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Donnerstag, 27. August 2020

"Wenn die Tatsachen nicht mit der Theorie übereinstimmen – umso schlimmer für die Tatsachen." Georg Wilhelm Friedrich Hegel (angeblich)

Pseudo-Hegel-Zitat.

Dieses weit verbreitete Hegel-Zitat hat noch niemand in einer Schrift Hegels oder in Erinnerungstexten seiner Schüler gefunden. Es ist eines der erfolgreichsten Kuckuckszitate der Philosophiegeschichte und wurde manchmal fäschlich auch Fichte oder Schelling zugeschrieben.

Gegner der Naturphilosphie Hegels haben dem Philosophen Hegel diesen Ausspruch Jahrzehnte nach seinem Tod so oft unterschoben, dass später auch Kenner der Schriften Hegels wie Martin Heidegger das Kuckuckszitat als "Hegels Satz" bezeichneten und interpretierten.  Auch der Tübinger Philosoph Ernst Bloch verteidigte das Pseudo-Zitat gegen Kritiker Hegels.

Entstanden ist die Wendung "umso schlimmer für die Tatsachen" Anfang des  19. Jahrhunderts in Frankreich ("Tant pis pour les faits") und wurde auch auf Deutsch ab 1828 einem unbekannten Franzosen in diversen Zeitschriften zugeschrieben.

 1817
1817 (Link)
 1828
  • "Verlangen wir Beweise von ihnen, so geben sie uns Mutmaßungen –  fordern wir Zeugnisse, so bringen sie einen Schwarm von Hypothesen auf das Tapet. Sie erinnern uns an die Äußerung eines ihrer Landsleute, der ein schönes Gebäude von Raisonements aufgeführt hatte; man bewies ihm, daß er sich in den Tatsachen ganz und gar geirrt habe. Jeder andere würde sich statt seiner geschämt haben; er erwiderte nur: Desto schlimmer für die Tatsachen!"

    Courier, 23. August 1828, in: Oesterreichischer Beobachter, 6. September 1828, S. 1 (Link)

 

Auch der schottische Journalist und Autor Charles Mackay schreibt im Jahr 1841 das Zitat noch einem unbekannten Franzosen zu, allerdings keinem Historiker, sondern einem unbekannten französischen Philosophen.

 

1841

  • "Like the french philosopher, who could not allow facts to interfere with his theory." /
    "An enthusiastic philosopher, of whose name we are not informed, had constructed a very satisfactory theory on some subject or other, and was not a little proud of it. 'But the facts, my dear fellow,” said his friend, “the facts do not agree with your theory.' — 'Don't they?' replied the philosopher, shrugging his shoulders, 'then, tant pis pour les faits;' — so much the worse for the facts!"

    Charles Mackay: Memoirs of Extraordinary Popular Delusions, Vol. 3, Bentley, London: 1841,  S. 313 (Books.google)

 

In England taucht der Witz auch einmal in einem Brief von Erasmus Darwin  an seinen Bruder Charles Darwin auf. Deswegen gilt im englischen Sprachraum manchmal Erasmus Darwin als Urheber des Ausspruchs.

 1859

  • Thatsächlich ist für mich der a priori geführte Beweis so vollständig befriedigend, daß, wenn die Thatsachen nicht hineinpassen wollen, meine Empfindung die ist: um so schlimmer für die Thatsachen(Link); (Link)
  • "In fact the a priori reasoning is so entirely satisfactory to me that if the facts won't fit in, why so much the worse for the facts is my feeling."

    Erasmus Darwin an Charles Darwin, 23. November 1859,
    Oxford dictionary, (Link)

Im Vorwort der französischen Erstausgabe von Charles Darwins " Über die Entstehung der Arten" wird der Satz "Tant pis pour les faits" anscheinend das erste Mal (ohne Quellenangabe) Hegel zugeschrieben (Link).

In den 1870er Jahren wurde der Witz "desto schlimmer für die Tatsachen" als sarkastischer Kommentar in  Zeitschriften und Zeitungen oft wie eine anonyme sprichwörtliche Redewendung verwendet, ohne Bezug auf den unbekannten Franzosen oder auf Hegel.

