weit hält, daß ihr ein Kralikstag über einen Benkeabend geht. "
    Karl Kraus: Die Fackel Nr. 601-607, 1922, S. 123 (https://fackel.oeaw.ac.at/F/601,123)

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Letzte Änderung: 8/1 2021

Dienstag, 28. April 2020

"Das Niveau ist hoch, aber leider ist niemand drauf." Karl Kraus (angeblich)

In dem polemischen Essay "Nestroy und die Nachwelt" charakterisiert Karl Kraus Nestroys Wiener Nachwelt zwei Jahre vor dem Ersten Weltkrieg mit den Worten:
  • "Wo überall das allgemeine Niveau gehoben wird und niemand draufsteht. " (Link)

Dieses Witzwort von Karl Kraus zur Kultur seiner Zeitgenossen wird meistens etwas verändert und auf einen anderen Kontext übertragen zitiert, öfters angeblich auch von Theodor W. Adorno in Seminaren:


  • Wenn es im Seminar von Adorno um Fragen der Kritik der politischen Ökonomie ging, soll der Philosoph – Alfred Schmidt zufolge – öfter gesagt haben: „Das Niveau ist hoch, aber keiner drauf, Herr Mohl, übernehmen Sie bitte!“ Der spätere Hannoveraner Professor Ernst-Theodor Mohl war und blieb der gediegenste Marx-Kenner am Frankfurter Institut für Sozialforschung.

  • Für Adorno freilich gilt der Satz von Karl Kraus: "Das Niveau ist hoch, aber leider ist niemand drauf." 

  • Mit dem Gewerkschaftlichen Grundsatzprogramm von 1963 und den Gewerkschaften verhält es sich so ähnlich wie mit dem Schönberg-Konzert, von dem Karl Kraus schon 1912 schrieb: Das Niveau war hoch, aber es war keiner drauf.'

  • Dann denkt er schnell an Adorno. Der hat mal gesagt: 'Das Niveau ist hoch, aber keiner ist drauf.

  • Adorno soll intellektuell abhebenden Seminarteilnehmern jeweils geantwortet haben: 'Das Niveau ist hoch und keiner drauf.'
  • "'Das Niveau ist hoch, aber keiner ist drauf', zitierte seinerzeit Carl Hegemann einen alten Spontispruch."  (Link)


Twitter, 2020

 

 

 

 Karl Kraus, 1912:


  • Nestroy "ahnt noch nicht, daß eine Zeit kommen wird", ... wo 
  • "das Talent dem Charakter Schmutzkonkurrenz macht und die Bildung die gute Erziehung vergißt. Wo überall das allgemeine Niveau gehoben wird und niemand draufsteht. Wo alle Individualität haben, und alle dieselbe, und die Hysterie der Klebstoff ist, der die Gesellschaftsordnung zusammenhält."

    Karl Kraus: Nestroy und die Nachwelt, "Die Fackel" Nr. 349/350, 13. Mai 1912, 21 fackel.oeaw.ac.at/F/349,021

Artikel in Arbeit.

Dienstag, 12. November 2019

"Hätten die Salzburger von heute Salzburg erbaut, so wäre bestenfalls Linz daraus geworden." Karl Kraus (angeblich)

In den Schriften von Karl Kraus kommt dieses Witzchen nicht vor.

Erstmals Karl Kraus unterschoben wurde dieses Zitat anscheinend von dem Autor, Filmemacher und Anekdotenerzähler Gregor von Rezzori im Jahr 1978.


Gregor von Rezzori, 1978:

  • "Karl Kraus hatte zum Beispiel Anlaß zu sagen: »Hätten die Salzburger von heute Salzburg erbaut, so wäre bestenfalls Linz daraus geworden«. "

    Gregor von Rezzori: "In gehobenen Kreisen", 1978, S. 195 books.google.

 Seitdem wird dieses Pseudo-Karl-Kraus-Zitat von Journalisten, Politikern und Salzburgfestrednern gelegentlich zitiert.

