Donnerstag, 6. Februar 2020

"Der Verlust der Scham ist das erste Zeichen von Schwachsinn." Sigmund Freud (angeblich)

Pseudo-Sigmund-Freud-Zitat.
Diese Aussage wird Sigmund Freud seit etwa 60 Jahren unterschoben und ist in seinen digitalisierten Schriften weder so noch so ähnlich zu finden. 

Der Psychotherapeut Wolfgang Gruber hat auf Twitter eine Wette angeboten: Wer das angebliche Freud-Zitat in  einem Text Sigmund Freuds nachweisen kann, bekommt von Gruber die siebzehnbändige Ausgabe der Gesammelten Werke Sigmund Freuds (Link) geschenkt.

Die Diagnose, der Verlust des Schamgefühls sei ein Symptom des Idiotismus, war schon zu einer Zeit verbreitet, als der 1856 geborene Sigmund Freud noch kein einziges Wort publiziert hat:


 1877
  • "Hier liegt ein eclatanter Fall von Verlust des Schamgefühls vor, ein Symptom des Idiotismus."

    Musikalisches Wochenblatt, 9. Februar 1877, S. 6 (Link)
1871 war in einem deutsch-nationalistischen Pamphlet zu lesen, der "Verlust des Schamgefühls" wäre typisch für die französische Nation:
  • "Wie endlich der Verlust des Schamgefühls, des Gefühls für Anstand, Zucht und Sitte, für Recht und wahre Ehre so häufig eine Folge von Geistesstörung ist, so haben wir auch dieses Symptom an der französischen Nation zu constatiren."
    (Link)
1910 wird von manchen Psychopathologen der Verlust des Schamgefühls als "sicheres Anzeichen von Schwachsinn oder Entartung" diagnostiziert, aber nicht von Sigmund Freud:

  • "Der beste Schutz vor den Gefahren der Sexualität ist die Schamhaftigkeit, und die Psychopathologie lehrt, daß der Verlust des Schamgefühls ein sicheres Anzeichen von Schwachsinn oder Entartung ist."
    "Die Deutsche Schule", Band 14, S. 796 (Link)

In den 1920er Jahren warnte der profaschistische "Ärzte- und Volksbund für Gesellschaftsethik" vor den Gefahren des Nacktbadens und moderner Theaterinszenierungen mit den Worten: "eines der frühestenen Anzeichen mancher Geisteskrankheiten" ist "der Verlust des Schamgefühls":

1927
  • "Die Gefahren der Nacktkultur.
    ... Ärzte- und Volksbund für Gesellschaftsethik .... In einer Vorstandsitzung des Bundes wurde die Nacktkultur und die Entwicklung unseres Theaterwesens erörtert und darauf hingewiesen, daß eines der frühestenen Anzeichen mancher Geisteskrankheiten der Verlust des Schamgefühls ist."

    Salzburger Volksblatt, 18. August 1927, S. 4 (Link); NWJ (Link)
 
books.google
Zwei Jahrzehnte nach dem Tod Sigmund Freuds wurde ihm anscheinend das erste Mal ein Satz über den "Verlust der Scham" zugeschrieben.

Der Technikhistoriker Ralf Bülow hat herausgefunden (Link), dass die früheste Zuschreibung dieses Zitats an Sigmund Freud aus dem 1959 erschienen Buch "Die Geister scheiden sich" des bekennenden Nationalsozialisten und Kämpfers "gegen die entartete Linke" Kurt Ziesel stammen könnte. 

Heinrich Böll erwähnte das angebliche Sigmund-Freud-Zitat aus Ziesels Buch in seiner Polemik gegen diesen inzwischen wohl zu Recht vergessenen Journalisten und Autor Kurt Ziesel am 16. März 1962 in der ZEIT (Link).

Seit damals ist das Kuckuckszitat in verschiedenen Varianten sehr weit verbreitet.
  

Varianten des Pseudo-Sigmund-Freud-Zitats:

  • "Der Verlust des Schamgefühls ist das erste Zeichen von Schwachsinn."
  • "Die Abwesenheit von Schamgefühl ist ein sicheres Kennzeichen von Schwachsinn." 
  • "Der Verlust der Scham ist der Beginn der Idiotie."
  • "Der Verlust von Scham ist das erste Zeichen des Schwachsinns."
  • "Der Verlust der Scham, ist der Beginn der Verblödung." 
  • "Der Verlust der Scham ist der Beginn der Barbarei".
  • "Der Verlust der Scham ist das sicherste Indiz der Dummheit."
  • "Der Verlust der Scham zählte nach Freud zu den sicheren Merkmalen des Wahnsinns."
  • "The first indication of stupidity is a complete lack of shame."
Pseudo-Sigmund-Freud quote.