Auf Englisch scheint der amerikanische Philosoph John Fiske 1875 damit begonnen zu haben, die Wendung "so much the worse for the facts" für einen  typischen Ausdruck der hegelianischen Philosophie zu halten (archive.org).

Im Jahr 1879 hat der Neukantianer Alois Riehl den Witz erstmals einem unbekannten "Anhänger" Hegels zugeschrieben, einen Witz, den Riehls Vermutung nach auch Hegel als Argument verwendet haben könnte (Konjunktiv).

  • "Widerstreiten die Thatsachen noch so bestimmt seinen [Hegels] Begriffen von dem, was sie sein sollten (um nämlich in sein System zu passen); so wird er uns (wie es in einem solchen Falle von einem Anhänger dieser Art [Hegels] Naturphilosophie wirklich geschah) entgegnen: um so schlimmer für die Thatsachen!"

    Alois Riehl: "Der Philosophische Kriticismus: Und Seine Bedeutung für die Positive Wissenschaft", Zweiter Band, Zweiter Theil, Verlag von Wilhelm Engelmann, Leipzig: 1879, S. 127 (Link)

Aus Riehls Konjunktiv wurde bald ein Indikativ und seit den 1880er Jahren wurde auch im deutschen Sprachraum behauptet, die witzige Bemerkung eines unbekannnten Franzosen stamme von dem 1831 verstorbenen Berliner Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel.

 

1888

  • "Passen die Thatsachen nicht in unsere Philosophie, dann sagt man heute nicht mehr mit Hegel: 'Um so schlimmer für die Thatsachen', nein, man sagt: 'Um so schlimmer für die Philosopie'".

    Wilhelm Jerusalem: "Sophie Germain", in: 'Neue Freie Presse',
    Nr. 8619, 22. August 1888, Morgenblatt, S. 2 (Link)

 
Als Fritz Mauthner den angeblichen Satz Hegels 1910 in sein 'Wörterbuch der Philosophie' aufnahm, bekannte er, nicht zu wissen, ob der vielzitierte Scherz "mehr als ein Scherz" sei.

  • "Ich weiß nicht gleich, ob der Scherz mehr als ein Scherz ist, der oft erzählt wird. Jemand habe behauptet, die Natur stimme nicht ganz mit Hegels Naturphilosophie zusammen; Hegel habe geantwortet: »Desto schlimmer für die Natur.«" (Link)

In seiner Polemik gegen Hegel zitierte Karl Popper diesen Eintrag in Fritz Mauthners "Wörterbuch der Philosophie" als Beleg, und gestand in einer Fußnote, dieses Zitat "in Hegel" nicht gefunden zu haben.


Während ein Teil der Zitierenden bei dem Pseudo-Hegel-Zitat immer die unsichere Quellenlage ("soll gesagt haben") angaben, waren andere weniger redlich und verbreiteten  dazu oft noch unterhaltsame Anekdoten.


In der ältesten dieser Anekdoten habe Hegel auf den Vorwurf, er habe in seiner Dissertation fälschlich behauptet, es könne nur sieben Planeten geben, gekontert: "Desto schlimmer für die Tatsachen" (1902), "Desto schlimmer für die Wirklichkeit", oder: "Desto schlimmer für die Planeten".

In einer anderen Legende sei Hegel darauf aufmerksam gemacht worden, dass es in Südamerika Pflanzen gäbe, die nicht seinem Begriff von Pflanze entsprächen. Darauf antwortete Hegel, angeblich: "Umso schlimmer für die Natur!"

In einer jüngeren Legende wird behauptet, Hegel habe auf den Hinweis, es gäbe am Amazonas auch Papageien, die seinem Begriff von Papagei widersprächen, erwidert: "Um so schlimmer für die Papageien", "Umso schlimmer für die Wirklichkeit",  oder: "Um so schlimmer für die Natur."