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Quellen:
Google

Beispiele für falsche Zuschreibungen:
1978:
 Gregor von Rezzori: "In gehobenen Kreisen" Herbig Verlag, München / Berlin: 1978, S. 195 (Link)
 (früheste falsche Zuschreibung)
1986:
Die ZEIT 1986/36  zeit.de
2012:
"Wenn man trotzdem lacht: Geschichte und Geschichten des österreichischen Humors" von Georg Markus. Amalthea Signum Verlag, Wien: 2012 ebook (ohne Seitenzahlen) (Link)

Dienstag, 17. September 2019

"Die Gedankenfreiheit haben wir. Jetzt brauchen wir nur noch die Gedanken." Pseudo-Karl-Kraus-Zitat

Pseudo-Karl-Kraus-Zitat.
 Dieses Zitat wird Karl Kraus (1874-1936) erst über 60 Jahre nach seinem Tod erstmals zugeschrieben und ist in seinen digitalisierten Schriften und in seriösen Nachschlagwerken weder so noch so ähnlich zu finden.

Eine Version des Witzes stand schon in einer Wiener Zeitschrift aus dem Jahr 1848, wie Gregor Brand herausgefunden hat:

1848

  • "Es herrscht unbeschränkte Gedankenfreiheit, nur, daß die Gedanken fehlen und daher auch die Freiheit nicht zu gebrauchen ist."

    Anonym: "Briefe aus der Marmarosch" in: Wiener Zeitschrift für Recht, Wahrheit etc., 17. April 1848, S. 316 (Link)


Da das angebliche Karl-Kraus-Zitat immer ohne Quellenangabe zitiert wird und erst um 1999 aufgekommen ist, ist es völlig  unwahrscheinlich, dass es jemals in einem Text von Karl Kraus gefunden werden wird.

Inzwischen wurde das Kuckuckszitat - immer ohne Belege - auch in Zitate-Sammlungen aufgenommen (Link) und ist auch auf Twitter beliebt. - 


Pseudo-Karl-Kraus-Zitat


Wer den witzigen Satz erstmals Karl Kraus untergeschoben hat, kann ich noch nicht sagen.
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Quellen:

Google
Twitter

Anonym: "Briefe aus der Marmarosch" in: Wiener Zeitschrift für Recht, Wahrheit, Fortschritt, Kunst, Literatur, Theater, Mode und geselliges Leben. 33. Jg. Nr 79, 17. April 1848, S. 316 (Link)

Karl Kraus: "Die Fackel", 37 Jahrgänge, Nr. 1-917, 1899-1936, digitale Edition: Österreichische Akademie der Wissenschaften, AAC (DIE FACKEL)
 

Beispiele für falsche Zuschreibungen an Karl Kraus:

1999:
DIE WELT / Forum, 15. April 1999 (www.genios.de/ Bezahlschranke)
 2006:
 Publik-Forum, 02/06, Schlußstein, Ausgaben 1-8, S. 73 (Link) (Früheste falsche Zuschreibung bei Google books).
2007:
Jüdischer Kalender, Ölbaum (Link)
2010: 
Hans Werner Wüst: "Zitate u. Sprichwörter", Bassermann, München: 2010 ebook  (Link)

2012:
Georg Markus: "Wenn man trotzdem lacht: Geschichte und Geschichten des österreichischen Humors" Amalthea Signum Verlag, Wien: 2012 ebook  (Link)
2018:
Reiner Grell: "Geben Sie Gedankenfreiheit", 20. März 2018 
  (achgut.com)
2023: 
Jan Fleischhauer: "Was ist nur mit meinem Freund Roger Köppel geschehen?" Die Weltwoche, 16. Mai 2023 (weltwoche.ch/)

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Dank:
Ich danke Wolfgang Gruber für die Frage nach diesem Kuckuckszitat und Gregor Brand für den Fund von 1848.

 

Letzte Änderungen: 12/6 2021 Ergänzt: 1999-Fund; 23/8 2023 1848-Fund.

Montag, 16. September 2019

"In Österreich ist öfters schon alles drunter und drüber und schließlich doch ins Burgtheater gegangen." Karl Kraus (angeblich)

Dieses Pseudo-Karl-Kraus-Zitat ist noch kaum 20 Jahre alt und in den digitalisierten Texten von Karl Kraus unauffindbar.

Das Zitat wird anscheinend das erste Mal im Jahr 1997 ohne Quellenangabe in einem humoristischen  "Österreich-Lexikon" des Reclam Verlags Karl Kraus unterschoben, und später von Burgtheaterdirektor*innen öfters zitiert.

Das Falschzitat ist nicht sehr weit verbreitet, hat es aber immerhin in ein paar Tageszeitungen geschafft (Link) (Link) .