1964
  • "'Der Verlust der Scham ist das erste Zeichen von Schwachsinn.' Sie[!]gmund Freud"

    Fritz Kempe: Fetisch des Jahrhunderts: ein Lesebuch für Fotofreunde,Econ Verlag,  Düsseldorf, Wien: 1964, S. 176
    (Link) 

Seit 1983 wird dieses Zitat besonders in rechtsextremen Kreisen oft zusammen mit einem anderen Freud-Kuckuckszitat verbreitet:

  • "Freuds sicher zutreffende Erkenntis, »die Abwesenheit von Schamgefühl ist ein sicheres Kennzeichen von Schwachsinn«, verbannte man aus seiner Lehre, wie auch seine folgende Äußerung nicht mehr beachtet wurde: »Kinder, die sexuell  stimuliert werden, sind nicht mehr erziehungsfähig. Die Zerstörung der Scham bewirkt eine Enthemmung auf allen anderen Gebieten, eine Brutalität und Missachtung der Persönlichkeit der Mitmenschen. zit. in Illies, 1983, S. 169»

    Rudolf Künast: Umweltzerstörung und Ideologie. Die Frankfurter Schule: Fakten - Fehler - Folgen. Grabert Verlag, Tübingen: 1983, S. 150 (Link)

1986
  • "Nach langer psychotherapeutischer Erfahrung sagte Freud, der Verlust von Scham sei das erste Zeichen von Schwachsinn. Scham konstituiert also den geistig gesunden Menschen, auf welchen Stufen sie auch praktiziert wird".
    Bruno Moser (Link)

1993
Spiegel (Link)


2015
(Link)

Artikel in Arbeit.
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Quellen:
Google: "Verlust der Scham"
Google: "Verlust von Scham" 
Heinrich Böll: Der Schriftsteller und Zeitkritiker Kurt Ziesel, DIE ZEIT, 16. März 1962 (Link)
Kurt Ziesel: Die Geister scheiden sich. Dokumente zum Echo auf das Buch 'Das verlorene Gewissen+. J.F. Lehmanns Verlag: 1959 [noch nicht kollationiert]
Sigmund Freud: Zur sexuellen Aufklärung der Kinder (Offener Brief an Dr. M. Fürst) (1907) in: Studienausgabe Band V, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main: 1982, S. 159-168; auch in: Gesammelte Werke, Band VII, Hrsg. von Anna Freud,  Imago Publishing, London: 1941,, S. 20-27
freud-online.de/Texte/PDF/freud_werke_alle_bd.pdf 
Musikalisches Wochenblatt, 9. Februar 1877, S. 6 (Link)
Salzburger Volksblatt, 18. August 1927, S. 4 (Link); NWJ (Link)
Joachim Illies: Der Jahrhundert-Irrtum. Würdigung und Kritik des Darwinismus. Umschau Verlag, Franfurt am Main: 1983, S. 169
Rudolf Künast: Umweltzerstörung und Ideologie. Die Frankfurter Schule: Fakten - Fehler - Folgen. Grabert Verlag, Tübingen: 1983, S. 150 (Link)
Wolfgang Gruber, Twitter (Link)
Ralf Bülow, Twitter (Link)
  
dpa-Faktencheck: "Experten über falsches Freud-Zitat: widerspricht seinen Positionen", 29. November 2019  presseportal.de/pm/133833/4453871 

freud-online.de/Texte/PDF/freud_werke_alle_bd.pdf

Beispiele für das Falschzitat:
Markus M. Ronner: "Die Treffende Pointe: humoristisch-satirische Geistesblitze des 20. Jahrhunderts nach Stichwörtern alphabetisch geordnet." Ott Verlag, Thun: 1974,  S. 251 (Link)
bild.de 21. April 2018
tichyseinblick.de  3. Januar 2020
zitate.eu 27735
gutezitate.com/zitat/262703



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Dank:
Ich danke Wolfgang Gruber für die Aufdeckung und Ralf Bülow für seine Recherchen zum Ursprung dieses Falschzitats.