.
Rudolf Steiner hat 1917 eine Anekdote erfunden, wonach Schelling und Hegel gemeinsam mit diesem  zynischen Witz das Christentum verteidigt hätten:


Rudolf Steiner, Berlin, 1917:

 

  • "Schelling, Hegel haben manchmal sich verleiten lassen - wenn sie auch wiederum, besonders von katholischer Seite, nicht als die richtigen  Christen angesehen werden  -, sie haben sich  verleiten lassen, etwas echt  Christliches zu sagen. Aber gerade das können sie auf die schärfste Weise getadelt finden. Man hat ihnen eingewendet: Ja, aber das ist nicht so in der Natur, wie ihr das sagt!  -  Und da ließen sich Schelling und Hegel einmal verleiten zu sagen: Um so schlimmer für die Natur!  - "
  • "Das  ist  zwar  nicht  naturwissenschaftlich  im  heutigen  Sinne gesprochen, aber christlich ist es gesprochen ..."

    Rudolf  Steiner: "Bausteine zu einer Erkenntnis des Mysteriums von Golgatha" (1917) 1996, S. 248  (pdf)


Auch Physiker wie Max Planck haben das Pseudo-Hegel-Zitat - mehr oder weniger anekdotisch ausgeschmückt -  gerne zitiert.


Max Planck


  • "Max Planck erzählte immer wieder die Geschichte von dem Naturforscher, der zu Hegel sagte, seine Philosophie der Natur widerspreche den Tatsachen, worauf Hegel geantwortet habe: um so schlimmer für die Tatsachen." (Link)

 

Da alle diese Anekdoten ohne Quellenangaben mehr als 50 Jahre nach Hegels Tod entstanden und erst im 20. Jahrhundert ausgeschmückt wurden, kann sie ein Historiker höchstens als Phantasieprodukte ernst nehmen.


Artikel in Arbeit.


__________
Quellen: 
Google  Charles Mackay: "Memoirs of Extraordinary Popular Delusions", Vol. 3, Bentley, London: 1841,  S. 313 (Books.google)
Fritz Mauthner: "Beiträge zu einer Kritik der Sprache", Erster Band, Zur Sprache und zur Psychologie, 2. Auflage, Cotta'sche Buchhandlung, Stuttgart und Berlin: 1906, S. 409  (Link)  
Courier, 23. August 1828, in: Oesterreichischer Beobachter, 6. September 1828, S. 1 (Link)Erasmus Darwin an Charles Darwin, 23. November 1859, Oxford dictionary, (Link)
Alois Riehl: "Der Philosophische Kriticismus: Und Seine Bedeutung für die Positive Wissenschaft", Zweiter Band, Zweiter Theil, Verlag von Wilhelm Engelmann, Leipzig: 1879, S. 127 (Link) 
Rudolf   Steiner: "Bausteine zu einer Erkenntnis des Mysteriums von Golgatha. Kosmische und menschliche Metamorphose. Siebzehn Vorträge, gehalten in Berlin vom 6. Februar bis 8. Mai 1917, Buch 175, Rudolf Steiner Verlag, Dornach: 1996, S. 248  (pdf)   

Wilhelm Jerusalem: "Sophie Germain", in: 'Neue Freie Presse', Nr. 8619, 22. August 1888, Morgenblatt, S. 2 (Link)

Martin Heidegger: "Vom Wesen der Wahrheit. Zu Platons Höhlengleichnis und Theätet", Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main, 1988, S. 285

 1872 ohne Hegel (Link); 1873 (Link);  1878 ohne Hegel (Link); 1874 (Link),
 

Ausführliche Bibliographie folgt.

_____
Dank: 
Ich danke Kai Lorenz für seinen Hinweis und seine Materialien zu dem Falschzitat und auch Moritz Jacob für seine Recherchen.





Freitag, 20. Dezember 2019

"Napoleon, der Weltgeist zu Pferde." Georg Wilhelm Friedrich Hegel (angeblich)

Der Philosoph Hegel hat nie gesagt, Napoleon sei der "Weltgeist zu Pferde"; er bezeichnete Napoleon in einem Brief einmal als "diese Weltseele".

Auch die  Formel "Weltseele zu Pferd" stammt in diesem Wortlaut nicht von Hegel.