Wenn auch Kolleginnen und Kollegen von der Karl-Kraus-Forschung bestätigt haben werden, dass ihnen dieses Zitat noch nie untergekommen ist, kann man sicher sein, dass es ein Kuckuckszitat ist.
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Quellen:

Beispiele für falsche Zuschreibungen:

Gerd Holzheimer: "Wenn alle Strick' reissen, häng ich mich auf. Ein Österreich-Lexikon," Reclam Verlag, Leipzig: 1997, S. 32. (Link)

Beil (Link);  Burgtheater  (Link); Der Standard (Link); Die Presse (Link)

Artikel in Arbeit.
 _________
Dank:
Ich danke Ralf Bülow und R. Boglowski für ihre Recherchen. 

 

 

 

ANHANG für Misha L.

 

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HOW TO READ A BOOK

 

 

 

This talk was delivered at the opening of the first book fair in Turin, Italy, on May 18.

THE idea of a book fair in the city where, a century ago, Friedrich Nietzsche lost his mind has, in its own turn, a nice ring of madness - a Mobius ring to be precise (commonly known as a vicious circle), for several stalls in this book fair are occupied by the complete or selected works of this great German. On the whole, infinity is a fairly palpable aspect of this business of publishing, if only because it extends a dead author's existence beyond the limits he envisioned, or provides a living author with a future he cannot measure. In other words, this business deals with the future which we all prefer to regard as unending.

On the whole, books are indeed less finite than ourselves. Even the worst among them outlast their authors - mainly because they occupy a smaller amount of physical space than those who penned them. Often they sit on the shelves absorbing dust long after the writer himself has turned into a handful of dust. Yet even this form of the future is better than the memory of a few surviving relatives or friends on which one cannot rely, and often it is precisely the appetite for this posthumous dimension which sets one's pen in motion.

So as we toss and turn these rectangular objects in our hands - those in octavo, in quarto, in duodecimo, etc., etc. - we won't be terribly amiss if we surmise that we fondle in our hands, as it were, the actual or potential urns with someone's rustling ashes. In a manner of speaking, libraries (private or public) and book stores are cemeteries; so are book fairs. After all, what goes into writing a book - be that a novel, a philosophical treatise, a collection of poems, a biography or a thriller - is, ultimately, a man's only life: good or bad, but always finite. Whoever it was who said that to philosophize is an exercise in dying was right in more ways than one, for by writing a book nobody gets younger.

Nor does one become any younger by reading it. Since that is so, our natural preference should be for good books. The paradox, however, lies in the fact that in literature, as nearly everywhere, ''good'' is not an autonomous category: it is defined by its distinction from ''bad.'' What's more, in order to write a good book, a writer must read a great deal of trash - otherwise, he won't be able to develop the necessary criteria. That's what may constitute bad literature's best defense at the Last Judgment; that's also the raison d'etre of these proceedings.

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YET since we are all moribund and since reading books is time-consuming, we must devise a system that allows us a semblance of economy. Of course there is no denying the possible pleasure of holing up with a fat, slow-moving, mediocre novel; still, we all know that we can indulge ourselves in that fashion only so much. In the end, we read not for reading's sake, but to learn. Hence the need for concision, condensation, fusion - for the works that bring the human predicament, in all its diversity, into its sharpest possible focus; in other words, the need for a short cut. Hence, too - as a byproduct of our suspicion that such short cuts exist (and they do exist, but about that later) -the need for some compass in the ocean of available literature.

 

The role of that compass, of course, is eagerly played by literary criticism, by reviewers. Alas, its needle oscillates wildly. What is North for some is the South (South America, to be precise) for others; the same goes in an even wilder degree for East and West. The trouble with a reviewer is (minimum) threefold: (A) he can be a hack, and as ignorant as ourselves, (B) he can have strong predilections for a certain kind of writing, or simply be on the take with the publishing industry, and (C) if he is a writer of talent, he will turn his review-writing into an independent art form - Jorge Luis Borges is a case in point - and you may end up by reading reviews rather than the books themselves.