 Bilder von Napoleon in Heldenpose zu Pferd waren um diese Zeit in Europa schon verbreitet (Link).

Jacques-Louis David: Bonaparte beim Überschreiten der Alpen am Großen Sankt Bernhard, 1802, wikipedia (Link)


Hegel sah Napoleon  am 13. Oktober 1806, einen Tag vor der Schlacht bei Jena, in Jena durch die Stadt reiten und schrieb noch am selben Tag an seinen Bamberger Freund Niethammer von der "wunderbare(n) Empfindung", den Kaiser, "den es nicht möglich ist, nicht zu bewundern", "diese Weltseele",  "auf einem Pferde sitzend" zu sehen.


Harper's New Monthly Magazine, Vol XCI, June, 1895, No. DXLI,  S. 209 (Link)



Georg Wilhelm Friedrich Hegel an Friedrich Immanuel Niethammer,
Jena, 13. Oktober 1806: 

 

  • "Den Kaiser – diese Weltseele – sah ich durch die Stadt zum Rekognoscieren hinausreiten. – Es ist in der That eine wunderbare Empfindung, ein solches Individuum zu sehen, das hier auf einen Punkt concentrirt, auf einem Pferde sitzend, über die Welt übergreift und sie beherrscht."
  • "Wie ich schon früher that, wünschen nun Alle der Französischen Armee Glück, was ihr bei dem ganz ungeheuern Unterschiede ihrer Anführer und des gemeinen Soldaten von ihren Feinden auch gar nicht fehlen kann."
  •  "Den Preußen war freilich kein besseres Prognosticon zu stellen, aber von Donnerstag bis Montag sind solche Fortschritte nur diesem außerordentlichen Manne möglich, den es nicht möglich ist, nicht zu bewundern." (Link)



Der Brief Hegels an Niethammer wurde von seinem Biographen Karl Rosenkranz im Jahr 1844 erstmals veröffentlicht und 15 Jahre danach, im Jahr 1859, wurde die Formel "Weltgeist zu Pferde" das erste Mal Hegel in den Mund gelegt.


 1859

  • "Napoleon — am Tage zuvor beim Durchreiten durch Jena vom damals noch nicht berühmten (übrigens wenig deutsch, sondern bis 1813 französisch gesinnten) Hegels als 'Weltgeist zu Pferde" (!) angestaunt'." 
    Jenaische Blätter, Jena: 1859,
    S. 176, (Link) 

 Als Hegel Napoleon sah, hatte er vielleicht einen Teil seines gerade fertiggestellten Manuskripts der "Phänomenologie des Geistes" bei sich, um es vor Plünderern in Sicherheit zu bringen.

 In dieser Phänomenologie des Geistes kommt der Begriff "Weltgeist" vor, aber nicht der platonische Begriff "Weltseele", der um 1800 durch Schelling wiederbelebt wurde.

 Hätte der Philosoph Hegel in Napoleon den personifizierten Weltgeist gesehen, hätte er ihn so bezeichnet.

 
Artikel in Arbeit.


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Quellen:
"Georg Wilhelm Friedrich Hegel's Leben, beschrieben durch Karl Rosenkranz. Supplement zu Hegel's Werken. Verlag von Duncker und Humblot, Berlin: 1844, S. 229f. (Link) [Spätere Briefausgaben differieren in einigen Details von dem Erstdruck.]
Wolfgang Schild: Napoléon und Hegel. In: Europa nach Napoléon, herausgegeben von Christoph Enders, Michael Kahlo, Andreas Mosbacher. mentis Verlag, Paderborn: 2018, S. 57-78 (Link)
Karl Hermann Scheidler: "Geschichte der Jenaer Wehrschaft",  Jenaische Blätter für Geschichte und Reform des deutschen Universitätswesens etc., Drittes Heft, Verlag von Friedrich Mauke, Jena: 1859, S. 176, (Link)
Harper's New Monthly Magazine, Vol XCI, June, 1895, No. DXLI,  S. 209 (Link)





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 Zu Davids Gemälden, 1802: (Link)
Nader Ahriman: Die Hegelmaschine trifft die Weltseele blouinshop.com