In any case, you find yourselves adrift in the ocean, with pages and pages rustling in every direction, clinging to a raft of whose ability to stay afloat you are not so sure. The alternative therefore would be to develop your own taste, to build your own compass, to familiarize yourself, as it were, with particular stars and constellations - dim or bright but always remote. This, however, takes a hell of a lot of time, and you may easily find yourself old and gray, heading for the exit with a lousy volume under your arm. Another alternative - or perhaps just a part of the same - is to rely on hearsay; a friend's advice, a reference caught in a text that you happen to like. Although not institutionalized in any fashion (which wouldn't be such a bad idea), this kind of procedure is familiar to all of us from a tender age. Yet this too proves to be poor insurance, for the ocean of available literature swells and widens constantly.

So where is terra firma, even though it may be but an uninhabitable island? Where is our good man Friday, let alone a Cheetah?

Before I come up with my suggestion - nay! with what I perceive as the only solution for developing sound taste in literature, I'd like to say a few words about this solution's source, i.e., about my humble self. I'd like to do it not because of my personal vanity, but because I believe that the value of an idea is related to the context from which it emerges. Indeed, had I been a publisher, I'd be putting on my books' covers not only their authors' names but also the exact age at which they composed this or that work, in order to enable their readers to decide whether they care to reckon with the information or the views contained in a book written by a man so much younger - or, for that matter, so much older - than they are themselves.

THE source of the suggestion to come belongs to the category of people (alas, I can no longer use the term ''generation,'' which implies a certain sense of mass and unity) for whom literature has always been a matter of some hundred names; to the people whose social graces would make Robinson Crusoe or even Tarzan wince: to those who feel awkward at large gatherings, do not dance at parties, tend to find metaphysical excuses for adultery and are finicky about discussing politics. Such people normally dislike themselves far more than their detractors dislike them. Such people still prefer alcohol and tobacco to heroin or marijuana - such people are those whom, in W. H. Auden's words, ''one will not find on the barricades and who never shoot themselves or their lovers.'' If such people however occasionally find themselves swimming in their blood on the floor of prison cells or speaking from a platform, it is because they rebel against (or, more precisely, object to) - not some particular injustice - but the order of the world as a whole. They have no illusions about the objectivity of the views they put forth; on the contrary, they insist on their unpardonable subjectivity right from the threshold.

They act in this fashion, however, not for the purpose of shielding themselves from possible attack: as a rule, they are fully aware of the vulnerability pertinent to their views and the positions they defend. Yet - taking the stance somewhat opposite to Darwinian - they consider vulnerability the primary trait of living matter; they are interested in the survival of the defeatist. This, I must add, has less to do with masochistic tendencies, nowadays attributed to almost every man of letters, than with their instinctive, often firsthand knowledge that extreme subjectivity, prejudice and indeed idiosyncrasy are what helps art to avoid cliche. And the resistance to cliche is what distinguishes art from life.

Now that you know the background of what I am about to say, I may just as well say it. The way to develop good taste in literature is to read poetry. If you think that I am speaking out of professional partisanship, that I am trying to advance my own guild interests, you are badly mistaken. For, being the supreme form of human locution, poetry is not only the most concise, the most condensed way of conveying the human experience; it also offers the highest possible standards for any linguistic operation - especially one on paper.

The more one reads poetry, the less tolerant one becomes of any sort of verbosity, be that in political or philosophical discourse, be that in history, social studies or the art of fiction. Good style in prose is always hostage to the precision, speed and laconic intensity of poetic diction. A child of epitaph and epigram, conceived indeed as a short cut to any conceivable subject matter, poetry to prose is a great disciplinarian. It teaches the latter not only the value of each word but also the mercurial mental patterns of the species, alternatives to linear composition, the knack of omitting the self-evident, emphasis on detail, the technique of anticlimax. Above all, poetry develops in prose that appetite for metaphysics that distinguishes a work of art from mere belles-lettres. It must be admitted, however, that in this particular regard, prose has proven to be a rather lazy pupil.

Please, don't get me wrong: I am not trying to debunk prose. The truth of the matter is that poetry simply happens to be older than prose and thus has covered a greater distance. Literature started with poetry, with the song of a nomad that predates the scribblings of a settler. And although I have compared somewhere the difference between poetry and prose to that between the air force and the infantry, the suggestion that I make now has nothing to do with either hierarchy or the anthropological origins of literature. All I am trying to do is to be practical and spare your eyesight and brain cells a lot of useless printed matter. Poetry, one might say, has been invented for just this purpose - for it is synonymous with economy. What one should do, therefore, is repeat, albeit in miniature, the process that took place in our civilization in the course of two millennia. It is easier than you might think, for the body of poetry is far less voluminous than that of prose. What's more, if you are concerned mainly with contemporary literature, then your job is indeed a piece of cake. All you have to do is to arm yourselves for a couple of months with the works of poets in your mother tongue, preferably from the first half of this century. I suppose you'll end up with a dozen rather slim books, and by the end of the summer you -that is, your literary taste - will be in great shape.

IF your mother tongue is English, I may recommend to you Robert Frost, Thomas Hardy, W. B. Yeats, T. S. Eliot, W. H. Auden, Marianne Moore and Elizabeth Bishop. If the language is German, Rainer Maria Rilke, Georg Trakl, Peter Huchel, Ingeborg Bachmann and Gottfried Benn. If it is Spanish, Antonio Machado, Federico Garcia Lorca, Luis Cernuda, Rafael Alberti, Juan Ramon Jimenez and Octavio Paz will do. If the language is Polish - or if you know Polish (which would be to your great advantage, because the most extraordinary poetry of this century is written in that language) - I'd like to mention to you the names of Leopold Staff, Czeslaw Milosz, Zbigniew Herbert and Wieslawa Szymborska. If it is French, then of course Apollinaire, Jules Supervielle, Pierre Reverdy, Blaise Cendrars, Max Jacob, Francis Jammes, Andre Frenaud some of Eluard, a bit of Aragon, Victor Segalen, and Henri Michaux. If it is Greek, then you should read Constantine Cavafy, George Seferis, Yannis Ritsos. If it is Dutch, then your must is Martinus Nijhoff, particularly his stunning ''Awater.'' If it is Portuguese, you should try Fernando Pessoa and perhaps Carlos Drummond de Andrade. If the language is Swedish, read Gunnar Ekelof, Harry Martinson, Werner Aspenstrom, Tomas Transtromer. If it is Russian, it should be, to say the least, Marina Tsvetaeva, Osip Mandelstam, Anna Akhmatova, Boris Pasternak, Vladislav Khodasevich, Viktor Khlebnikov, Nikolai Kluyev, Nikolai Zabolotsky. If it is Italian, I don't presume to submit any name to this audience, and if I still mention Quasimodo, Saba, Ungaretti and Montale, it is simply because I have long wanted to acknowledge my personal, private gratitude and debt to these four great poets whose lines influenced my own life rather crucially, and I am glad to do so while standing on Italian soil.

If after going through the works of any of these, you would drop a book of prose picked from the shelf, it won't be your fault. If you'd continue to read it, that will be to the author's credit; that will mean that this author has indeed something to add to the truth about our existence as it was known to these few poets just mentioned; that would prove at least that this author is not redundant, that his language has an independent energy or grace. Or else, that would mean that reading is your incurable addiction. As addictions go, this is not the worst one.

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Let me draw a caricature here, for caricatures accentuate the essential. In this caricature I see a reader whose both hands are occupied with holding open books. In the left, he holds a collection of poems, in the right, a volume of prose. Let's see which he drops first. Of course, he may fill both his palms with prose volumes, but that will leave him with self-negating criteria. And of course he may also ask what distinguishes good poetry from bad, and where is his guarantee that what he holds in his left hand is indeed worth bothering with?

WELL, for one thing what he holds in his left hand will be, in all likelihood, lighter than what he holds in the right. Secondly, poetry, as Montale once put it, is an incurably semantic art, and the chances for charlatanism in it are extremely low. By the third line a reader will know what sort of thing he holds in his left hand, for poetry makes sense fast and the quality of language in it makes itself felt immediately. After three lines he may take a glance at what he has in the right.

This is, as I told you, a caricature. At the same time, I believe, this might be the posture many of you will unwittingly assume at this book fair. Make sure, at least, that the books in your hands belong to different genres of literature. Now, this shifting eyes from left to right is of course a maddening enterprise; still, there are no horses on the streets of Torino any longer, and the sight of a cabby flogging his animal won't aggravate the state you will be in leaving these premises. Besides, a hundred years hence, nobody's insanity will matter much to the multitudes whose number will exceed by far the total of little black letters in all the books at this book fair put together. So you may as well try the little trick I've just suggested. Like the proverbial proletariat, you stand to lose nothing; what you may gain are new associative chains.

Joseph Brodsky was awarded the 1987 Nobel Prize in Literature.